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Tagesbericht

11. September 1953
Information Nr. 1065

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

a) Industrie und Verkehr

Über den Ausgang der Bundestagswahlen1 wird nach wie vor breit diskutiert, wobei sich Teile der Arbeiterschaft noch immer von offenen Diskussionen fernhalten. Neue Argumente sind nicht festgestellt worden. Demgegenüber ist aber nach vorliegenden Berichten eine gewisse Konzentration auf bestimmte Argumentationen zu verzeichnen. So tritt die Meinung in fast allen Bezirken, besonders in Suhl und Cottbus, stärker in den Vordergrund, jetzt könne in der gesamtdeutschen Politik nur mit einer schnellen und wesentlichen Erhöhung des Lebensstandards in der DDR etwas erreicht werden. Immer und immer wieder wird die Senkung der HO-Preise für Lebensmittel und wichtige Gebrauchsgüter gefordert. Im Bezirk Suhl, auch in anderen Bezirken, taucht häufig die Meinung auf: »Vom neuen Kurs haben wir Arbeiter noch nichts gespürt.«

Wenn auch nicht in solch starkem Maße, so hat sich aber doch auch die Erkenntnis über die Tragweite der zeitweiligen Stärkung der Reaktion verbreitet. So wird z. B. aus Magdeburg berichtet, dass die Mitarbeiter des technischen Büros im Ernst-Thälmann-Werk, von denen sich sonst ca. 60 % politisch passiv verhalten, befürchten, dass die Wiederwahl Adenauers ernsthaft den Frieden gefährdet. Auch die Depression und Mutlosigkeit hat zugenommen. Sehr häufig werden weiterhin Presse und Rundfunk kritisiert, da sie bis zum letzten Moment eine Niederlage Adenauers prophezeiten.

Cottbus berichtet, die allgemeine Stimmung in den Betrieben sei trotz normalen Verlaufes der Produktion nicht gut. In den Diskussionen kommen immer wieder folgende Argumente zum Ausdruck: Forderung nach Herabsetzung der HO-Preise, Beseitigung der Stromsperren, ungenügende Belieferung mit Hausbrand, teilweiser Mangel an Bedarfsgütern, besonders Fahrrädern, Einweckgläsern und anderen Artikeln, die auf der Leipziger Messe ausgestellt waren.

In Betrieben des Kreises Senftenberg/Cottbus ist die Diskussionsfreudigkeit stark zurückgegangen. Man spricht davon, es sei eine neue Aktion in Vorbereitung, in der Provokateure entlarvt werden sollen. Es kann mit Sicherheit angenommen werden, dass sich hier RIAS-Parolen auswirken.

Im E-Werk Rummelsburg herrscht zzt. eine schlechte Stimmung, hervorgerufen durch die Anordnung, dass Paketabholer2 entlassen werden. Auch in Eisenbahnerkreisen des Bezirkes Frankfurt/Oder wird die Paketaktion3 zum Teil begrüßt, begründet wird das mit niedrigen Löhnen und hohen HO-Preisen.

Die Missstimmung der Arbeiter, die durch die hohen Prämien für leitende Angestellte hervorgerufen wurde, führt bereits soweit, dass die Prämien überhaupt, auch für Bestarbeiter, abgelehnt werden, wie das in mehreren Betrieben des Kreises Luckenwalde/Potsdam zu verzeichnen ist.

Schlechte Stimmung herrscht zzt. auf einigen Schächten des Mansfeld-Kombinats, hervorgerufen durch Sonntagsschichten für Reparaturen, die »abgefeiert« werden sollen (die Arbeiter wollen sie bezahlt haben) und durch den Entzug der bisherigen steuerfreien Bezugsmarken für Trinkbranntwein.

Im Walzwerk Hettstedt bezahlen nur 40 % der Belegschaft FDGB-Beiträge, die anderen »wollen erst mal sehen, was noch kommt«.

Im ABUS Maschinenbau Nordhausen/Erfurt wird sehr positiv über die Leipziger Messe diskutiert. Bezeichnend ist aber die Äußerung eines parteilosen Kollegen aus diesem Betrieb: »Beim Besuch der diesjährigen Messe kam ich mir wie im Märchenland vor. Ich habe mich besonders für die Schuhwarenausstellung interessiert. Schon 1952 habe ich festgestellt, dass wunderbare Schuhe ausgestellt waren, die dann aber 1953 nirgends gekauft werden konnten. Ich bin der Meinung, dass man auf der Messe durch statistische Erhebungen die Wünsche der Messebesucher festhalten sollte, um dann in den Geschäften Schuhe zum Verkauf bringen zu können, die dem Geschmack der Käufer entsprechen.«

b) Handel und Versorgung

In den Bezirken Halle, Dresden, Karl-Marx-Stadt und Potsdam besteht Unzufriedenheit unter der Bevölkerung durch die noch schlechte Belieferung mit Brennstoffen. Im Kreis Neuruppin/Potsdam wird Klage geführt, dass von 40 000 kg beantragtem Dieselkraftstoff sie nur 1 500 kg erhalten haben.

Im Schlachthof Weimar/Erfurt gehen zzt. wenig Fleischlieferungen ein, sodass es bereits bei dem VEB Fleischwerk Weimar zur Produktionseinschränkung kam. Im Schlachthof Parchim/Schwerin bestehen Fleischanhäufungen, da die Reichsbahn nicht die Termine der Kühlwagenbereitstellung einhält.

Aus den Bezirken Halle und Gera wird bekannt, dass Butter (teilweise auch Importware) ranzig ist. Zucker fehlt in den Bezirken Potsdam und Schwerin. Im Bezirk Potsdam können Zitronen und Apfelsinen durch die zu hohen Preise nicht abgesetzt werden.

c) Landwirtschaft

Berichte über Stimmen zum Ergebnis der Wahl liegen nur wenig vor. So äußert z. B. ein Teil der Landbevölkerung, dass sie über das Ergebnis enttäuscht sind und mit dem Sturz Adenauers rechneten. Andere wiederum sehen keine Einigkeit Deutschlands auf friedlicher Grundlage. Negative Elemente bringen ihre Freude dadurch zum Ausdruck, indem sie Freudenfeste feiern.

Eine schleppende Ablieferung des Getreidesolls macht sich vorwiegend bei Großbauern in den Bezirken Cottbus, Potsdam, Leipzig, Schwerin, Neubrandenburg, Suhl (in 7 Kreisen) und Karl-Marx-Stadt (Kreis Annaberg nur 30 %) bemerkbar. Man fordert Herabsetzung des Solls. In Gadebusch/Schwerin haben Bauern 50 % gedroschen, können jedoch nur 21 % abliefern, da die VEAB keine Säcke hat [sic!].

Im Bezirk Halle und Frankfurt/Oder fordert man Erhöhung der Erzeugerpreise. Im Bezirk Halle besteht Mangel an Arbeitskräften bei der Kartoffelernte. In der MTS Dannenwalde/Potsdam sind die Arbeiter stark verärgert, da die Leitung Prämien von insgesamt 4 000 DM erhalten hat und Jungaktivisten (Lkw-Fahrer, welcher zweimal 100 000 km ohne Generalreparatur fuhr) keine Prämien erhielten.

Auf dem Bahnhof Berlin-Schöneweide wurden bei einem Einsatz Obstschiebern insgesamt 9 t Obst abgenommen, man zahlte ihnen den üblichen Preis für das Obst. Dabei äußerten diese Personen, dass sie hier mehr Geld erhielten als zu Hause und dass man morgen wiederkommen will. »Hier bekommt man wenigstens sein Obst los.«

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Stimmen zu den Ergebnissen der Wahl stehen weiterhin an erster Stelle. Die Argumente sind die gleichen wie am Vortage. Es treten jedoch auch positive Kräfte in Erscheinung, so z. B. ein Teil der Lehrer der 15. Grundschule in Berlin-Lichtenberg, welche mit KPD-Genossen und fortschrittlichen Kräften in Westdeutschland in briefliche Verbindung treten wollen, um aufklärend zu wirken. Sie fordern von der Regierung Sofortmaßnahmen, um die Schaffung der Aktionseinheit in Westdeutschland zu beschleunigen.

Verschiedentlich ist auch eine politische Interesselosigkeit festzustellen, so z. B. in Schlagenthin/Magdeburg, wo bei einer Einwohnerversammlung von 1 278 Personen nur 18 erschienen. Negative Diskussionen über Brennstoffversorgung und Stromsperren werden weiterhin geführt, des Weiteren fordert man eine baldige Preissenkung (besonders Bezirk Leipzig, Karl-Marx-Stadt). Im Kreis Eberswalde/Frankfurt/Oder ist die Bevölkerung über das nicht gute Auftreten von Angehörigen der Sowjetarmee verstimmt. Der Bürgermeister von Vipperow/Neubrandenburg äußerte auf die Frage, ob ein ihm bekannter Republikflüchtiger wieder zurückkehren kann: »Lass ihn bloß da wo er ist, denn hier wird er ja doch gleich verhaftet.«

Organisierte Feindtätigkeit

Flugblattfunde werden in weniger starker Anzahl aus Karl-Marx-Stadt, Frankfurt/Oder, Potsdam, Gera und Berlin gemeldet.

Aus zuverlässiger Quelle wurde bekannt, dass der RIAS in den nächsten Tagen eine größere Aktion zur Anwerbung von Agenten im Gebiet der DDR und des demokratischen Sektors von Berlin plant. Es werden Briefe verschickt, in denen die Empfänger aufgefordert werden, bei der Ostabteilung des RIAS vorzusprechen.

Stimmen aus Westberlin

Bei SPD-Mitgliedern in den Eisenbahndienststellen Schöneberg, Wilmersdorf und Halensee wurde eine deprimierende Stimmung festgestellt. Sie bringen zum Ausdruck, Adenauer werde nun mit seinen Kriegsabsichten durchkommen. Diese SPD-Genossen lehnen Scharnowski4 schroff ab. Wie uns berichtet wird, haben sie das Bedürfnis, sich mit Genossen unserer Partei auszusprechen, obwohl sie das noch nicht offen zum Ausdruck bringen.

Einschätzung der Situation

Die Diskussionen über die westdeutschen Wahlergebnisse gehen unvermindert weiter, die Argumente haben sich nicht verändert. Der Gegner geht bei Ausnutzung der Wahlergebnisse zur wüsten Hetze gegen Partei und Regierung jetzt dazu über, eine Stimmung in die Bevölkerung hineinzutragen, dass die Wahl Adenauers auch eine Veränderung der politischen Verhältnisse in der DDR herbeiführen wird. Obwohl ein großer Teil der Genossen und fortschrittlichen Menschen die Lage richtig einschätzt und die Aufgaben erkennt, muss man doch ernsthaft beachten, dass eine ganze Reihe Genossen deprimiert sind und demzufolge in vielen Betrieben ungenügend oder gar nicht verstehen, die Massen aufzuklären. Den weit verbreiteten feindlichen Argumenten und den negativen Stimmungen wird viel zu wenig entgegengetreten.

Der Einfluss der feindlichen Kräfte auf dem Lande hält weiter an und zeigt sich besonders in den täglich neu gemeldeten Auflösungserscheinungen der LPG und in den durch die Großbauern und andere feindliche Elemente verursachten Ablieferungsschwierigkeiten. Dabei werden die Schwierigkeiten auf dem Lande noch verstärkt durch den immer größer werdenden Mangel an Ersatzteilen für landwirtschaftliche Geräte und Maschinen, was die Missstimmung der Landbevölkerung erhöht und durch die feindliche Propaganda ausgeschlachtet wird.

Trotz vieler Diskussionen über das Wahlergebnis wird in breiten Kreisen der Werktätigen über die Erhöhung der Lebenshaltung und über die Mängel in der Versorgung stark diskutiert, besonders in Berlin. Es ist deshalb nicht nur notwendig, alle Kraft zur Durchsetzung des neuen Kurses einzusetzen, sondern es muss auch verstärkt und wahrheitsgemäß den Menschen klargemacht werden, was seit Beginn des neuen Kurses alles erreicht worden ist und unter welchen Voraussetzungen weitere Verbesserungen erzielt werden müssen.

Anlage (o. D.) zur Information Nr. 1065

Weitere Stimmen zum Ergebnis der Bundestagswahlen

Ein Angestellter vom Rat des Kreises Putbus: »Ich habe mit einer Stimmenverschiebung zwischen der CDU und SPD gerechnet. Jetzt, wo Adenauer die Herrschaft vier Jahre lang hat, werden wir die Einheit Deutschlands nicht erreichen.«

Ein Arbeiter aus dem VEB NEMA Netzschkau/Karl-Marx-Stadt: »Es zeigt sich immer wieder, dass der deutsche Arbeiter nichts gelernt hat.«

Ein Sachbearbeiter aus dem Planungsbüro Magdeburg: »Es ist nur bedauerlich, dass die Arbeiter auf diesen Leim hereingefallen sind. Ich bin mit verschiedenen Maßnahmen, die hier getroffen werden, nicht einverstanden, aber so hätte ich nicht gewählt. Mit solch einer Niederlage der Arbeiterklasse hätte wohl keiner gerechnet.«

Ein Arbeiter aus dem Braunkohlenwerk Deuben/Halle: »An dem schlechten Wahlergebnis ist die Kirche schuld. Was durch fortschrittliche Personen aufgebaut wird, wird durch die Pfaffen wieder zerstört. Man müsste einige von den Kirchenfürsten einsperren, dann wäre Ruhe.«

Ein Arbeiter aus dem Stickstoffwerk Piesteritz/Halle:5 »Ich kann nicht verstehen, dass die KPD so wenig Stimmen hat. Vorher hat doch immer in der Zeitung gestanden, dass bei Ansprachen von Max Reimann ihm so und soviel Tausend zujubelten.«

Ein Arbeiter der Wismut AG: »Die Wahlen in Westdeutschland haben über die gesamte Entwicklung in Europa entschieden. Es würde sich alles zugunsten der Westmächte wenden.«

Ein Arbeiter des SAG-Betriebes Transmasch Rudisleben: »Die Russen haben es nicht verstanden, die Arbeiter für sich zu gewinnen. Der Arbeiter will richtig essen. Wenn die Vereinigten Staaten von Europa gegründet werden, werden Kriege ja ausgeschlossen.«

Ein Arbeiter aus dem Kaliwerk »Thomas Müntzer«/Erfurt:6 »Jetzt müsste der Zeitpunkt gekommen sein, wo die Russen die ganzen Ostgebiete zurückgeben müssten, denn in Westdeutschland haben es ja die Menschen bewiesen, hinter wem sie stehen. Alles steht hinter dem Ami und nicht hinter den Russen.«

Ein bürgerliches Element aus Halle: »Das hätten sich die Kommunisten nicht träumen lassen. Es ist schon richtig, wenn man sagt, wer Adenauer wählt, wählt den Krieg. Aber nur so (durch Krieg) sind die schwebenden Fragen zu lösen.«

Ein Bauer aus Buckow: »Über den Ausgang der Wahl in Westdeutschland sind wir zufrieden. Die Veränderung der Verhältnisse bei uns ist nur noch eine Frage der Zeit.«

Ein Fuhrunternehmer aus Sonneberg/Suhl: »Wenn ich bei der Regierung wäre, würde ich das Wahlergebnis in den Zeitungen veröffentlichen. Bei uns aber wird nur von Terror und undemokratischen Wahlen gesprochen, womit man sich nur lächerlich macht.«

Ein Mitglied der LPG Klengel/Erfurt:7 »Dem größten Teil der Arbeiter geht es dort gut. Das ist der Grund, dass die KPD so wenig Stimmen hat. Ich weiß nicht, wie ich in dieser Situation gehandelt hätte.«

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