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Kritische Stimmen zu Walter Ulbricht und anderen (3)

25. April 1956
Hetze gegen den Genossen Walter Ulbricht und andere (3. Bericht) [Information Nr. M90/56]

In der Zeit vom 19.4. bis 24.4.1956 wurde wiederum aus den Bezirken Leipzig, Frankfurt/O., Rostock, Karl-Marx-Stadt, Potsdam und aus der Wismut eine Anzahl Diskussionen bekannt, die sich in hetzerischer Weise gegen den Genossen Walter Ulbricht richten. Diese Diskussionen wurden vorwiegend von Mitgliedern der SED geführt. Im Einzelnen wurden folgende Argumente bekannt:

Bezirk Leipzig

Im VEG Reckwitz, [Kreis] Oschatz, erklärte der Betriebsleiter, Mitglied der SED, Folgendes: »Uns hat man zehn Jahre den Stalinismus eingeflößt und auf einmal stellt man fest, dass er kein Klassiker ist.1 Wenn früher jemand etwas gegen Stalin sagte, ging er nach Sibirien ab. So kamen viele in Russland ums Leben. In der DDR gibt es ähnliche Verhältnisse. Was Walter Ulbricht sagt ist maßgebend, und das ist auch Personenkult.«

Bezirk Frankfurt/O.

In Zepernick, [Bezirk] Frankfurt/O., erklärte das Mitglied der SED [Name, Vorname]: »Warum hat Ulbricht gerade den Diskussionsbeitrag auf der Berliner Bezirksdelegiertenkonferenz gegeben,2 denn er ist doch der Stalin der DDR.« In Klein Ziethen,3 [Kreis] Eberswalde, [Bezirk] Frankfurt/O., erklärte ein werktätiger Bauer: »Was hat denn die Partei für uns getan? Wir sind nur da, um Geld zu geben. Wir werden aber bald mit Euch anders verfahren. Wir sind freie Bauern und wollen nicht unter der Diktatur leben. Ihr wollt uns alle in die Kolchosen haben, aber da machen wir nicht mit.4 Wir wollen ›freie Wahlen‹ und dann werdet Ihr sehen, wer an die Regierung kommt.«

Bezirk Rostock

  • Der Bürgermeister von Eixen, [Kreis] Ribnitz[-Damgarten], [Bezirk] Rostock,5 Mitglied der SED, erklärte: »Die SED ist blasenkrank, sie hat die Schwäche, dass man nicht austreten kann. Zum anderen gibt es nach der Auswertung des XX. Parteitages der KPdSU in Eixen mehr Butter, denn die Stalinbilder werden entrahmt.«6

  • Ein Genossenschaftsbauer aus Ribnitz[-Damgarten], [Bezirk] Rostock, erklärte: »Man müsste Wilhelm Pieck die Flugblätter unter die Nase reiben, denn das ist die Wahrheit, was die drüben schreiben. Man liest so viel in der Zeitung, dass hier keine Flugplätze gebaut werden sollen, um den Frieden zu erhalten, doch sehen wir uns bloß den Flugplatz Garz an. Da wird immer mehr dran gebaut.«7

  • Ein Mittelbauer aus Schönwalde, [Kreis] Grimmen, [Bezirk] Rostock, sagte: »Man muss Stalins Fehler doch schon früher gesehen haben, es wagte sich aber keiner gegen Stalin etwas zu sagen und heute ist es genauso. Wenn jetzt jemand etwas gegen Ulbricht sagt, dann wird er sofort eingesperrt.«

  • Mehrere Studenten an der Universität Rostock erklärten: »Genosse Walter Ulbricht erklärte auf der Berliner Delegiertenkonferenz unter dem Gelächter der Genossen, dass die jungen Genossen in der Biographie Stalins besser Bescheid wüssten, als das ganze Politbüro, in praktischen Fragen aber würden sie glatt aufs Kreuz gelegt. Unsere Genossen Studenten sind mit diesen Ausführungen aber nicht einverstanden, sie stellen die Frage, ob nicht auch der Genosse Ulbricht und viele von denen, die über seine Worte in Heiterkeit ausbrachen, zu denen gehören, die Schuld daran waren, dass von den entsprechenden Instanzen des ZK derartige einseitige, vom Geist des Personenkultes getragene Schulungsdirektiven herausgegeben wurden.« Allgemein wird die Ansicht vertreten, dass Selbstkritik nicht zu den starken Seiten des Genossen Walter Ulbricht zu gehören scheint.

Bezirk Karl-Marx-Stadt

Im VEB Blema Aue erklärte ein Genosse: »Genosse Ulbricht ist lange in der SU gewesen und müsste wissen, dass wir uns in unserer Entwicklung nicht mit der SU vergleichen können. Müssen die Ausführungen auf dem XX. Parteitag unbedingt bei uns angewendet werden?«

Bezirk Potsdam

In der S-Bahn von Potsdam nach Berlin führten mehrere Frauen ein Gespräch. Dabei stellte eine die Frage: »Haben Sie schon gehört oder in der Zeitung gelesen, dass der Sekretärin von Grotewohl und einem Manne, der mit dieser Angelegenheit zusammenhängt, der Kopf kürzer gemacht wurde?« Darauf antwortete eine zweite: »Die wussten wohl zu viel und haben zu weit in die Papiere gesehen, deshalb wurden sie sicher beseitigt.«8

Aus Belzig, [Bezirk] Potsdam, wurde bekannt, dass frühere SPD-Mitglieder aus diesem Kreis zum Ausdruck bringen: »Die neuen Vorschläge zur Aktionseinheit sind nur eine neue Taktik der SED, um die SPD-Mitglieder besser unter Kontrolle zu haben.«9

Wismut

Im Schacht 235 Johanngeorgenstadt äußerte ein Schießmeister: »Die können mir alle mal den Buckel runterrutschen mit ihrem Gerede, ich glaube niemandem mehr was, am allerwenigsten dem Ulbricht. Gerade Ulbricht, der zweite Stalin, hat vor einiger Zeit versprochen, dass die Lebensmittelkarten wegfallen würden; einen Dreck hat er gehalten.«10

  1. Zum nächsten Dokument Stimmung zur III. Parteikonferenz der SED (12)

    25. April 1956
    III. Parteikonferenz der SED (12. Bericht) [Information Nr. M91/56]

  2. Zum vorherigen Dokument Stimmung und Lage in der Volkspolizei

    23. April 1956
    Stimmung und Lage in der VP [Information Nr. M94/56]