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Produktionsprobleme im Sprengstoffwerk Schönebeck

11. September 1961
Bericht Nr. 552/61 über einige Mängel im VEB Sprengstoffwerk Schönebeck/Elbe

Vorliegende Überprüfungsergebnisse aus dem Sprengstoffwerk Schönebeck/Elbe weisen auf erhebliche Mängel in der Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen sowie bei der Durchführung von Investitionsvorhaben hin.1 Da die Hinweise wesentliche Seiten des Betriebsgeschehens betreffen, macht sich eine Information durch das MfS über die Mängel und Schwächen erforderlich.

Im VEB Sprengstoffwerk Schönebeck werden ca. ⅔ des Sprengstoffbedarfs für den Erz-, Kali- und Schieferbergbau produziert.2 Die Stilllegung eines Betriebsteiles im Werk, hervorgerufen durch Explosion oder andere Havarien, würde zu einem volkswirtschaftlich nicht vertretbaren Produktionsausfall bei obengenannten Bedarfsträgern führen.

Die vorhandenen Produktionsanlagen haben ein Lebensalter von ca. 30 und mehr Jahren erreicht. Damit sind die für ein Sprengstoffwerk erforderlichen Sicherheitsgarantien nicht mehr gewährleistet.3 Die VVB UNIMAK veranlasste eine Überprüfung im Werk durch eine Expertenkommission4, in deren Ergebnis rund 200 Ausnahmegenehmigungen5 beim Ministerium des Innern und Ministerium für Nationale Verteidigung beantragt werden mussten, um die Sprengstoffproduktion aufrechtzuerhalten und weiterführen zu können. Die Ausnahmegenehmigungen beinhalten ca. 28 Abweichungen auf dem Gebiet der Produktion und Technologie und rund 170 Abweichungen hinsichtlich Gebäudeabständen6 und anderen baulichen Verhältnissen gemäß ASAO 202 A-M.

Die vorgenommenen Überprüfungen ergaben, dass im Betrieb eine Reihe weiterer Faktoren7 vorhanden sind, die die erforderliche Sicherheit für die Belegschaft und die Kontinuität des Produktionsablaufes nicht mehr gewährleisten. Bei Verletzung der grundsätzlichen Sicherheitsbestimmungen8 während des Produktionsablaufes ist die Aufrechterhaltung und Sicherung der Produktion und der Belegschaftsmitglieder nicht gegeben.

Dazu einige Beispiele:

Die Transportwege9 im Sprengstoffwerk bestehen aus einer festgewalzten Kies- und Schlackendecke10, die während der Regenperiode aufweichen und bei Trockenheit in erheblichem Umfang Staub verursachen. Die ASAO sieht dagegen eine feste Straßendecke zur Vermeidung von Erschütterungen bei Transporten explosiver Stoffe vor.11 Die Straßenverunreinigungen und Unebenheiten führen in der Zündhütchenherstellung und beim Sprengöltransport zu einer erhöhten Explosionsgefahr12.

Zur Herstellung und Verpackung von Zündhütchen wurde festgestellt, dass die überwiegende Zahl von Räumen keine vorschriftsmäßige Abdeckung und keinen weichen Fußboden besitzt. Die Sicherheitsinspektion des Betriebes konnte z. B. feststellen, dass ein wesentlicher Teil der Beschäftigten13 an dieser Anlage nicht in vollen Umfang über die notwendigen technischen und sonstigen Betriebserfahrungen verfügt14. Gleichzeitig muss darauf hingewiesen werden, dass nach Übernahme des Sprengstoffwerkes durch das Amt für Technik bzw. durch die VVB UNIMAK der Technischen Überwachung und dem Arbeitsschutz des Bezirkes Magdeburg die Kontrolle und Aufsichtspflicht über dieses Werk entzogen wurde.

Zur Sicherung einer laufenden und kontinuierlichen Versorgung der Produktion bei den Bedarfsträgern wurde die Notwendigkeit erkannt, neue Anlagen für die Sprengstoffproduktion zu errichten. Der im Wesentlichen hiervon betroffene Teil der Investitionen entfällt auf den Neubau einer TNT-Anlage. Dieses Vorhaben wurde bereits im Jahre 196215 begonnen, wiederholt unterbrochen und soll etwa ab 1962/63 produktionswirksam werden. Dieser unnatürlich lange Zeitraum der Fertigstellung des Objektes wird von Betriebsfunktionären damit begründet, dass bei der Projektierung immer wieder versucht wurde, neueste Erkenntnisse aus Wissenschaft und Technik zu verarbeiten, ohne dabei die Liefermöglichkeiten des Maschinenbaues der DDR real einzuschätzen und zu beachten.

Die vorgesehene Anlage gliedert sich in zwei Bautenreihen, wovon gegenwärtig nur eine der beiden Anlagenteile ausrüstungsmäßig für das diskontinuierliche Herstellungsverfahren ausgestattet werden soll. Der zweite Anlagenteil soll zu einem späteren Zeitpunkt mit Anlagen für die kontinuierliche Herstellungsweise von TNT-Sprengstoffen ausgerüstet werden, wobei zu beachten ist, dass gegenwärtig die Bedingungen in der Beherrschung der Verfahrenstechnik, Technologie und konstruktiven Gestaltung zunächst in einer Pilot-Anlage im Sprengstoffwerk erprobt werden. Die Versuche in der Pilot-Anlage sollen Anfang August 1961 begonnen haben.

Die im Bau befindliche16 diskontinuierliche Anlage stellt verfahrenstechnisch eine seit etwa 1917 bekannte und angewandte Methode der Sprengstoffherstellung dar.17 Das Investitionsvorhaben im Sprengstoffwerk Schönebeck entspricht daher nicht den Forderungen auf Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Höchststandes bei Neuinvestitionen18. Fachleute weisen besonders auf die Notwendigkeit hin, die neue Anlage mit gleicher Anzahl von Arbeitskräften und mit gleichschweren Arbeitsbedingungen anzufahren, wie sie in den alten bereits bestehenden Anlagen vorherrschen19.

Bei der Sicherung des Bauanteils für das Planjahr 196120 durch das Bezirksbauamt Magdeburg traten Schwierigkeiten21 auf. Für die Inbetriebnahme 1962 ist erforderlich, Bauhauptleistungen in Höhe von 1,7 Mio. DM im Planjahr 1961 zu verbauen. Die Bau-Union Magdeburg als bauausführender Betrieb wurde 1961 nur mit 1,1 Mio. DM Bauhauptleistungen beauflagt. Die verbleibenden 600 TDM Bauleistungen sollen durch die Baubetriebe des Kreises Schönebeck erbracht werden. Das Bezirksbauamt Magdeburg hat es jedoch verabsäumt, eine entsprechende Orientierung an das Kreisbauamt Schönebeck in die Plandirektive einzuarbeiten, sodass die 600 TDM Bauleistungen zzt. noch nicht abgesichert sind.

Als weiterer hemmender Faktor wirkten sich die Rückstände in der Auslieferung der Ausrüstungen22 aus. Obwohl sich der Hauptdirektor der VVB UNIMAK mit den Herstellungsfirmen in Verbindung setzte, stießen die Bemühungen nach rechtzeitigem Ausliefern der benötigten Aggregate und Anlagenteile immer wieder auf erhebliche Schwierigkeiten. Im Einzelnen fehlen immer noch Kabel (KWO/Berlin), Keilflachschieber (Karl-Marx-Werk/Magdeburg), nicht rostende Ventile, Rührwerke (Fischer & Schäfer/Dresden), Sauggullywagen (VEB Spezialfahrzeuge/Bln.-Adlershof), nicht rostende Rohre, Flansche, Messvorrichtungen (Fa. Kunze/Magdeburg).

Abschließend muss zum Gesamtvorhaben TNT-Anlage aufgrund von Bemerkungen geeigneter Fachleute darauf hingewiesen werden, dass das Vorhaben ohne exakte Ermittlung des zukünftig zu erwartenden Bedarfes an TNT-Sprengstoffen durchgeführt wird. Die Abnahme von TNT-Sprengstoffen z. B. durch den Bergbau soll rückläufige Tendenzen aufweisen. Ebenso ungewiss ist der in Zukunft zu erwartende Bedarf für den Export.

Weitere Investitionsvorhaben im Sprengstoffwerk sind die Anlage für die Sprengölherstellung und der Aufbau einer Trocknungsanlage für die Pulverherstellung. In beiden Teilanlagen bestehen folgende Probleme:

  • a)

    Anlage zur automatischen und kontinuierlichen Herstellung von Sprengöl:23

    Diese Anlage wurde 1952 auf »halblegalem Weg« von der Fa. Meißner/Köln bezogen. Nach 8-jähriger Lagerung24 erfolgte die Montage 1960 unter zeitweiliger Anleitung des aus Westdeutschland stammenden Ingenieurs [Name] (Fa. Meißner) durch Angehörige des Werkes Schönebeck. Die Fa. Meißner lehnte es ab, die Verantwortung bei Beginn der Erprobung und Anfahren der Anlage zu übernehmen. Außerdem fehlen zzt. die schriftlichen Sicherheitsbestimmungen und die Betriebsanleitung für diese Anlage von der Fa. Meißner.25 Gegenwärtig liegen Übersetzungen aus der VR Polen vor, die über die Arbeitsweise und Sicherheitsbestimmungen einer derartigen Anlage Auskunft geben. Daher wurden alle Anstrengungen, von der Fa. Meißner diese Unterlagen zu erhalten, eingestellt.

    Die im Stadium der Montage befindliche Anlage ist aufgrund ihrer kontinuierlichen Arbeitsweise gegen die Explosionsgefahr stärker geschützt. Aufgrund der obengenannten Umstände wird jedoch von Fachleuten die Auffassung vertreten, dass beim Anfahren der Anlage sich evtl. eine erhöhte Explosionsgefahr ergibt26. Eine Explosion in der Anlage gefährdet aufgrund ihres Standortes die alten zzt. in Betrieb befindlichen Anlagen der Sprengstoffherstellung, der Sprengkapselproduktion und den Filterraum. (Im Filterraum sickerten 1960 durch undichte Leitungen etwa 80 bis 100 kg Sprengöl in den Erdboden, wodurch die Explosionsgefahr noch vergrößert wird.)

  • b)

    Aufbau einer automatischen Sieb- und Trocknungsanlage zur Herstellung von Pulver für die Sprengstoffproduktion:

    Für diese Anlage wurden drei Doppelaggregate aus der VR Ungarn importiert, deren Montage ungarischen Spezialisten überlassen wird. Es wird bemängelt, dass durch eine derartige Verfahrensweise die werkseigenen Montage- und Reparaturkräfte für später notwendig werdende Reparaturen nicht mit den konstruktiven Eigenschaften im genügenden Umfang vertraut gemacht werden.

Die vorliegenden Hinweise verdeutlichen weiter, dass in der Absicherung des Objektes, in der Kontrolle und Erfassung der täglichen Produktion ernsthafte Mängel vorhanden sind.

Die unzureichende Arbeitsorganisation und die Mängel in der Arbeit der Meister gestatten es oftmals, unkontrolliert Munition und Sprengstoff während der Arbeitszeit zu entnehmen.27 Die Sicherheitskontrolle ist mangelhaft organisiert. Die gegenwärtige Praxis der Absicherung mithilfe von Siegeln ist oberflächlich, da die Möglichkeit gegeben ist, trotz der vorhandenen Siegel an die Bestände im Werk heranzukommen. Besonders besteht diese Möglichkeit für die auf dem Baugelände befindlichen Bauarbeiter.

In Anbetracht der aufgezeigten Mängel schlägt das MfS vor, die VVB anzuweisen, dass die Technische Überwachung Magdeburg wieder für die Überwachung als überbetriebliches Organ eingesetzt wird. Die VVB UNIMAK müsste entsprechend ihrer Verantwortung für die Bereitstellung der Mittel sorgen.

Es wäre weiter erforderlich, in diesem Objekt einen »Stellvertreter für Kader und Sicherheit« im Auftrage des MfS einzusetzen, der als Beauftragter – ähnlich wie bisher in der Luftfahrtindustrie – zu wirken hätte.

Zur Gewährleistung der Sicherung der Produktion und Produktionsergebnisse wäre eine Überprüfung der vorhandenen Bestände in den Fertigwarenlagern des Sprengstoffwerkes durch die VVB UNIMAK erforderlich.

Mielke [Unterschrift]

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    12. September 1961
    Bericht Nr. 522/61 über Mängel bei der Störfreimachung auf dem Gebiet der Pharmazie

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    10. September 1961
    Bericht Nr. 554/61 über die Situation aufgrund der Schutzmaßnahmen der DDR (Berichtszeit 8.9.–10.9.1961)