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Sicherheitslage im Bezirk Dresden

28. September 1961
Bericht Nr. 595/61 über die im Zusammenhang mit den Schutzmaßnahmen aufgetretenen politisch-operativen Schwerpunkte im Bezirk Dresden

I. Territoriale und objektmäßige Schwerpunkte

Im Bezirk traten als Schwerpunkte die Kreise auf, die im Einzelnen charakterisiert werden durch:

Dresden

  • Einen erhöhten Anfall von Delikten staatsfeindlichen Charakters in Form von

    • mündlicher Hetze, Schmierereien von Hetzlosungen, Verbreiten selbstgefertigter Hetzflugblätter, terroristischen Handlungen, Androhung von Tätlichkeiten und Widerstand gegen die Staatsgewalt im Stadtgebiet.

  • Sozialdemokratische sowie revisionistische Erscheinungen und Gruppierungen

    • im Stadtgebiet und objektmäßig in der Technischen Hochschule im Entwicklungswerk des VEB Vakutronik. Eine Reihe von Gruppierungen und Einzeltäter konnten aufgedeckt und zerschlagen werden.

    • Eine Konzentration ehemaliger Umsiedler im HO-Spezialhandel, welche in Diskussionen gegen die Schutzmaßnahmen und die Oder-Neiße-Friedensgrenze Stellung nahmen.

  • Nichterfüllung der ökonomischen Aufgaben in einer Reihe bedeutender Betriebe, wie

    VEB Kamera- und Kinowerk Dresden, wo:

    • Schwächen in der Leitungstätigkeit auftreten und sich vor allem in Unklarheiten über das Weltniveau der Fotoindustrie ausdrücken, eine Verzögerung der Forschung und Entwicklung neuer Kameratypen zeigen und damit im Zusammenhang der Exportplan nicht erfüllt wurde.

    • Eine Reihe ideologischer Unklarheiten, hauptsächlich unter den leitenden und mittleren Kadern über vorgenannte Erscheinungen bestehen, was in der Duldung von Missständen und Schlamperei in allen Produktionsbereichen seinen Ausdruck findet.

    VEB Transformatoren- und Röntgenwerk Dresden, wo:

    • ebenfalls der Forderung der Partei und Regierung auf rasche Entwicklung von Spitzenerzeugnissen nicht Rechnung getragen wurde. Als Folge tritt in Erscheinung, dass sich die Entwicklungskosten nicht amortisieren und westdeutsche Erzeugnisse gegenüber DDR-Erzeugnissen auf dem Weltmarkt vorgezogen werden.

      Ähnliche Erscheinungen sind im Schreibmaschinenwerk Dresden und Planeta Dresden-Radebeul.

  • Verschiedentlich Androhungen von Arbeitsniederlegungen in der Vergangenheit in einer Reihe von Betrieben

    vor allem des Bauwesens – um ungerechte soziale und Lohnforderungen durchzusetzen bzw. die verantwortlichen Funktionäre zu einer richtigen Organisierung der Arbeit und der Gewährleistung des Durchschnittslohnes zu zwingen.

    Aufgetretene Missstände in der Produktion wurden von Provokateuren teilweise ausgenutzt und führten zu zeitweiligen Arbeitsniederlegungen.

    In letzter Zeit waren derartige Anzeichen nicht festzustellen; jedoch ist die Möglichkeit durch das Vorhandensein negativer Konzentrationen in diesen Betrieben noch gegeben.

  • Hemmnisse in der sozialistischen Entwicklung in der Landwirtschaft im Landkreis Dresden, insbesondere bei Organisierung der genossenschaftlichen Arbeit und der Erfüllung des Staatsplanes:

    Objektmäßig trat weiterhin in Erscheinung der Güterbahnhof Dresden-Friedrichstadt in Form von

    • Feindtätigkeit durch organisierte Wagenaufläufe sowie Ladegutbeschädigungen in der Vergangenheit,

    • eine Transportgefährdung, wo durch grob fahrlässiges Handeln eines Rangiermeisters sowie Rangierers eine Gruppe von 37 Waggons aufeinanderfuhr, es zu Beschädigungen der Wagen und der Gleis- und Signalanlagen kam, die einen umfangreichen Sachschaden zur Folge hatten.

Bautzen

  • durch staatsfeindliche Tätigkeit in der Vergangenheit, insbesondere Brandstiftungen,

  • Anzeichen von sozialdemokratischen Erscheinungen,

  • erhöhten Anfall von Waffendelikten und Waffenfunden,

  • das Vorhandensein mehrerer jugendlicher Gruppierungen und Rowdygruppen.

Löbau

  • Anzeichen von sozialdemokratischen Erscheinungen,

  • das Auftreten staatsgefährender Propaganda und Hetze in den verschiedenartigsten Begehungsformen, vor allem im Zusammenhang mit der Wahl am 17.9.1961,

  • Schwierigkeiten in der sozialistischen Entwicklung der Landwirtschaft, insbesondere bei der Organisierung der genossenschaftlichen Arbeit und der Erfüllung des Staatsplanes,

  • eine objektmäßige Konzentration von ehemaligen Umsiedlern in der Zuckerfabrik, wo Diskussionen gegen die Schutzmaßnahmen und die Oder-Neiße-Friedensgrenze geführt werden.

Görlitz

  • terroristische Handlungen, Androhungen von Tätlichkeiten und Widerstand gegen die Staatsgewalt,

  • objektmäßig durch zwei Havarien im Kraftwerk »Völkerfreundschaft« in Berzdorf, wo es am 21. und 27.8.1961 jeweils zu einem Spannungszusammenbruch durch einen inneren Schaden des Spannungswandlers kam, wurden im Kraftwerk häufig Diskussionen geführt, die Zweifel an der Überlegenheit des sozialistischen Systems gegenüber dem kapitalistischen in sich tragen.

Pirna

  • Versenden von anonymen Briefen hetzerischen Inhalts,

  • Schmieren von faschistischen Losungen und Emblemen, vor allem im »VEB Kunstseidenwerk Siegfried Rädel«.

Meißen

  • Versenden von anonymen Briefen staatsfeindlichen Charakters,

  • terroristische Handlungen, Androhungen von Tätlichkeiten und Widerstand gegen die Staatsgewalt,

  • niedrige Erfüllung von Staatsplanpositionen.

Objektmäßig bilden weiterhin einen Schwerpunkt der

  • VEB Kombinat Erntebergungsmaschinen Neustadt/Sebnitz, in dem

    • Planrückstände auftreten,

    • Hetze in Form von Schmierereien und Diskussionen gegen die Erarbeitung neuer Normen sowie die Anwendung von Neuerer-Methoden1 zu verzeichnen waren.

    • VEB Federnwerk Zittau, wo die Taktstraße zeitweilig ausfiel. Es besteht der Verdacht der Diversion. Untersuchungen werden noch geführt.

    Freital

    • sozialdemokratische Erscheinungen, in deren Ergebnis bisher zwei Personen, die als Einzeltäter in Erscheinung traten, inhaftiert wurden,

    • ein liberales Verhalten in zwölf örtlichen Organen der Staatsmacht, indem die Weisung im Zusammenhang mit den Schutzmaßnahmen, nachts die Gemeindeämter zu besetzen, nicht befolgt wurde,

    • Auftreten eines Vorkommnisses im Edelstahlwerk »8. Mai«, dem Verdachtsmomente der Diversion zugrunde liegen. (Der Schieber der Walzenkühlung für die Walzenstraße wurde fast zugedreht, sodass sie wegen ungenügender Kühlung einige Zeit außer Betrieb gesetzt werden musste.)

    Riesa

    • Ein Ansteigen der Feindtätigkeit in Form des Schmierens von faschistischen Losungen sowie Hakenkreuzen, insbesondere im Stahl- und Walzwerk,

    • das Auftreten von feindlichen Handlungen während der Wahl am 17.9.1961.

Bevölkerungsmäßig traten als Täter staatsfeindlicher Handlungen im Bezirk seit dem 13.8.1961 besonders Rückkehrer, Erstzuziehende, ehemalige Umsiedler, parteiausgeschlossene, faschistische sowie kriminell vorbestrafte Elemente und Personen im Alter bis zu 25 Jahren in Erscheinung.

II. Bezirksmäßige Probleme, die als Schwerpunkt in Erscheinung treten

Der industrielle Sektor wird charakterisiert durch:

  • politische Sorglosigkeit von Teilen der Wirtschaftsfunktionäre, die im Zusammenhang mit den eingeleiteten Schutzmaßnahmen getroffene Festlegungen zur Sicherung der wirtschaftlichen Objekte und Gewährleistung der Produktion sehr zögernd in Angriff nahmen, wie beispielsweise im

    • Umspann- und Umspeicherwerk Niederwartha,

    • Gaswerk Dresden-Reick,

    • VEB Minol Dresden (zentrales Auslieferungslager für die Bezirke Dresden und Karl-Marx-Stadt),

    • VEB-Bau Bautzen,

      in denen entsprechende Maßnahmen erst auf Hinweise der Staatssicherheitsorgane eingeleitet wurden.

      In diesem Zusammenhang muss auf die Tatsache verwiesen werden, dass die politische Führungstätigkeit in mehreren wichtigen Objekten deshalb nicht gewährleistet war, weil sich Werkleiter, Parteisekretär und Kaderleiter gleichzeitig im Urlaub befanden (z. B. VEB Sprengstoffwerk Gnaschwitz, RAW Dresden, Grenzbahnhof Bad-Schandau).

  • Planrückstände in der Bruttoproduktion (Von insgesamt 1 355 sozialistischen und halbstaatlichen Betrieben haben erst ca. 800 ihren Plan anteilmäßig erfüllt.) und von Staatsplanpositionen (Von 1 091 beauflagten Betrieben haben 362 erfüllt.)

    Hauptsächlich sind Rückstände in der Staatsplanerfüllung in den Betrieben des Maschinenbaus vorhanden, in denen die Ursachen in

    • einer mangelhaften Organisation des Produktionsprozesses,

    • dem Vorliegen ungenügender Konstruktionsunterlagen,

    • vorhandenen Materialengpässen

      liegen.

      Ein besonders niedriger Erfüllungsstand liegt in den Kreisen Großenhain, Meißen und Niesky vor.

  • Exportrückstände (der durchschnittliche Erfüllungsstand per August 1961 liegt bei 91,4 %), die sich hauptsächlich auf die

    • VEB Robur Zittau,

    • Schreibmaschinenwerk Dresden,

    • Kamera- und Kinowerk Dresden,

    • Transformatoren- und Röntgenwerk Dresden,

    • Planeta Radebeul

      konzentrieren,

  • erhebliche Schwächen hinsichtlich der Störfreimachung auf dem Sektor des Maschinenbaus und der Elektrotechnik,

  • Rückstände in der Planerfüllung des Bauwesens

    besonders bei Investbauten, die ihre Ursache mit haben in der unzureichenden politisch-ideologischen Arbeit und der starken Kaderfluktuationen bei den Montagebaubetrieben,

  • ein ernsthaftes Missverhältnis zwischen Lohn- und Arbeitsproduktivität und die mangelhafte politisch-ideologische Arbeit der leitenden Organe des FDGB in dieser Beziehung,

  • eine schlechte politische Arbeit in den halbstaatlichen und privaten Betrieben des Bezirkes.

In der Landwirtschaft sind Schwerpunkte

  • die noch vorhandenen Austrittserklärungen aus LPG (Von den in letzter Zeit abgegebenen 900 Austrittserklärungen wird noch ein erheblicher Teil aufrechterhalten.),

  • die über 300 Einzelbauern mit über einem Hektar Bodenfläche,

  • die Bestrebungen für eine individuelle Arbeit von Mitgliedern der LPG, besonders im Landkreis Dresden und in den Kreisen Großenhain und Löbau.

Zum Wirken der Kirchenleitungen beider Konfessionen im Bezirk kann festgestellt werden, dass besonders die Superintendenten negativ auftragen. Dies spiegelt sich wider in der Tatsache, dass die Superintendenten bei Gesprächen mit Vertretern des Staatsapparates die Regierungsmaßnahmen ablehnten.

In der Regel verhielten sich auch so die Pfarrer beider Konfessionen – offensichtlich auf Betreiben der Superintendenten – und wobei insbesondere die Geistlichen der katholischen Kirche sich jeglicher öffentlicher Stellungnahme zu den Regierungsmaßnahmen enthielten. Bei der Wahl am 17.9.1961 war festzustellen, dass ein großer Teil der katholischen Pfarrer das Wahlrecht in Anspruch nahm, jedoch die Mehrheit der evangelischen Geistlichen eine Wahlbeteiligung ablehnte.

Ebenfalls blieb der größte Teil der Angehörigen der Sekte »Zeugen Jehovas« der Wahl fern.2

Im Bezirk existieren außerdem 454 Gruppen der »Jungen Gemeinde« mit etwa 13 000 Mitgliedern, die zum Teil einen negativen Einfluss auf andere Jugendliche ausüben.

III. Politisch-ideologische Schwerpunkte

Die Reaktion der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung des Bezirkes auf die Maßnahmen der Regierung vom 13.8.1961 ist als positiv einzuschätzen. In den Reihen der Landbevölkerung, besonders Teilen von Genossenschaftsbauern ist ein abwartendes bzw. passives Verhalten zu verzeichnen. Während der größte Teil der technisch-wissenschaftlichen Intelligenz aus der sozialistischen Industrie sich zustimmend verhielt, war bei einem Teil der wissenschaftlichen Intelligenz in den Forschungsinstituten festzustellen, dass sie mit ihrer Meinung zurückhalten oder negativ reagieren. Ebenfalls bezog ein Teil der medizinischen Intelligenz, vor allem der leitenden medizinischen Kader und der Angehörigen des Mittelstandes eine abwartende bzw. ablehnende Haltung.

Unter der Jugend wurde im Zusammenhang mit der Durchsetzung des Kampfauftrages festgestellt, dass die FDJ auf Teile von Jugendlichen keinen Einfluss hat und Jugendliche den Eintritt in die NVA ablehnten,3 wobei hauptsächlich Argumente auftraten wie:

  • Wir gehen nicht zur NVA, da wir die »Freiheit« lieben.

  • Wir wollen Geld verdienen.

  • Wir nehmen nie wieder ein Gewehr in die Hand.

  • Wir sind erst bereit, der NVA beizutreten, wenn die allgemeine Wehrpflicht eingeführt ist.

In allen Bevölkerungsschichten spielten die nachgenannten Argumente eine vorrangige Rolle:

  • Anstelle der Grenzsperrung in Berlin hätte man »freie Wahlen« unter internationaler Kontrolle durchführen sollen.

  • Die getroffenen Maßnahmen sind zu hart, man sollte keine Panzer einsetzen und keinen Stacheldraht ziehen.

  • Durch die Maßnahmen wird die Spaltung vertieft bzw. verewigt.

  • Agententätigkeit und Menschenhandel wären nicht so wie es durch Rundfunk und Presse dargestellt wird.

  • Die Maßnahmen dienen lediglich dem Zweck, die Entvölkerung der DDR zu verhindern.

  • Sie würden die Kriegsgefahr erhöhen bzw. einen Krieg heraufbeschwören.

Der Einfluss der westlichen Rundfunk- und Fernsehstationen bestand hauptsächlich unter Angehörigen der Mittelschichten, der Intelligenz und bei Genossenschaftsbauern.

Bei den bisher im Bezirk festgestellten 550 Anlagen (davon bisher ca. 300 demontiert)4 zum Empfang des Westfernsehens waren die Besitzer dieser Anlagen in der Mehrzahl Angehörige der Mittelschichten.

Das von westlicher Seite verbreitete Gerücht über einen bevorstehenden Geldumtausch führte Ende August zeitweilig zu einem hohen Einlagenzuwachs auf den Sparkassen (besonders von Konten des Mittelstandes und der Genossenschaftsbauern) und zu Angsteinkäufen wichtiger Grundnahrungsmittel sowie hochwertiger Industriewaren, in deren Folge jedoch keine ernsthaften Versorgungsschwierigkeiten entstanden.5

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