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Vorkommnis an der Richard-Sorge-Oberschule in Berlin-Johannistal

2. April 1971
Information Nr. 282/71 über ein Vorkommnis an der 19. Oberschule »Dr. Richard-Sorge« in Berlin-Johannisthal am 29. März 1971

Durch das MfS wurde festgestellt, dass an der 19. Oberschule »Dr. Richard Sorge« in Berlin-Johannisthal, insbesondere unter den Schülern der 9. und 10. Klassen, verbreitet Westfernsehen und -rundfunk empfangen und über den Inhalt empfangener Sendungen häufig Diskussionen geführt werden. In diesen Klassen wurden von der Schulleitung und dem Lehrkörper, unterstützt durch die gesellschaftlichen Kräfte wie Elternbeirat und Elternaktive, in differenzierter Form politisch-ideologische Auseinandersetzungen zur Zurückdrängung dieser Einflüsse geführt.

Wie jetzt bekannt wurde, sind Schüler, die gegen den Empfang derartiger Sendungen aufgetreten waren, in der Vergangenheit individuell tätlich bedroht worden, ohne dass darüber offiziell etwas bekannt wurde.

So wurde der Schüler der 10. Klasse, [Name 1, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1954, Mitglied der FDJ, aus diesem Grunde in mehreren Fällen von Mitschülern geschlagen. Der in der körperlichen Entwicklung zurückgebliebene [Name 1] äußerte sich deshalb seit etwa einem Jahr seinen Mitschülern gegenüber nicht mehr zu dieser Frage, sondern teilte seine diesbezüglichen Feststellungen seinem Vater, einem 1970 in Ehren aus der NVA ausgeschiedenen Hauptmann des 37. Grenzregiments und jetzigem Angestellten der Interflug, mit.

Der Vater nahm die von seinem Sohn erhaltenen Informationen zum Anlass, um im Elternaktiv der Klasse und in Elternversammlungen offen gegen den Empfang des Westfernsehens und -rundfunks aufzutreten.

Die dabei angesprochenen Schüler und andere, die sich mit ihnen solidarisierten, verstärkten ihre Provokationen gegenüber [Name 1], versuchten ihn vom Klassenkollektiv zu isolieren und wurden teilweise gegen ihn tätlich.

Am 29.3.1971, während einer Freistunde der Klasse, in der sie mit Hausarbeiten beschäftigt wurde, wurden die Schüler [Name 2, Vorname] geboren am [Tag, Monat, Jahr], [Name 3, Vorname], geboren am [Tag, Monat, Jahr], [Name 4, Vorname], geboren am [Tag, Monat, Jahr] [und] [Name 5, Vorname], geboren am [Tag, Monat, Jahr], in folgender Weise gegen [Name 1] tätlich:

[Name 4] schlug ohne erkennbaren Anlass den [Name 1] mehrmals mit der Hand ins Gesicht, mit der Faust auf den Oberarm und zog ihn an der Nase und an den Ohren.

Daraufhin schlugen die übrigen genannten Schüler ebenfalls mit Fäusten auf [Name 1] ein, wobei sie die FDJ-Sekretärin der Klasse, die dagegen einschritt, mit Tätlichkeiten bedrohten.

Die übrigen Schüler der Klasse, die ebenfalls im Klassenraum anwesend waren, unternahmen nach bisherigen Feststellungen nichts zur Unterbindung der Provokationen der genannten Schüler.

[Name 5] forderte die drei anderen Schüler auf, den [Name 1] mit dem Jackenkragen an den Hakenständer zu hängen. Infolge der Gegenwehr des [Name 1] gelang das nicht. [Name 3] rief daraufhin den drei Mittätern zu: »Jetzt köpfen wir ihn«.

[Name 3] deutete mit einem Lineal einen Schlag in das Genick des [Name 1] an, nachdem dieser auf eine Schulbank gezogen und festgehalten worden war.

[Name 2] legte den [Name 1] danach einen im Klassenraum herumliegenden Plasteriemen um den Hals.

[Name 5] zog den Riemen über den Kehlkopf des [Name 1] kurz zusammen, sodass dieser aufschrie und um sich schlug.

[Name 3] schlug daraufhin mit der Faust auf [Name 1] ein.

Als das Pausenzeichen ertönte, ließen die Täter von [Name 1] ab.

Das vorläufige ärztliche Gutachten bestätigt sichtbare Strangulationsspuren, Luftnot sowie Schmerzen im Hals- und Kehlkopfbereich des [Name 1].

Am 31.3.1971 wurde gegen die vier Täter ein Ermittlungsverfahren gemäß § 215, Abs. 1 StGB (Rowdytum)1 mit Haft eingeleitet.

Zum Motiv ihrer Handlungen gaben die Beschuldigten bisher an, den [Name 1] wegen dessen fortschrittlicher politischer Einstellung nicht leiden zu können. Das sei dadurch verstärkt worden, dass dieser in den letzten Monaten ihnen gegenüber nichts mehr wegen des Empfangs des Westfernsehens und -rundfunks sagte, aber seinem Vater davon Mitteilung machte.

Die vier Täter sind Mitglied der FDJ und leistungsmäßig durchschnittliche Schüler.

Alle empfangen in unterschiedlichem Maße Sendungen des Westfernsehens und -rundfunks.

[Name 4] und [Name 5] sind bereits wegen krimineller Handlungen angefallen.

[Name 5] war von 1967 bis 1969 wegen Diebstahlshandlungen in einem Spezialkinderheim untergebracht.

Wegen Disziplinwidrigkeiten wurde [Name 2] mehrfach mit Tadeln und einem Verweis bestraft.

Der Vater des [Name 3], der als [Beruf] beim Deutschen Fernsehfunk beschäftigt ist, sowie die Mutter des [Name 5] sind Mitglieder der SED.

Die Untersuchungen werden gemeinsam von der VP und vom MfS fortgesetzt, wobei insbesondere geprüft wird, inwieweit bei den Tätern eine staatsfeindliche Zielstellung vorlag und welche Ursachen und begünstigenden Bedingungen für diese Entwicklung und Vorkommnisse vorliegen.

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    2. April 1971
    Information Nr. 288/71 über ein Vorkommnis mit einem sowjetischen Staatsbürger am 2. April 1971

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    31. März 1971
    Information Nr. 274/71 über einen am 28. März 1971 erfolgten schweren Grenzdurchbruch DDR – Westdeutschland mit Todesfolge des Grenzverletzers