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Tagesbericht

21. November 1953
Informationsdienst Nr. 2026 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Die Entlarvung feindlicher Spionagegruppen1 ist das Thema weiterer Versammlungen in den Betrieben, in denen Mitarbeiter der Staatssicherheit sprechen. Über solche Versammlungen und dadurch beeinflusste Stimmungen wird heute aus den Bezirken Potsdam, Cottbus, Frankfurt/Oder, Magdeburg, Halle und von der Verwaltung Karl-Marx-Stadt »W«2 berichtet.

Die Versammlungen verliefen durchweg sehr erfolgreich. Bei guter Vorbereitung waren sie außerordentlich gut besucht. In einigen Fällen haben aber Betriebsleitung und Parteiorganisation in der Vorbereitung der Versammlungen versagt, sodass trotz positiven Verlaufes kein maximaler Nutzen erzielt wurde, weil die Beteiligung sehr schwach war und nur ein kleiner Teil der jeweiligen Betriebsbelegschaften gründlich aufgeklärt werden konnte. Die Diskussionen während und nach den Versammlungen waren in allen Fällen gut. Die Arbeiter begrüßen die Tatsache, dass die Staatssicherheit zu ihnen kommt und über die feindliche Wühlarbeit spricht, sie lernen den Wert und die Bedeutung der Arbeit unserer Sicherheitsorgane schätzen und ziehen die Schlussfolgerung, die Wachsamkeit in den Betrieben zu erhöhen und die Organe der Staatssicherheit zu unterstützen. In einzelnen Fällen zeigen sich schon praktische Auswirkungen, wo Arbeiter die Dienststellen der Staatssicherheit aufsuchen und über verdächtige Dinge berichten. Die ausgestellten Beweisstücke werden mit größtem Interesse besichtigt.

Im Elektromotorenwerk Wernigerode/Magdeburg fand eine Versammlung statt mit einer noch nie dagewesenen Beteiligung und Aufmerksamkeit der Mitarbeiter. Ein Mitarbeiter sagt dort in der Diskussion u. a.: »Wir werden diesen Verbrechern durch verstärkte Wachsamkeit auf die Finger gucken und wenn nötig tüchtig draufschlagen.« Ein anderer Arbeiter sagte: »Es ist höchste Zeit, Schluss zu machen mit der verfluchten Gleichgültigkeit im Betrieb und das schleichende RIAS-Gift bei uns auszumerzen. Den ewigen Nörglern müssen wir mit unseren Erfolgen die Wahrheit beweisen.« Die Versammlung war durch Werkfunk und Handzettel gut vorbereitet.

Zu einer angesetzten Versammlung im EKM Finow Frankfurt/Oder erschien nicht ein Kollege. Zur Publizierung der Versammlung hatte der Parteisekretär lediglich einen Zettel an das Werktor geklebt, auf dem geschrieben stand, im Gasthaus, dem Versammlungsort, werde eine interessante Ausstellung gezeigt, die sich jeder Kollege ansehen könne. Er selbst war dann auch nicht da.

In der Großkokerei Lauchhammer sagte ein Arbeiter in der Diskussion u. a.: »Solche Aussprachen müssten mindestens alle vier bis sechs Wochen stattfinden, denn dann bekommen alle Menschen Vertrauen und niemand braucht mehr Angst zu haben, dass er eingesperrt wird, wenn er mal was sagt.«

Ein Arbeiter des gleichen Werkes erschien am Tage nach der Versammlung in der Dienststelle der Staatssicherheit und machte Angaben über einen in den Betrieb zurückgekehrten Republikflüchtigen, der fortwährend negativ auftritt.

Die Verpflichtungsbewegung breitet sich, wenn auch nicht mehr in so starkem Maße, weiter aus – vereinzelt Normenerhöhungen. In der Neptunwerft Rostock erhöhten vier Brigaden ihre Normen um 5–10 %. Im Presswerk Spremberg/Cottbus verpflichteten sich vier Arbeiter, bis Jahresende 825 Radiogehäuse zusätzlich zu produzieren; drei Arbeiter wollen 924 Lautsprecher mehr herstellen.

Härten in der Entlohnung sind oft Anlass zu Unzufriedenheit und negativen Diskussionen. Im Eisenhüttenkombinat »J. W. Stalin« sind die auswärtigen Arbeiter darüber empört, dass plötzlich keine Trennungsentschädigung mehr gezahlt wird. Außerdem sind die beiden freien Arbeitstage weggefallen, die vierteljährlich für eine Heimfahrt gewährt wurden. In der Montage der Optischen Werke Rathenow/Potsdam beschweren sich die Monteure, dass die Löhne der Lohngruppen VII und VIII faktisch niedriger seien, als die der Lohngruppen II und III.3

Materialschwierigkeiten werden laufend berichtet.

Im VEB Guss Ueckermünde/Neubrandenburg mangelt es seit mehreren Wochen an Tempererz. Der Betrieb muss in zwei Wochen die Produktion stilllegen, wenn die Erzversorgung nicht besser wird. 76 Aufträge und Verträge mussten bereits gekündigt werden. Alle Bemühungen der Betriebsleitung und auch die wiederholten Hinweise in unserem Informationsdienst blieben bisher erfolglos.

Ein Gerücht kursiert in Wittstocker Betrieben (Potsdam), wonach angeblich eine Hamburger Firma mit Genehmigung der Regierung der DDR Bauhandwerker für Aufbauarbeiten in Indien wirbt; die geworbenen Kräfte müssten sich für ein Jahr verpflichten und bekämen für dieses eine Jahr DM 30 000 Lohn und täglich DM 18,00 Trennungsgeld.

Handel und Versorgung

Schwierigkeiten in der Kartoffelversorgung treten noch immer in einzelnen Kreisen stärker, in anderen schwächer auf. Im Kreis Gransee/Potsdam werden alle zehn Tage auf die Lebensmittelkarte 5 kg Speisekartoffeln ausgegeben, um die Versorgungslücke etwas zu überbrücken.

Unzureichende Belieferung oder schlechte Warenverteilung von Lebensmitteln werden aus Gera und Karl-Marx-Stadt gemeldet. Zum Teil ist es auf Nichteinhaltung der abgeschlossenen Verträge oder schlechte Belieferung durch die DHZ zurückzuführen. So erhielt die HO-Wismut Schwarzenberg nicht die bestellten Mengen an Hülsenfrüchten. Weiterhin fehlt es an Würfelzucker, Milchpulver, Fischkonserven und Margarine Sorte II. Im Bezirk Rostock besteht große Nachfrage nach Margarine Sorte I. Im Kreis Lobenstein/Gera fehlt es an Fischwaren, demgegenüber lagern in Pößneck/Gera bei der DHZ Fischlieferungslager diese Waren in genügender Menge (Mangel an Transportraum). In Karl-Marx-Stadt stellt man die Frage, wann endlich die Waren für die Weihnachtsbäckerei eintreffen, wie Zitronen, Rosinen, Mandeln usw.

Schlechte Belieferung von Textilien wird aus den Bezirken Leipzig, Gera und Neubrandenburg gemeldet. Besonders fehlt es an genügend Winterbekleidung. So fehlt es im Kreis Ueckermünde/Neubrandenburg besonders an Damenwintermänteln. In einigen Kreisen des Bezirkes Leipzig an Winterbekleidung, Bettwäsche und Arbeitsbekleidung.

Über die Neuregelung der Versteuerung bei Spirituosen wird unter den Gastwirten in Berlin eine sehr negative Haltung eingenommen. Wo bisher je Flasche 32 Gläser versteuert wurden, müssen jetzt laut Anweisung des Finanzamtes 34 Gläser versteuert werden. Außerdem müssen die seit 1952 zum Ausschank gekommenen Flaschen nach dem neuen Richtsatz nachversteuert werden.

Landwirtschaft

Schwierigkeiten in der Ablieferung und im Abtransport der Hackfruchternte treten besonders in den Bezirken Neubrandenburg, Schwerin, Frankfurt/Oder und Potsdam hervor. Als Grund wird allgemein das hohe Soll bzw. schlechte Ernte angegeben. Demgegenüber gibt es auch staatliche Betriebe und LPG, wo die Ernte nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde und viele Kartoffeln dem Verlust preisgegeben wurden. Großbäuerliche Elemente verweigern bewusst die Ablieferung, obwohl sie dazu in der Lage sind. Im Bezirk Frankfurt/Oder traten Schwierigkeiten beim Verladen der Kartoffeln durch Waggonmangel auf.

Großbauer aus Adolfshof4/Neubrandenburg: »Ich bin aus Westdeutschland wieder zurückgekommen und war der Meinung, die Regierung gibt die Voraussetzungen den Betrieb wieder rentabel aufzubauen. Da dies aber nicht der Fall ist, muss ich wohl wieder die Koffer packen.«

[Die] LPG Brügge hatte nach der Kartoffelrodung nicht nachgelesen und es wurden von Privatpersonen noch 45 Ztr. aus dem Boden herausgeholt. Im staatlichen Betrieb in Dahme/Potsdam versuchte man die Kartoffeln zu verbergen, indem man sie mit Rüben zuschüttete.

Großbauer aus Wittenförden/Schwerin: »Ich habe meine Kartoffeln eingemietet, und wenn sie verfaulen, ist es auch nicht weiter schlimm, die Strafe fürchte ich nicht.«

In Neuendorf5/Frankfurt/Oder lagern auf dem Lagerplatz der VEAB noch immer Speisekartoffeln, die infolge von Transportmangel nicht weitertransportiert werden können.

Am 19.11.1953 wurden 500 t Kartoffeln nach Großneuenhagen6/Frankfurt/Oder gebracht, um sie zu verladen. Da aber auch dort keine Waggons vorhanden waren, wurden sie auf dem Platz abgeladen und bleiben liegen bis Waggons eintreffen.

Bei Neuwahlen der VdgB, die zzt. in einigen Kreisen des Bezirkes Dresden stattfinden, versuchen Großbauern, die Leitung in ihre Hand zu bekommen. In Großdrebnitz/Dresden diskutierte in einer VdgB-Wahlversammlung ein Großbauer und forderte, dass auch die Betriebe über 25 ha im Ortsvorstand vertreten sein müssen. Das Gleiche versuchten sechs weitere Großbauern. Die werktätigen Bauern schlossen sich der Meinung der Großbauern nicht an und die Großbauern erhielten keinen Einfluss.

Schweinepest tritt im Bezirk Erfurt wieder stärker in Erscheinung. So mussten im VEG Ohrdruf 388 Schweine notgeschlachtet werden.

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Über die Verhaftungen der Agentengruppen wird, soweit bekannt, positiv diskutiert. Dabei bringt man zum Ausdruck, dass diese Feinde der DDR nicht hart genug bestraft werden können. Nur in einzelnen Fällen wurde durch die Verhaftungen Unruhe unter der Bevölkerung verbreitet. Dies ist zum Teil auf mangelnde Aufklärung zurückzuführen, denn dort, wo man darüber Versammlungen abgehalten hat, trat so etwas nicht in Erscheinung. Einwohner aus Jabel/Potsdam, ehemaliger SS-Mann: »Jeder muss mitarbeiten und solche staatsfeindlichen Elemente rechtzeitig entlarven.«

In Kieselwitz/Frankfurt/Oder wurde durch die Verhaftung eines Lehrers in der Gemeinde Unruhe erzeugt. Die Bürgermeisterin wird beschuldigt, dass sie den Lehrer hat abholen lassen. Weiterhin verbreitet man das Gerücht, dass die Staatssicherheitsorgane bei der zweiten Hausdurchsuchung Belastungsmaterial »eingeschmuggelt« haben. Die FDJ-Dorfgruppe erklärte öffentlich, dass keiner mehr mitmachen wird, wenn der Lehrer nicht freigelassen wird.

Über die Zahlung von Weihnachtszuwendungen7 wird von Angestellten, die nicht mit unter diese Vergünstigung fallen, negativ diskutiert. Verschiedentlich droht man keine FDGB-Beiträge mehr zu zahlen. Reinmachefrau vom Magistrat von Groß-Berlin: »Ich bin der Meinung, dass wir mehr arbeiten müssen, wie die Reinmachefrauen in den Betrieben.«

Lehrer der 4. Grundschule in Berlin-Wilhelmsruh: »Es ist nicht richtig, dass wir kein Weihnachtsgeld bekommen, wir arbeiten mehr Stunden als die Arbeiter in den Betrieben und dafür haben sie extra noch Vorteile, wir werden lieber den Lehrerberuf an den Nagel hängen, um in einem Betrieb zu arbeiten, denn dort haben wir ein leichteres Leben.«

Angestellte der Stadtverwaltung Schlettau/Karl-Marx-Stadt: »Die Regierung hat aus dem 17. Juni noch nicht gelernt. Wir halten es jetzt nicht mehr für unsere Pflicht Gewerkschaftsbeiträge zu zahlen.«

Über die Aufhebung der Interzonenpässe8 wird unter der Bevölkerung stärker und allgemein negativ diskutiert. Dabei äußert man, hier könne die SU beweisen, ob sie für die Einheit ist oder ob sie nur Propaganda mache.

Lampenwärter aus Oberschlema/Karl-Marx-Stadt: »Es ist zu begrüßen, wenn sich die SU für Deutschland und den Frieden einsetzt. Wir können aber nicht verstehen, warum nicht erst einmal die Zonengrenzen fallen.«

Einwohner aus Großenlupnitz/Erfurt: »Die drüben haben es besser gemacht als die hier, sie ließen einfach die Interzonenpässe wegfallen und haben die Leute damit gewonnen. Ich bin gespannt, was der Russe nun auf diesen Vorfall hin machen wird.«

Einwohnerin aus Pasewalk/Neubrandenburg: »Ich habe auch noch in meinen alten Jahren den Mut, zu meiner Schwester nach Westdeutschland zu fahren. Wenn die SU auch noch etwas nachgeben würde, müssten doch endlich die Zonengrenzen fallen.«

Arbeiter im VEB Industriewerk Rauenstein/Suhl: »Es war immer die DDR, die versucht hat mit der Adenauer-Regierung durch Verhandlungen auf friedlichem Wege zur Einheit Deutschlands zu gelangen. Die im Westen haben sich jedoch nie darauf eingelassen, und jetzt haben sie wieder, ohne sich mit uns in Verbindung zu setzen, die Interzonenpässe abgeschafft. Dies soll ja nur dazu dienen, um Agenten und Saboteure auf diesem Wege in die DDR einzuschleusen.«

Über die Ausstellung der neuen deutschen Personalausweise wird in verschiedenen Fällen negativ diskutiert. Man erklärt dabei, dass dies nur eine unnötige Geldausgabe sei, dass man das Geld für die Fotografien den Rentnern erlassen sollte und dass die Wartezeit beim Fotografen zu lang sei.

Einwohnerin aus Berlin-Friedrichsfelde: »Die alten DPA sind noch gut und neue wären nicht nötig gewesen. Auch die lange Wartezeit beim Fotografen hat mir nicht gefallen und das Geld für die Bilder ist eine unnötige Ausgabe, besonders für die Rentner.« Einwohner aus Altenburg/Leipzig: »Die Kasse der VP ist leer, die brauchen wieder mal Geld.«

Organisierte Feindtätigkeit

Geringere Flugblatttätigkeit in den Bezirken Cottbus, Halle, Karl-Marx-Stadt, Rostock, Gera und in Berlin, stärker in Potsdam.

Dem HO-Kreisbetrieb Quedlinburg/Halle wurden mehrere gefälschte Kohlenbezugsscheine zugestellt.

Einschätzung der Situation

Über die Liquidierung der Feindgruppen wird, besonders in den Betrieben, wo Versammlungen mit Referenten des SfS durchgeführt wurden, positiv diskutiert, die Wachsamkeit erhöht und das Vertrauen zur Staatsmacht verstärkt. Die zunehmenden Diskussionen über die einseitige Aufhebung der Interzonenpässe durch die Westmächte zeigen, dass die in Rundfunk und Presse veröffentlichte Erklärung unserer Regierung von einem größeren Teil der Bevölkerung noch nicht richtig verstanden worden ist und deshalb die Maßnahme der Westmächte als Schritt für die Einheit Deutschlands bewertet wird. Die bekannten Mängel in Handel und Versorgung und die Schwierigkeiten in der Ablieferung der Hackfrüchte auf dem Lande machen sich weiterhin negativ bemerkbar.

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    [ohne Datum]
    Analyse vom 1. bis 15. November 1953 [Nr. 5/53]

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