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Gegen die DDR gerichtete Kettenbriefe im Bezirk Dresden

7. September 1956
Information Nr. 190/56 – Betrifft: Neue Methode des Gegners

Im Bezirk Dresden trat erstmalig ein »politischer Kettenbrief« in Erscheinung, der Hetze gegen die DDR enthält und die Empfänger aufruft Schweigemärsche durchzuführen. Der Inhalt des Briefes lautet:

»Versklavter, höre! | Die DDR ist das Produkt eines sich Wahlen nennenden ungeheuren Volksbetruges. Man hat uns nicht gefragt, welche Gesellschaftsordnung wir wollen. Die Abstimmung über die Enteignung der Kriegsverbrecher war kein Mandat für willkürliche Enteignung.1 Die Entscheidung über Praxis des Sozialismus kann nur von Gesamtdeutschland gefällt werden. Es gilt erst einmal frei zu werden. Angeblich wollen alle Deine Freiheit. Wolle sie endlich selbst.

Versklavter, denke mit! | Die Zonenverwalter haben unsere Wirtschaft zu einer asiatischen, nach rückwärts gerichteten Gesellschaftsordnung gemacht. Was in Asien richtig sein mag, braucht für uns nicht zu passen. Stalin hat vor 1933 einmal bekannt: Der Kommunismus passt für Deutschland wie der Sattel auf die Kuh. Selbstbewusste Intelligenz flüchtet in erschreckendem Maße, weil Gehorsam gegen das Gewissen zu untragbarer Belastung führt. Wer aus der Zone nicht flüchten kann, flüchtet aus der Verantwortung. Am 17. Juni hat die Zonenverwaltung die Russen auf dich schießen lassen. Können sich das die Sowjets noch einmal leisten? Die Zeiten haben sich ein wenig geändert.

Versklavter, wisse! | Du lebst in einem Zuchthaus, das sich DDR nennt. Nach außen die Friedenstaube, nach innen erbarmungslose Vernichtung jedes ideellen Gegners. Man fragt Dich scheinheilig ob Du den Frieden willst und schiebt Dir dann unter, Du wolltest das Zonenregime verteidigen. Die Entfaltung der breiten Demokratie2 ist eine Falle, um Gegner zu ermitteln. Schweige beharrlich, auch wenn es Dir schwer fällt. Vereinsame die Fallensteller. Sage im Verkehr mit Vorgesetzten und Parteibonzen immer ja und lächle.

Versklavter, erkenne! | Die alte Klassenordnung ist durch eine neue viel drückendere ersetzt. Selbstkritik wird zur Selbstbespeiung, helfende Kritik zur Bevormundung. Du bist eine Nummer im Plan, sollst nur die Fabrik und die Maschine lieben und glauben, dass die SED-Bonzen immer Recht haben. Erinnere Dich: Hitler und Stalin hatten auch immer recht bis zu ihrer Entlarvung.

Versklavter, rufe! | Ich verabscheue den Krieg, aber nicht den Kampf um Freiheit und Menschenrechte. Ich will weder ein kapitalistisches noch ein kommunistisches Deutschland. Ich will freie Wahlen zu einem Nationalkonvent. Ich will keiner paritätischen Doppelregierung Gelegenheit gegen die Vereinigung mit nichtigem Meinungsstreit noch jahrelang zu verhindern. [sic!] Ich will ein Deutschland mit hinreichendem Selbstschutz und verständigen politischen Grenzen. Ich will Frieden in Europa. Ich will auch Frieden mit den Russen.

Versklavter, handle! | Wenn eine Idee die Massen ergreift, wird sie zur materiellen Gewalt. Lasse Deinen Freiheitswillen zur materiellen Gewalt werden. Demonstriere schweigend jeden Mittwoch ab 19.00 Uhr zehn Minuten lang auf allen Straßen und Plätzen in Stadt und Land.

Zuerst bist du allein, aber jeden Tag werden es mehr. Bis die schweigende Menge zur unheimlichen wirkenden Masse wird. Opfere zehn Minuten in jeder Woche für die Freiheit. Werde furchtbar in Deinem Schweigen und in Deiner tadellosen Disziplin. Sei nur zehn Minuten schweigend auf der Straße. Dann werden Schleicher und Spitzel unfreiwillig zu Demonstranten. Handle nie gegen Dein Gewissen, auch in diesem Falle nicht. Verbreite die hier genannten Wahrheiten durch den politischen Kettenbrief. Schreibe diesen Brief der Gewaltlosigkeit selbst oder durch einen hilfreichen vertrauten Freund an fünf Adressen. Verwende nur Durchschläge. Kommt ein Brief zu Dir zurück schreibe fünf neue Annehmer. Lasse es Dich nicht verdrießen. Der Kettenbrief war einst eine Narrheit. Mache ihn zur politischen Waffe. | Unterschreibe wie ich mit | Terminus«.

  1. Zum nächsten Dokument Betreuer koreanischer Jugendlicher in Plauen

    8. September 1956
    Information Nr. 191/56 – Betrifft: Betreuer der koreanischen Jugendlichen, die als Lehrlinge bei der »Plamag« in Plauen/Vogtland arbeiten

  2. Zum vorherigen Dokument Einladungen zu Tagungen in der Bundesrepublik und in Westberlin

    7. September 1956
    Information Nr. 189/56 – Betrifft: Zusendung von Einladungen zu Tagungen nach Westdeutschland und Westberlin