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Tagesbericht

16. Oktober 1953
Informationsdienst Nr. 1095 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

a) Industrie und Verkehr

Wie aus vorliegenden Berichten zu ersehen ist, diskutiert ein großer Teil der Belegschaften in den Betrieben positiv über die Auszeichnung von Arbeitern und Angestellten zum »Tag der Aktivisten«.1 So z. B. ist im VEB Kunstseidenwerk Premnitz/Potsdam, wo 161 Aktivisten, elf Bestarbeiter und zwei verdiente Aktivisten ausgezeichnet wurden, allgemein eine positive Stimmung zu verzeichnen. Ausgezeichnete Kollegen wurden von ihren Abteilungsangehörigen mit Blumen beglückwünscht. Auch im Kraftwerk Klingenberg, Abteilung Kessel, herrscht eine positive Stimmung, da die Kollegen allgemein mit der Auszeichnung, wobei ein »Held der Arbeit«, ein verdienter Aktivist und 17 Bestarbeiter geehrt wurden, zufrieden sind.

Unzufriedenheit wird zum großen Teil dort geäußert, wo Vorschläge der Arbeiter nicht berücksichtigt, d. h. gestrichen wurden oder in Betrieben und Abteilungen, wo nicht ein einziger Arbeiter zur Auszeichnung gelangte. So z. B. wurde in der Mathias-Thesen-Werft, Abteilung Bordmontage, keiner der Abteilungsangehörigen ausgezeichnet, wodurch sich die Kollegen gegenüber anderen Abteilungen zurückgesetzt fühlen.

Im VEB Papierfabrik Grünhainichen/Karl-Marx-Stadt ist unter der gesamten Belegschaft eine gewisse Missstimmung, da im Betrieb keine Auszeichnungen vorgenommen wurden. Von der BGL wird dies damit begründet, dass vom Bundesvorstand laut Rundschreiben eine Auszeichnung in diesem Industriezweig nicht vorgesehen war.

Im VEB Schlachthof Suhl legte ein Teil der Kopfschlächter die Arbeit nieder, da sie mit der Prämierung nicht einverstanden sind. Von einem Schlächter wurde der BPO-Sekretär und BGL-Vorsitzende zu Boden geworfen und gewürgt.

Nur vereinzelt wurden bisher Beispiele bekannt, wo in negativer Form über die Auszeichnung der Aktivisten gesprochen wurde. In solchen Diskussionen ist zu ersehen, dass nicht die Auszeichnung, vielmehr aber die Prämie Anlass dazu ist. Einige Bespiele:

Ein Heizer aus dem IKA Brotterode/Suhl: »Es wurde wieder einmal prämiert und wie immer führt es zur Entzweiung der Arbeiter. Der eine kriegt alles, die anderen nur ein Almosen oder gar nichts.« Ein Kumpel der Wismut AG: »Da haben sie nun wieder 42 ›Helden der Arbeit‹ ausgezeichnet und jeder hat 10 000 DM erhalten. Das ist doch kein gesundes Verhältnis, denn dadurch werden nur wieder Kapitalisten geschaffen.« Ein Schlosser aus dem Kombinat Deutzen/Leipzig: »Ich habe die Schnauze voll, alle Kollegen arbeiten, aber nur für diejenigen ist Geld da, die schon immer Prämien einstecken.«

Wie aus Leipzig bekannt wird, ist in einigen Schwerpunktbetrieben eine Besserung in der Zahlung von FDGB-Beiträgen eingetreten. In der Grube Großzössen wurde z. B. die Beitragszahlung um 4 000 DM erhöht. So haben Urlauber teilweise nachgezahlt, zum anderen zahlt jetzt ein Teil der Kumpel die richtige Beitragshöhe, was zum großen Teil auf Bekanntmachungen des FDGB (Sterbegeld, Zuschüsse bei längerer Krankheit und dgl.) zurückzuführen ist.

Material- und Ersatzteilschwierigkeiten, die sich negativ auf die Belegschaft sowie Planerfüllung auswirken, werden aus Halle berichtet. Im VEB Förderanlagenbau Köthen ist dadurch bereits eine gewisse Fluktuation von Fachkräften zu verzeichnen. Im VEB Braunkohlenwerk Nachterstedt fehlen besonders Baggerbolzen, Schalenbuchsen und andere Ersatzteile. Weiterhin treten in fast allen Betrieben Schwierigkeiten in der vorgeschriebenen Stromabnahme auf. In Sperrzeiten müssen oft Waggons beladen oder entladen werden, wodurch Betriebe vor der Wahl stehen, entweder Standgeld für die Waggons oder Strafe bei den Energiebeauftragten zu zahlen.

Bei der Reichsbahn-Bau-Union Karl-Marx-Stadt bestehen in der Bezahlung der Arbeiter große Missstände. So sollte z. B. ein Maschinist 43,00 DM zurückzahlen. Bei Überprüfung stellte sich jedoch heraus, dass er noch 190 DM zu bekommen hat. Durch einen ähnlichen Fall bei einem Brigadier kam es so weit, dass die ganze Brigade kündigen wollte. Die Unzufriedenheit griff auf die gesamte Belegschaft über. Man hatte bereits Verbindung mit dem VEB Bau-Union Karl-Marx-Stadt aufgenommen, um dort andere Arbeit zu erhalten.

b) Handel und Versorgung

Mängel in der Versorgung mit Einkellerkartoffeln wurden aus den Bezirken Leipzig, Magdeburg und Karl-Marx-Stadt gemeldet.

Im Bezirk Karl-Marx-Stadt ist die Fleischversorgung der Bevölkerung gefährdet. Die Schlachthöfe haben noch für ca. eine Woche Frischfleisch. Ursache ist, dass die Viehtransporte aus den Bezirken Erfurt und Magdeburg fehlen. Im 1. Monat des 4. Quartals sollen 2 000 t Vieh geliefert werden. Bisher trafen aber nur 755 t ein.

Die HO-Verkaufsstellen des Kreises Köthen/Halle erhalten nicht die von ihnen bestellten Lieferungen an Wurst, Margarine und Süßwaren von der DHZ.

c) Landwirtschaft

Die Zurückhaltung in politischen Fragen hält weiterhin an. Positive Beispiele zeigen, dass Bauern, die den neuen Kurs begrüßen, dies zum Teil mit Verpflichtungen am »Tag der Republik« zum Ausdruck brachten. Dagegen wollen andere Bauern im neuen Kurs keinen Fortschritt sehen. Bauern der Gemeinde Degtow/Rostock verpflichteten sich, 20 Ztr. Schweine- und 10 Ztr. Rindfleisch über das Soll abzuliefern.

Ein werktätiger Bauer der LPG Polzin/Neubrandenburg sagte: »Uns werktätigen Bauern hat der neue Kurs noch nichts gebracht. Bezugsscheine bekommen wir nicht. Wir können schuften von morgens bis abends spät. Das Einzige, dass sie das Soll um einige Prozent gesenkt haben.«

Im Bezirk Potsdam wurden in den MTS und VEG die Auszeichnungen der Aktivisten im Allgemeinen positiv aufgenommen. Nicht einverstanden war man in der MTS-Werkstatt Zossen über die Ablehnung der Aktivistenvorschläge. Grund der Ablehnung: Rückstand in der Beitragszahlung des FDGB. Dazu äußerte man, dass für die Auszeichnung nur die Leistung ausschlaggebend sei.

In einigen Gemeinden des Bezirkes Rostock ist das RIAS-Argument über »Einführung einer freien Wirtschaft« stark verbreitet, besonders im MTS-Bezirk Sanitz. So äußerte der Parteisekretär der LPG Steinfeld/Rostock: »Ich kann es nicht mehr verantworten, wenn ich in der LPG verbleibe. Die Felder verunkrauten. Im Bericht über die Landwirtschaft der SU sieht man auch, dass es dort nicht besser ist. Ich fordere Einführung der freien Wirtschaft.«

Aus den Bezirken Karl-Marx-Stadt und Potsdam wird gemeldet, dass besonders Groß- und Mittelbauern sich weigern, ihren Ablieferungspflichten jetzt nachzukommen. Sie erklären, dass sie erst ihre gesamten Feldarbeiten verrichten wollen bevor sie abliefern. So erklärte ein Mittelbauer aus Großolbersdorf/Karl-Marx-Stadt: »Bei der günstigen Witterung werden wir erst die Feldbestellung durchführen, die Ablieferung läuft uns doch nicht weg.« Dieser Meinung schlossen sich vier weitere Bauern des Dorfes an.

Die Hackfruchternte ist in allen Bezirken in vollem Gange. Es treten jedoch in einzelnen Bezirken Schwierigkeiten auf. So wird aus den Bezirken Leipzig und Neubrandenburg gemeldet, dass es hier besonders an den notwendigen Waggons zum Abtransport fehlt. In Beiern/Leipzig stehen 40 voll beladene Fahrzeuge mit Kartoffeln und Zuckerrüben. Trotzdem die Bauern und LPG im Besitz von Karten waren, auf welchen sie zur termingerechten Beladung hingewiesen wurden, ist die Waggongestellung der Reichsbahn mangelhaft.

Im Kreis Oranienburg/Potsdam besteht die Gefahr, dass trotz der täglich eingesetzten 700 Erntehelfer die Hackfruchternte vor Einsetzen des Frostes nicht geborgen werden kann, da ein Teil der Felder im Luchgebiet liegt und dort keine landwirtschaftlichen Maschinen eingesetzt werden können.

Bei der LPG Mechelsdorf/Rostock liegen 4 ha gerodete Kartoffeln auf den Feldern. Grund: Es sind keine Arbeitskräfte vorhanden. Im Kreis Pasewalk/Potsdam konnten die Erntehelfer nicht voll eingesetzt werden, da die Maschinen dauernd wegen Reparaturen ausfallen.

Diskussionen negativer Art wurden in den Bezirken Neubrandenburg und Dresden über die Stromversorgung geführt.

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Eine abwartende Haltung in politischen Fragen ist weiterhin bei der Bevölkerung vorherrschend. Von einem Teil der Bevölkerung wird der neue Kurs der Regierung der DDR negiert, indem man Westdeutschland als »gutes Beispiel« hinstellt. So erklärte ein Einwohner aus Tannenberg/Karl-Marx-Stadt: »So einen Aufzug über den 7. Oktober im Radio vom Zaune zu lassen, finde ich mehr als übertrieben. Sieht oder hört man so etwas im Westen, dort hört und sieht man nur Taten, die Bevölkerung führt ein zufriedenes Leben, hier bei uns kann man sich nichts leisten. An alle Versprechungen glaube ich nicht mehr, es sind ja nur Worte, ich bin zuviel enttäuscht worden.«

Negative Diskussionen über die Stromabschaltungen treten in den Bezirken Neubrandenburg, Karl-Marx-Stadt, Dresden und Potsdam besonders hervor und haben sich teilweise verstärkt.

Über die zu hohen Preise bzw. über die Hoffnung einer baldigen Preissenkung wird in den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Dresden und Suhl gesprochen. So sagte eine Hausfrau aus Tannenberg/Karl-Marx-Stadt: »Auch ich habe aufgrund der allgemeinen Gespräche auf eine Preissenkung am 7. Oktober gewartet und bin sehr enttäuscht worden. Nun hoffe ich noch bis Weihnachten, um meinen Kindern den Gabentisch decken zu können. Ich glaube an unsere Regierung.«

Starke Diskussionen über die unzureichende Kartoffelversorgung werden aus den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Magdeburg und Suhl gemeldet. Man äußert, dass bis zum Einsetzen des Frostes nicht alle mit Kartoffeln versorgt sind. So erklärte eine Hausfrau aus Gelenau/Karl-Marx-Stadt: »Aufgrund der fortgeschrittenen Jahreszeit besteht die Gefahr, dass die Kartoffeln ankommen, wenn bereits Frost herrscht. Seit ca. zwei Wochen ist schon kein Waggon mit Kartoffeln angekommen. Hier muss schnell gehandelt werden.«

Die Fahndung nach geflüchteten Staatsangehörigen der ČSR im Kreis Königs Wusterhausen/Potsdam hat unter der Bevölkerung starke Unruhe ausgelöst.2 Arbeiterinnen im VEB »Heinrich Rau« wollten bereits vorzeitig ihren Arbeitsplatz verlassen.

Organisierte Feindtätigkeit

Verstärkte Flugblatttätigkeit in den Bezirken Suhl (50 000, davon 16 000 durch Raketenabschuss im Kreis Sonneberg aus Richtung Tettau3/Oberfranken), Gera (8 500) und Potsdam (1 060, davon 60 auf dem Übungsplatz der Sowjetarmee Alexanderdorf). Es handelt sich überall um Flugblätter der NTS.4 Vereinzelte Flugblatttätigkeit in den Bezirken Magdeburg und Karl-Marx-Stadt (NTS und KgU,5 letztere richteten sich gegen Offiziere und Unteroffiziere des Staatssekretariats für Staatssicherheit). In Berlin wurden in der S-Bahn ca. 200 Hetzschriften »Karawane am persischen Golf« als Romanhefte verteilt.

Im VEB Waggonbau LOWA Niesky/Dresden wurde in das Getriebe der Schiebebühne eine Schraube (50 cm lang) geworfen, um sie außer Betrieb zu setzen. Schaden entstand keiner, da es rechtzeitig bemerkt wurde.

Am 11./12.10.1953 wurde im Speiseraum der Derutra Warnemünde das Bild des Genossen Walter Ulbricht mit dem Namen Stalin beschriftet und einem »R« beschmiert sowie an das Rednerpult eine Karikatur gemalt und mit dem Namen »Stalin–Molotow« beschriftet.

Einschätzung der Situation

In den Betrieben sind die Aktivistenauszeichnungen noch Gegenstand der Diskussion. In der Mehrzahl wurden die Auszeichnungen positiv aufgenommen. Dort, wo die Vorschläge der Arbeiter nicht berücksichtigt wurden oder wo gar keine Auszeichnungen vorgenommen wurden, werden allerdings negative Diskussionen geführt. Vereinzelt tauchen nach wie vor Tendenzen der Gleichmacherei auf. Große Unzufriedenheit herrscht in den Bezirken, in denen die Kartoffelversorgung ungenügend ist. Vereinzelt besteht bei der Hackfruchternte Arbeitskräftemangel, der durch Erntehelfer beseitigt werden könnte. Über Stromabschaltungen und erwartete Preissenkungen wird nach wie vor heftig diskutiert. Dabei werden oft die Verhältnisse in Westdeutschland von Interzonenreisenden verherrlicht.

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