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Tagesbericht

24. September 1953
Information Nr. 1076

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

a) Industrie und Verkehr

Aus allen Bezirken wird gemeldet, dass die Diskussionen in den Betrieben über die 16. Tagung des ZK der SED noch nicht zur Entfaltung gekommen sind. Es fehlt noch an einer guten Vorbereitung durch Parteiorganisationen, Gewerkschaften und FDJ. In den bekannten Diskussionen wird hauptsächlich zur Abschaffung der Lebensmittelkarten und Preissenkung 19541 Stellung genommen. Dazu einige Beispiele:

Ein Arbeiter im VEB Messgerätewerk Treuenbrietzen/Potsdam: »Ich hatte stark gehofft, dass eine Preissenkung noch in diesem Monat erfolgt, aber ich bin enttäuscht worden.« Ein Arbeiter im ABUS, Förderanlagen Köthen/Halle: »Walter Ulbricht sprach von Erhöhung der Arbeitsproduktivität. Die Arbeiter haben schon genug geleistet, nun müsste die langersehnte Preissenkung erst kommen, dann wird aber auch der Arbeiter wieder mehr leisten.« Ein Arbeiter im VEB ABUS, Gießerei und Maschinenfabrik Berlin-Lichtenberg: »Man hat schon viel versprochen und nichts gehalten. Sie sollen mehr handeln und weniger sprechen, dann haben sie auch die Arbeiter für sich gewonnen.« Ein Arbeiter im TRO »Karl Liebknecht« Berlin: »Ich habe die Rede vom Spitzbart genau studiert. Man wird die HO-Preise senken und die Kartenpreise erhöhen, sich also auf der goldenen Mitte treffen. Dies hilft uns gar nichts. Gleichzeitig müssen wir die Normen erhöhen, und somit sinkt das Realeinkommen. Man soll lieber die Rationen erhöhen.« Ein Arbeiter im TRO »Karl Liebknecht« Berlin: »Nun ja, bis zum Frühjahr 1954 ist noch viel Zeit. Bis dahin haben wir wieder einen neuen Kurs und man wird dann wieder sagen, wir haben uns geirrt, so geht das nicht.«

Überaus stark tritt eine abwartende Haltung und Zurückhaltung besonders bei politischen Gesprächen auf. Die Arbeiter gehen Diskussionen aus dem Weg oder gehen auseinander, wenn ein Dritter dazukommt. Ursache ist die Angst, bei falschen Diskussionen verhaftet bzw. entlassen zu werden. Im KWO, Kabelwerk Oberspree Berlin, wurde aus guten Parteigenossen eine Kampfgruppe gebildet, welche die Aufgabe hat, bei negativen Diskussionen sofort aufklärend einzugreifen. Seit dieser Zeit sind keine Diskussionen mehr zu vernehmen.

Der feindliche Einfluss der RIAS-Parolen zeigt sich in Nichtbezahlung von Beiträgen und Krankmeldungen, so z. B. werden in verschiedenen Betrieben Apolda/Erfurt nur noch 40–50 % FDGB-Beiträge bezahlt. Im RAW Hoyerswerda/Cottbus wurden seit 1.7. bis 20.9.1953 in 70 Fällen Krankmeldungen festgestellt, die nur geringfügige Krankheiten als Ursache aufwiesen (Kopfschmerz, vergriffenes Handgelenk, Schwindelanfälle, Verstauchungen u. a.).

Im Bezirk Rostock wird in einigen Betrieben negativ gegen die SU diskutiert, indem man erklärt: »Die SU habe den Vorschlag der Westmächte auf freien Interzonenverkehr abgelehnt.«2 Weiterhin sind noch starke Diskussionen über schlechte Stromversorgung, Brennstoffmangel, ungenügende Kartoffelversorgung und die zu hohen Preise in der HO im Umlauf.

Verschiedentlich wird durch mangelnde politische Vorbereitung bei der Entlarvung von Provokateuren Unruhe unter den Kollegen erzeugt. So wurde im Transformatoren- und Röntgenwerk Dresden von der BPO ein Flugblatt herausgegeben, in welchem drei Kollegen als Provokateure entlarvt wurden. Nach dessen Erscheinen wollten die Arbeiter der Dreherei ihre Arbeit nicht fortsetzen. Erst nach intensiver Aufklärung wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Im Elektrochemischen Kombinat Halle3 ist, seitdem einige Intelligenzler entlassen wurden, eine Beunruhigung unter der Intelligenz entstanden.

In einigen Betrieben bestehen Schwierigkeiten in der Erfüllung ihrer Pläne. Ursachen sind zum Teil Transportschwierigkeiten. So muss das Kali-Werk Staßfurt/Magdeburg seine tägliche Produktion von 600 t auf 143 t einschränken, weil die Reichsbahn keine Waggons stellt. Aus dem gleichen Grund lagern bei der DHZ Schwerin ca. 10 000 t Altstoffe.

Im Braunkohlenwerk Profen/Halle bestehen Schwierigkeiten im Absatz der Kohle (Werk Deuben nimmt weniger Kohle ab.) Dadurch wird der Plan nicht erfüllt, es gibt keine Prämien, die Stimmung ist schlecht. Demgegenüber ist im VEB Messgerätewerk Treuenbrietzen/Potsdam durch gute Materiallieferung im Monat August eine 20%ige Produktionssteigerung eingetreten.

Im Kabelwerk Schönow/Frankfurt sind die Arbeiter über das System der Prämienzahlung erbittert. Sie äußern: »Wenn hier keine Änderung eintritt, wird am ›Tag der Aktivisten‹ gestreikt.« Ein Parteileitungsmitglied will seine Funktion niederlegen, wenn die Kulturverordnung (in welcher das Prämiensystem enthalten ist) nicht geändert wird. Auch der Parteisekretär ist nicht mit dieser Prämienverteilung einverstanden, da der Personalleiter 1 000 DM Prämie bekommt und ein Arbeiter nur höchstens 125 DM bekommen kann.

b) Handel und Versorgung

Für das II. Quartal 1953 erhielt Berlin zusätzlich 763 t Fleischkonserven. Bisher konnten davon 70 t abgesetzt werden. Grund für den geringen Absatz ist einmal das Anrechnungsverhältnis auf Marken, zum anderen der hohe Preis. Die Konserven weisen zum Teil ein Endverbrauchsdatum auf, was einen Verkauf nicht mehr zulässt. Verantwortliche Angestellte des Ministeriums für Handel und Versorgung wurden wiederholt darauf hingewiesen, dass ein besseres Abgabeverhältnis und ein Sonderpreis geschaffen werden muss, wenn ein Verderben verhindert werden soll.

Im Lager der DHZ Marienberg/Karl-Marx-Stadt lagern 19 t Margarine, die ohne Anforderung angeliefert wurden. Bemühungen, diese Margarine wieder abzuziehen, waren bisher erfolglos, wodurch diese verdorben ist und dem Handel nicht mehr zugeführt werden kann.

Aus den Bezirken werden immer wieder Einzelbeispiele berichtet, wo sich in Versammlungen und Diskussionen Mitglieder der Konsumgenossenschaft gegen eine Senkung der Rückvergütung aussprechen. So wird z. B. aus Suhl berichtet, dass in Großbreitenbach eine Konsumversammlung mit 450 Teilnehmern stattfand. Als bekannt gegeben wurde, dass nur 1,2 % Rückvergütung bezahlt wird, konnte eine allgemeine Empörung und Zurufe »Wir kaufen nichts mehr im Konsum, wir melden uns ab, wir wollen unsere versprochene Rückvergütung!« und dergleichen mehr festgestellt werden.

c) Landwirtschaft

Inhalt der Diskussionen unter der ländlichen Bevölkerung sind noch immer Sollablieferung, Düngemittelzuweisung, besonders aber die durchgeführten Stromabschaltungen. So wird z. B. zum Ausdruck gebracht, dass es unverantwortlich sei, in der Zeit, wo die meiste Arbeit innerhalb des Hofes beginnt, den Strom abzuschalten, oder dass es nicht verwunderlich wäre, wenn der Hof abbrennt, da man alle Arbeiten mit Kerzenlicht durchführen muss. Bei einem Aufklärungseinsatz im MTS-Bereich Badrina4/Leipzig äußerte sich der größte Teil der Bevölkerung folgendermaßen: »Lasst uns in Ruhe, wenn alles da ist und wir so leben können wie die im Westen, könnt ihr wieder mit uns sprechen.«

Aufgrund der Herbstbestellung wurden in der MTS Brand-Erbisdorf/Karl-Marx-Stadt zwei Schichten eingeführt. Obwohl die Traktoristen Anfangs einverstanden waren, machte sich bereits nach drei Tagen eine Missstimmung bemerkbar. Drei Traktoristen kündigten, die anderen drohten mit Arbeitsniederlegung. Durch Entlarvung eines Provokateurs und gute Aufklärungsarbeit wird die Notwendigkeit der Zwei-Schichten-Arbeit eingesehen.

Immer wieder werden aus den Bezirken Schwierigkeiten in der Ersatzteilbelieferung für Maschinen der MTS berichtet. So z. B. wird aus Borna/Leipzig bekannt, dass von sieben Mähbindern keiner mehr arbeitet. Ähnlich verhält es sich mit einigen Kartoffelrodern und Traktoren (»Aktivist« und »Pionier«).

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Wirtschaftliche Fragen, wie bereits an den Vortagen berichtet, stehen noch immer im Vordergrund der Diskussion. Übereinstimmend wird aus allen Bezirken berichtet, dass über aktuelle Fragen und das politische Geschehen verhältnismäßig wenig diskutiert wird. Nur im geringen Maße werden Diskussionen über das 16. Plenum unserer Partei geführt. Dabei muss festgestellt werden, dass ein großer Teil der Bevölkerung das in der Presse veröffentlichte Material nicht kennt und die Durchführung von Versammlungen und Aufklärungseinsätzen von den Kreisleitungen unserer Partei erst vorbereitet werden [sic!]. Die wenigen vorhandenen Äußerungen besagen, dass man zumindest eine größere Preissenkung (40–50 %) erwartet habe. Man soll nicht bis 1954 warten, wenn das Vertrauen der Massen wieder hergestellt werden soll.

An der technischen Hochschule in Dresden herrscht unter den Studenten Unzufriedenheit, da in der Zeit vom 1.10.1953 bis 1.2.1954 die Schwerpunktzulage von 20,00 DM für alle Studenten in Wegfall kommen soll. Diskussionen werden geführt, wie die Hochschule wieder zu verlassen, auch wird der Gedanke eines Streiks erwogen.

Der Chefarzt des städtischen Krankenhauses in Weimar, der an einer »Therapie-Woche« in Stuttgart teilgenommen hat, erklärte nach seiner Rückkehr: »Es wäre angebracht, in Zukunft wenigstens Personen, die im Interesse des Staatssekretariates für Hochschulwesen an Tagungen in Westdeutschland teilnehmen, einen entsprechenden Betrag in Westmark zu bewilligen.«

Organisierte Feindtätigkeit

Verstärkte Flugblatttätigkeit (NTS5 und KgU6) in den Bezirken Erfurt, Frankfurt. Geringe Flugblattfunde in den Bezirken Suhl, Gera, Halle, Cottbus, Potsdam und Neubrandenburg. In Stendal/Magdeburg wurden Hetzblätter (Matrizenabzug) gefunden. Inhalt: Dass »bald die Stunde der Befreiung kommen wird«. In verschiedenen Kreisen Magdeburgs wird das Gerücht verbreitet, dass im Oktober ein neuer »Tag X«7 erfolgt. In einigen Fällen wird der 7.10.1953 genannt.

Im VEB Kammgarnspinnerei Reichenbach/Karl-Marx-Stadt fiel eine Dampfmaschine aus, weil die Lager durch Schmirgelsand beschädigt wurden, Schaden: 1 000 DM. Auf der Warnow-Werft Warnemünde sind die Kabel eines für die SU neugebauten Schiffes zerstört worden. Dadurch entstand ein Schaden von über 4 000 DM und der Liefertermin kann nicht eingehalten werden.

Stimmen aus Westberlin

In der Zeit vom 3. bis 6.9.1953 fand im Sportpalast in Westberlin der Kongress der »Neuen-Welt-Gesellschaft« (Zeugen Jehovas)8 statt. An allen Tagen war der Saal bis zum letzten Platz gefüllt (ca. 8 000–9 000 Besucher). Der Referent führte neben seiner religiösen Ansprache eine wüste Hetze gegen die DDR und SU. Die anwesenden Katholiken wurden aufgefordert, »dem teuflischen Herrschaftssystem den Rücken zuzukehren und nicht den Freimut [sic!] der Rede sich rauben zu lassen«.

Einschätzung der Situation

Die Bedeutung der 16. Tagung des ZK ist von der großen Masse der Werktätigen noch nicht erkannt worden. Dazu fehlt noch die notwendige Aufklärung durch die Parteiorganisationen. Dementsprechend werden wenig Diskussionen geführt und dann in vielen Fällen noch negativ, da sich viele in ihren Erwartungen auf eine baldige Preissenkung enttäuscht fühlen, aber die Notwendigkeit zur Schaffung der Voraussetzungen für eine Verbesserung der Lebenshaltung noch nicht begriffen haben.

Ein Teil der Arbeiter ist unter dem Einfluss feindlicher Propaganda und vieler noch nicht beseitigter Mängel derartig misstrauisch und skeptisch geworden, besonders in den Berliner Betrieben, dass es größter Anstrengungen aller Parteiorganisationen und fortschrittlichen Menschen bedarf, um sie von der Richtigkeit unserer Politik zu überzeugen. Dies ist aber nicht möglich ohne gleichzeitig die vielen Mängel in den Betrieben und im Handel zu überwinden.

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