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Sicherheitslage in den »bewaffneten Organen«

2. Oktober 1961
Bericht Nr. 607/61 über einige Probleme zur Einschätzung des politisch-moralischen Zustandes der bewaffneten Kräfte der Deutschen Demokratischen Republik

Politisch-ideologischer Zustand

Bei der Erfüllung der Aufgaben im Zusammenhang mit den Schutzmaßnahmen vom 13.8.1961 hat der überwiegende Teil der Angehörigen der bewaffneten Kräfte politische Zuverlässigkeit und gute Einsatzbereitschaft bewiesen. Die übergroße Mehrheit begrüßte und unterstützte die von der Regierung der DDR beschlossenen Maßnahmen und hat mit Begeisterung und hoher Kampfmoral die von Partei und Regierung übertragenen Aufgaben konsequent erfüllt. Das kommt in einer breiten Verpflichtungsbewegung in allen Teilen der bewaffneten Kräfte zur weiteren Erhöhung der Einsatz- und Gefechtsbereitschaft und zur Verlängerung der Dienstzeit zum Ausdruck.

Die Verbundenheit der Angehörigen der bewaffneten Organe mit der Partei der Arbeiterklasse wird dadurch dokumentiert, dass zahlreiche Angehörige der NVA den Antrag zur Aufnahme als Kandidat in die SED stellten.

Trotz dieser positiven Erscheinungen gibt es aber im Zusammenhang mit den Maßnahmen vom 13.8.1961 unter den Angehörigen der bewaffneten Kräfte auch einige unklare und negative Diskussionen.

Die Äußerungen beweisen, dass es den dienstlichen Leitungen und Politorganen nicht immer gelungen ist, allen Genossen die Bedeutung der Sicherungsmaßnahmen verständlich zu machen bzw. den sichtbar werdenden Einfluss des Westrundfunks und -fernsehens zu zerschlagen. Das zeigen u. a. folgende hauptsächliche Richtungen in den Diskussionen:

  • Zweifel an der Richtigkeit der Politik unserer Regierung,

  • Unterschätzung der Gefährlichkeit des westdeutschen Militarismus,

  • Überschätzung der angeblichen Stärke des Westens und damit im Zusammenhang Angst vor einer evtl. kriegerischen Auseinandersetzung,

  • Unverständnis zu Maßnahmen und Anweisungen des MfNV zur Sicherung der Einsatzbereitschaft (Ausgangsbeschränkungen, Urlaubssperre),

  • Die Maßnahmen vom 13.8.1961 wären zu radikal und führten zur Verschärfung der politischen Situation in Deutschland.

  • Die ehem. Grenzgänger sowie die Westberliner Rowdys seien keine Feinde, deshalb könnte man gegen diese nicht mit Waffengewalt vorgehen.

Derartige Diskussionen traten besonders unter den Mannschaften auf, während aus den Kreisen der Offiziere nur vereinzelt Stimmen dieser Art bekannt wurden.

Bemerkenswert ist dabei, dass in vielen Fällen die negativen bzw. feindlichen Argumente sofort durch die Kollektive zerschlagen wurden. In den Einheiten der NVA nehmen weiterhin die Diskussionen über die Weiterverpflichtungen einen breiten Raum ein.

Dabei sind im Allgemeinen gute Ergebnisse festzustellen, die sich besonders darin zeigen, dass es bereits eine größere Anzahl von Einheiten gibt, in denen alle Angehörigen eine längere Verpflichtung eingegangen sind und in denen auch politische Klarheit über die Notwendigkeit des weiteren Dienstes in der NVA besteht.

Demgegenüber gibt es aber auch eine nicht unbedeutende Anzahl von Genossen, die sich entschieden gegen eine Weiterverpflichtung aussprechen und Zweifel über die Notwendigkeit der Weiterverpflichtung äußern. Dabei ist festzustellen, dass nur vereinzelt Begründungen für die ablehnende Haltung abgegeben werden, während der größte Teil derartige Erklärungen ablehnt.

In den Diskussionen über die Wiederaufnahme der Kernwaffenversuche durch die SU kommt zum Ausdruck, dass die Mehrheit der Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere die Notwendigkeit erkannt hat und richtig einschätzt, dass die Versuche zur weiteren Stärkung des sozialistischen Lagers und zur Erhaltung des Friedens beitragen. Vereinzelt aufgetretene Unklarheiten konnten meistens geklärt werden.

Einige typische Argumente:

  • Die SU hätte es nicht nötig gehabt, die Kernwaffenversuche wieder aufzunehmen. Ihr Vorsprung ist groß genug.

  • Durch diesen Schritt der SU würde das Wettrüsten nie ein Ende nehmen.

  • Durch die Wiederaufnahme der Kernwaffenversuche hätte sich die Kriegsgefahr verschärft.

  • Die SU spricht viel von Abrüstung, aber wenn es darauf ankommt, das Beispiel zu geben, würde sie neue Raketenversuche durchführen.

In Vorbereitung der Volkswahl am 17.9.1961 zeigten sich bei einem kleinen Teil der Angehörigen der NVA unklare, zum Teil negative Auffassungen, aus denen ersichtlich war, dass sie den demokratischen Charakter der Wahlen in der DDR noch nicht erkannt hatten und teilweise den feindlichen Einflüssen durch den Westrundfunk erlegen sind.

Folgende Argumente traten z. B. wiederholt auf:

  • Das Ergebnis der Wahl liegt [steht] schon von vornherein fest, da sowieso alle Kandidaten gewählt werden, auch wenn man die Kandidaten, die man wählen soll, nicht kennt.

  • Die Durchstreichung eines Wahlscheines ist nicht nötig, da dies persönliche Nachteile mit sich bringen würde.

  • Die Wahlen in der DDR sind keine freien Wahlen. Die Parteien können nicht ihr eigenes Programm vertreten.

Im Zusammenhang mit der Annahme des Verteidigungsgesetzes durch die Volkskammer wurden in vielen Einheiten der bewaffneten Kräfte Foren, Versammlungen und Aussprachen über den Inhalt des Gesetzes durchgeführt, in denen überwiegend positive Stellungnahmen dazu abgegeben wurden.1 Dabei wurden zahlreiche Verpflichtungen zur Erhöhung der Wachsamkeit und Einsatzbereitschaft eingegangen.

Häufig kam aber bei Offizieren und Mannschaften auch eine gewisse Enttäuschung über einzelne Bestimmungen des Verteidigungsgesetzes zum Ausdruck. Es wurden teilweise konkrete Maßnahmen zur sofortigen Einführung der Wehrpflicht, zu Fragen der Herbstentlassung und der Ausrüstung mit neuen modernen Waffen erwartet, was sich u. a. auch darin zeigte, dass in vielen Briefen an die Volkskammer von ganzen Einheiten, Zügen oder Gruppen die sofortige Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gefordert wurde.

Vereinzelt auftretende negative Stimmen über das Verteidigungsgesetz haben ihre Ursache vor allem in der noch ungenügenden Auswertung der Materialien der Volkskammersitzung.

Bei einem großen Teil der Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten des Kommandos Grenze im Bezirk Potsdam ist gegenwärtig die Übernahme der Einheiten der DGP durch die Bereitschaftspolizei Hauptgesprächsthema. Die bekanntgewordenen Diskussionen haben fast ausschließlich ablehnenden Charakter.

Nach bisherigen Feststellungen werden u. a. folgende hauptsächlichen Argumente dazu angeführt:

  • Die Traditionen der DGP, auf die ihre Angehörigen stolz sind, würden dadurch zerstört werden.

  • Es bestünde eine große Abneigung gegen die Bereitschaftspolizei, die von vielen Angehörigen der DGP als unzuverlässig angesehen wird.

  • Die Entlohnung bei der Bereitschaftspolizei sei zu gering.

Ähnliche Diskussionen wurden von den in Berlin eingesetzten Kräften bekannt, die teilweise der Übernahme der Bereitschaftspolizei durch das Kommando Grenze ablehnend gegenüberstehen. Aus dieser Einstellung heraus wurden eine Anzahl Entpflichtungsanträge und Versetzungsgesuche zur HVDVP abgegeben. Als Begründung für die Haltung wird angeführt:

  • dass die Dienst- und Ablösungszeiten bei den Grenzeinheiten sehr ungünstig wären,

  • dass die kasernierte Unterbringung die persönliche Bewegungsfreiheit einschränken würde.

In den Diskussionen über diese Fragen kommt mit zum Ausdruck, dass viele Genossen sich für die Laufbahn bei der Abteilung K, VK o. ä. entschieden hätten, was jetzt hinfällig geworden sei und worüber sie enttäuscht wären. Diese negativen Erscheinungen werden teilweise noch durch das Verhalten der Offiziere begünstigt, die diesen Diskussionen kaum entgegentreten, sondern selbst ähnlichen Auffassungen nachhängen.

Von vielen Angehörigen des Kommandos Grenze wird eine bessere Auswahl der Neueinstellungen allgemein und insbesondere für die Grenze empfohlen, um von vornherein einige Unsicherheitsfaktoren auszuschalten und den erhöhten Anforderungen im Grenzgebiet besser Rechnung tragen zu können.

Trotz dieser teilweise vorhandenen negativen Erscheinungen im politisch-ideologischen Zustand der NVA kann eingeschätzt werden, dass die Kampfmoral in allen Einheiten gut und die Einsatzbereitschaft aller Einheiten jederzeit gewährleistet ist.

Beachtenswert sind in diesem Zusammenhang lediglich noch eine Reihe von Einzelerscheinungen, dass NVA-Angehörige durch Einflüsse des Gegners feindliche Handlungen in Form von Hetze, Staatsverleumdung, Schmierereien u. a. begingen. Besonders nach dem 13. August war ein Ansteigen der Verbrechen in Form von staatsgefährdender Hetze und Propaganda und Staatsverleumdung zu verzeichnen.

Z. B. wurde am 12.9.1961 der Hauptmann Peters, Wilhelm, Leiter für Bewaffnung im PR 29 (9. PD), festgenommen, weil er westliche Druckerzeugnisse mit Hetze gegen die SU und die DDR unter Offizieren und Unterführern verbreitete.

Der am 28.8.1961 festgenommene Soldat [Name 1], AR 3, trat am 19.8. während des Politunterrichtes offen gegen die Sicherungsmaßnahmen und den Abschluss eines Friedensvertrages auf. In seinem Notizbuch führte er Aufzeichnungen feindlichen Inhalts mit der Forderung, »die Verbindung nach außen zu verstärken und einen neuen Tag X sorgfältig vorzubereiten.« [Name 1] hatte bereits wiederholt die Absicht geäußert zu desertieren und stand außerdem in Verbindung mit dem »Suchdienst« in Westberlin, um Näheres über den Verbleib seiner Eltern zu erfahren.

Vorkommnisse dieser Art sind aber Einzelerscheinungen, die keinen Einfluss auf die gesamte Einheit hatten, sondern von den Kollektiven schärfstens verurteilt wurden. Von den Kollektiven wurde häufig die Übergabe dieser Elemente an die Sicherheitsorgane gefordert. Die vereinzelt vorhandene feindliche Einstellung von NVA-Angehörigen kommt auch in den immer wieder auftretenden Hakenkreuzschmierereien in den Unterkünften zum Ausdruck.

Desertionen

Eine bemerkenswerte Entwicklung ist bei den Fahnenfluchten der NVA festzustellen. Während vom 1.1.bis 12.8.1961 62 Fahnenfluchten (3 Offiziere, 19 Unteroffiziere und 40 Soldaten) zu verzeichnen waren (Zunahme zum gleichen Zeitraum des Vorjahres ist 37,7 %), ist seit dem 13.8.1961 kein NVA-Angehöriger – ausgenommen Kdo. Grenze – desertiert. Die Ursachen der Desertionen lagen zum größten Teil in westlicher Beeinflussung, in Westverbindungen, Angst vor Strafe, Unlust zum Dienst u. Ä.

Selbstmorde

In der Zeit vom 1.1.bis 31.8.1961 traten in der NVA insgesamt 17 Selbstmorde auf, davon vier Offiziere (70 % im Alter von 18 bis 21 Jahren). Die Ursachen liegen vor allem in kriminellen Verfehlungen oder unmoralischem Lebenswandel, vereinzelt auch in Liebeskummer, Ehezerwürfnissen u. a.

Die betreffenden Personen haben aufgrund dieser Vorgänge eine für sie scheinbar ausweglose Lage gesehen und mangels Vertrauen nicht den Weg zu den Vorgesetzten oder zum Kollektiv gefunden. Häufig werden auch durch die Vorgesetzten, Partei- und FDJ-Organisationen nicht die richtigen Methoden und Mittel zur Erziehung und Hilfe für die jungen Menschen gefunden und angewandt. Nur wenig wird dabei berücksichtigt, dass es sich um junge, ideologisch, moralisch und charakterlich noch ungenügend gefestigte Menschen handelt.

Die Einflussnahme erstreckt sich meistens nur auf dienstliche Belange, während den persönlichen Fragen kaum Beachtung geschenkt wird.

Z. B. beging der Uffz.-Schüler [Name 2], JG 2/1. JD, am 18.5.1961 Selbstmord. Es war bekannt, dass [Name 2] seinen Dienst undiszipliniert versah, den Ausgang überschritt und sich bei anderen Soldaten ständig Geld auslieh. Er wurde mehrmals mit Arrest bestraft, und es wurden auch Aussprachen mit ihm geführt. Jedoch wurde nie nach den tieferen Ursachen des Verhaltens geforscht, sodass nicht bekannt war, dass sein unmoralischer Lebenswandel solche Ausmaße angenommen hatte und er zu 58 Mädchen Verbindungen unterhielt. Da er keinen Ausweg mehr fand und seine Vorgesetzten ihm auch keinen Weg zeigten, beging er Selbstmord.

Der Selbstmord des Gefr. [Name 3], MSR 7/7.PD, ist auf ähnliche Ursachen zurückzuführen. Neben persönlichen Zerwürfnissen mit seinen Pflegeeltern, Entlassungsgedanken usw. kam die Verbindung zu 40 Mädchen hinzu. Von diesen Faktoren hatten die Vorgesetzten ebenfalls keine Kenntnis.

In der Zeit nach dem 13.8.1961 kam es zu einem Selbstmord. Hptm. [Name A], Gehilfe für Jugendfragen in der Polit-Abteilung der 1. MSD, erschoss sich am 13.8.1961. In seiner Begleitung wurde ein von ihm geschriebener Zettel folgenden Inhalts gefunden: »Ich bin zu schwach und habe meine Arbeit nicht mehr geschafft«.

Verletzung der Wachsamkeit und Geheimhaltung

Eine unverantwortliche Sorglosigkeit und Vernachlässigung der Aufsichts- und Kontrollpflicht durch die zuständigen Dienstvorgesetzten zeigt sich vor allem in ungeklärten Verlusten von Waffen, Munition, GVS- und VVS-Dokumenten.

In diesem Jahr ist bisher ein ungeklärter Verlust von 16 Pistolen, zwei MPi, einem Karabiner, vier KK-Pistolen, einem KK-Gewehr, zwei Leuchtpistolen und einer großen Anzahl von Munition, Zünd- und Sprengmitteln zu verzeichnen.

Die Ursachen für zahlreiche Diebstähle und Verluste an Waffen und Munition liegen zum großen Teil in

  • einer unvorschriftsmäßigen Aufbewahrung und Lagerung,

  • ungenügender Bewachung und Absicherung der Waffenkammern und Munitionslager,

  • mangelhafter Führung der Nachweisbücher, Schießkladden und Bunkerbücher,

  • einem unverantwortlichen Umgehen mit den Waffen.

Die festgestellten Diebstähle und Verluste an Waffen und Munition beweisen, dass die bestehenden Befehle und Anweisungen noch nicht ausreichend wirksam sind und das politische Verantwortungsbewusstsein der zuständigen Offiziere noch nicht den Erfordernissen entspricht. Dazu kommt, dass die Aufklärung der Verluste oft durch zu späte Abgabe der Verlustmeldungen erschwert wird.

Die Untersuchungen der Waffen- und Munitionsverluste 1961 weisen insgesamt objektmäßig vier Schwerpunkte auf:

  • 1. MSD Potsdam – 2 Pistolen, 1 Leuchtpistole und 410 Schuss MPi-Munition,

  • 9. PD Eggesin – 33 Schuss MPi-Munition, 48 Schuss Pistolen-Munition, 246 Schuss KK-Munition, 4 Eierhandgranaten, 2 575 Gramm Sprengstoff »Trotyl«,

  • Volksmarine, 2. Abt. TS-Brigade Stralsund – 3 Pistolen mit Koppelzeug, 24 Schuss Pistolenmunition,

  • Volksmarine, 1. Flottille Peenemünde – 280 Schuss MPi-Munition.

Die gleichen Mängel bestehen in der Verwahrung und Verwaltung von VS-Dokumenten.

Vom 1.1. bis 31.8.1961 gingen in der NVA 31 VVS- und 13 GVS-Dokumente sowie 947 topografische Karten verloren. (Im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es 72 VVS-, 11 GVS-Dokumente und 5 topografische Karten.)

Die VS-Verluste haben zum großen Teil ihre Ursachen in:

  • der nicht korrekten Einhaltung der VS-Dienstvorschrift und im unsachgemäßen Umgang mit diesen Dokumenten,

  • der vereinzelt anzutreffenden »kollektiven« Verwaltung der Dokumente. Es fehlt an einer Verantwortlichkeit, und die VS-Dokumente werden ohne Unterschriftsgegenleistung weitergegeben.

  • unsachgemäßer Lagerung der Dokumente. Die innere Ordnung erschwert eine Übersicht und Kontrolle über die vorhandenen VS-Dokumente und führt zu Verlusten.

  • mangelhafter Aufbewahrung der VS-Dokumente beim Transport.

Durch die nachlässige Kontrolle der VS-Dokumente erfolgen Verluste, bei denen der Zeitpunkt des Verlustes und die Ursachen später nicht mehr geklärt werden können.

Bei den bisher aufgeklärten Verlusten von VS-Dokumenten konnte keine Feindtätigkeit nachgewiesen werden. Die Untersuchungen lassen jedoch die Einschätzung zu, dass das VS-Wesen im Allgemeinen, vor allem aber von den leitenden Offizieren, unterschätzt wird.

Die Verletzung der Geheimhaltung durch Angehörige der NVA

trat besonders im Zusammenhang mit den Schutzmaßnahmen vom 13.8.1961 in Erscheinung. Bereits am 10.8.1961 schrieben Angehörige der 1. MSD, dass sie neue Waffen bekommen hätten, dass die Panzer mit scharfer Munition aufmunitioniert werden usw.

In den Briefen der nächsten Tage folgten Mitteilungen über die Auslösung der Alarmstufe I und II sowie über Einsatzorte. Diese Art der Verletzung von Dienstgeheimnissen hält zzt. noch an und zeigt, dass die Polit-Organe und Leiter der Diensteinheiten noch nicht genügend wirkungsvoll in der Erziehung zur Geheimhaltung und Wachsamkeit auf die Soldaten und Unterführer eingewirkt haben, sondern diese Frage unterschätzen. Da die Kontrolle über diese Formen der Geheimnisverletzung besonders schwierig ist, sollte bei künftigen Aktionen in Erwägung gezogen werden, durch kurzfristige Postsperre derartige, die Aktion gefährdende Mitteilungen zu verhindern.

In mehreren Fällen zeigten sich auch solche Erscheinungen, dass die Geheimhaltung in Gesprächen mit außenstehenden Personen verletzt wurde. Aus diesen Gründen mussten NVA-Angehörige inhaftiert und gegen sie Verfahren gemäß § 38 des StEG2 eröffnet werden.

Erwähnenswert ist die Tatsache, dass die Anzahl der besonderen Vorkommnisse, die sich hemmend auf die schnelle Erhöhung der Gefechtsbereitschaft auswirken, seit dem 13.8. wesentlich zurückgegangen ist und sich auf einzelne Fälle von

  • unerlaubter Entfernung vom Einsatzort und übermäßigem Alkoholgenuss,

  • nicht zeitgerechter Ausführung von Befehlen und

  • fahrlässigem Umgang mit der Schusswaffe

beschränkt.

NVA-Kommando Grenze

Die Einheiten des Kdo. Grenze entlang der Staatsgrenze West und am westlichen Außenring von Berlin sind, besonders nach dem 13. August 1961, dem direkten gegnerischen Druck ausgesetzt. Obwohl von Westdeutschland und Westberlin aus mit allen Mitteln versucht wurde, das Bewusstsein der Grenzsicherungskräfte negativ zu beeinflussen und die Einheiten zu zersetzen, kann eingeschätzt werden, dass die Einsatz- und Kampfbereitschaft der Verbände des Kdo. Grenze im Wesentlichen gesichert ist.

Bestimmte Anzeichen für die Wirksamkeit der feindlichen politisch-ideologischen Beeinflussung zeigen sich jedoch in der hohen Anzahl von Grenzdurchbrüchen, Fahnenfluchten, Verletzungen der Geheimhaltungspflicht und anderen besonderen Vorkommnissen, die sich gegen die militärische Disziplin und Ordnung richten.

Die Ursachen für die häufigen Grenzdurchbrüche liegen z. T. darin, dass die Grenzposten nicht entsprechend ihres Kampfauftrages handeln, die Wachsamkeit verletzen, taktisch falsch vorgehen und ihr Verhalten an der Grenze nicht auf die vorhandene politische Lage einstellen.

Weitere Ursachen sind darin zu sehen, dass einige Offiziere der Linieneinheiten die Lage im Grenzgebiet nicht richtig einschätzen und ungenügende oder unzweckmäßige Entschlüsse in der Organisierung der Grenzsicherung treffen. Ernsthafte Schwächen zeigen sich in der Einhaltung der Geheimhaltungspflicht. Teilweise begünstigt durch den engen Kontakt zur Bevölkerung der Grenzgebiete ist festzustellen, dass besonders von Angehörigen des Kdo. Grenze leichtfertig Angaben über Grenzsicherungssystem, Ausbildung, Einsatzbereitschaft, Ausrüstung, Festnahmen usw. über Zivilpersonen gemacht werden, vereinzelt in abenteuerlicher und übertriebener Darstellung.

Desertionen

Im Vergleich zur NVA und Bereitschaftspolizei hat das Kdo. Grenze die höchste Zahl an Fahnenfluchten. Während 1960 insgesamt 145 Fahnenfluchten zu verzeichnen waren, sind es vom 1.1. bis 15.9.1961 173 Fahnenfluchten. (2 Offz., 25 Unterführer und 146 Soldaten)

Davon wurden allein in der Zeit vom 13.8. bis 15.9.1961 38 Angehörige der Grenztruppen, darunter 4 Unterführer, fahnenflüchtig.

Besonders muss auf das Ansteigen der Gruppenfahnenfluchten hingewiesen werden.

  • 1. Halbjahr 1960: 6 mit 13 Beteiligten,

  • 1. Halbjahr 1961: 16 mit 34 Beteiligten.

Z. B. wurden am 24.8.1961 die GP-Angehörigen Obermatrose [Name 4], Obermatrose [Name 5] und Matrose [Name 6] fahnenflüchtig, nachdem sie die restlichen Besatzungsmitglieder des KS-G-423 durch Anwendung der Schusswaffe gezwungen hatten, einen westdeutschen Hafen anzulaufen. Die Untersuchung der Ursachen ergab, dass die drei Deserteure ständig westliche Sender hörten und für die westliche Lebensweise und Unkultur schwärmten. Den politischen Argumentationen der Vorgesetzten schenkten sie keinen Glauben und bestärkten sich gegenseitig in ihrer negativen Einstellung.

Den größten Anteil an den Desertionen haben die Grenzbereitschaften Nordhausen und Eisenach mit je zwölf Fahnenfluchten.

Zu den Ursachen für die hohe Anzahl von Fahnenfluchten aus den Grenzsicherungsorganen ist zu bemerken, dass ein großer Teil auf die ungenügende Wirksamkeit der politischen Erziehungsarbeit und die z. T. mangelhafte militärische Disziplin und Ordnung in den Grenzeinheiten zurückzuführen ist. In der Erziehungsarbeit wurden die besondere Lage an der Grenze und die begünstigenden Umstände für Fahnenfluchten nicht genügend berücksichtigt und die Gefahren der ständigen politisch-ideologischen Beeinflussung durch den Gegner unterschätzt.

Bei der Untersuchung der Ursachen der Fahnenfluchten wurde festgestellt, dass ca. 25 % der Fahnenflüchtigen Hörer westlicher Rundfunkstationen waren und 40 % der Deserteure Verwandte in Westdeutschland hatten. Weitere Feststellungen besagen, dass ein großer Teil der Fahnenfluchten unter Alkoholeinfluss erfolgte und ca. 10 % der Deserteure die Flucht gründlich vorbereitet hatten.

Die Anzahl der besonderen Vorkommnisse war relativ gering und hatte in ihrer Gesamtheit keinen Einfluss auf den politisch-moralischen Zustand der Einheiten des Kdo. Grenze.

Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um Einzelfälle

  • unerlaubter Entfernung vom Einsatzort, verbunden mit übermäßigem Alkoholgenuss,

  • nicht zeitgerechter Durchführung von Befehlen (in geringem Ausmaß) sowie des fahrlässigen Umgangs mit der Schusswaffe.

Diese Vorkommnisse sind im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass die militärische Disziplin und Ordnung in einigen Einheiten des Kdo. Grenze nicht voll gewährleistet war und die militärisch-politische Führungstätigkeit durch einige Kommandeure und verantwortliche Offiziere nicht konsequent genug durchgesetzt wurde.

Bei den Waffenverlusten innerhalb der NVAKdo. Grenze – bildet die 3. Grenzbrigade Erfurt einen besonderen Schwerpunkt mit 40 % aller Waffenverluste.

Im Einzelnen handelt es sich dabei um folgende Verluste:

  • 1 Pistole,

  • 1 KK-Pistole,

  • 120 Schuss MPi-Munition und

  • 30 Schuss Karabiner-Munition.

Bezeichnend ist, dass innerhalb der 3. Grenzbrigade die Grenzbereitschaft Eisenach, die als Schwerpunkt bei Fahnenfluchten in Erscheinung tritt, gleichfalls als Schwerpunkt für Waffenverluste anzusehen ist.

Es fehlen:

  • 1 KK-Pistole,

  • 30 Schuss MPi-Munition und

  • 30 Schuss Karabiner-Munition.

Bereitschaftspolizei

Die im Raum Berlin eingesetzten Einheiten der Bereitschaftspolizei waren maßgeblich an der Durchführung der Schutzmaßnahmen beteiligt und hatten die Hauptaufgaben zu lösen. In dieser Eigenschaft waren sie den Angriffen des Gegners, insbesondere der systematischen ideologischen Beeinflussung unmittelbar ausgesetzt. Es kann jedoch eingeschätzt werden, dass die Einheiten der BP im Wesentlichen ihre Aufgaben erfüllt und, mit Ausnahme einiger politisch-ideologischer Zersetzungserscheinungen, die sich in verstärkten Fahnenfluchten zeigten, auch politisch Zuverlässigkeit und Einsatzbereitschaft bewiesen haben.

Gewisse Konzentrationen negativer Erscheinungen, die auf den verstärkten Druck des Gegners zurückzuführen sind, gab es vor allem in der 1. mot. Brigade Berlin und in der Lehrbereitschaft Potsdam. In diesen Einheiten waren auch die meisten Fahnenfluchten zu verzeichnen. Insgesamt wurden bis 15.9.1961 aus der Bereitschaftspolizei 84 Angehörige fahnenflüchtig.

In der Zeit vom 13.8. bis 15.9.1961 wurden 69 BP-Angehörige fahnenflüchtig.

  • 1. mot. Brigade Berlin – 40 Angehörige,

  • Lehrbereitschaft Potsdam – 13 Angehörige,

  • 9. Bereitschaft – 8 Angehörige,

  • 4. Bereitschaft – 5 Angehörige,

  • 3. Bereitschaft – 2 Angehörige,

  • 8. Bereitschaft – 1 Angehöriger.

In der Mehrzahl erfolgten die Fahnenfluchten vom Postendienst aus bzw. während der Durchführung von Pionierarbeiten.

Die Untersuchung der Ursachen der Fahnenfluchten ergab, dass der größte Teil der desertierten Angehörigen der BP der systematischen ideologischen Zersetzungstätigkeit und Abwerbung des Gegners erlegen ist. Dazu kommt, dass es sich überwiegend um junge, politisch noch unerfahrene und nicht gefestigte Kader handelt, die teilweise erst seit Wochen in der BP ihren Dienst verrichteten und in vielen Fällen noch nicht vereidigt waren.

Einige der Fahnenflüchtigen äußerten bereits vor und während des Transportes nach Berlin Fahnenfluchtabsichten oder unterhielten Verbindung zu Verwandten und Bekannten in Westberlin und Westdeutschland.

Häufig gingen den Desertionen Verbindungsaufnahmen mit Westberlinern, teilweise der Stupo, dem Zoll usw. voraus, wobei einzuschätzen ist, dass keine genügende Kontrolle zur Unterbindung derartiger Kontakte organisiert und kein energischer Kampf gegen liberales Verhalten von Angehörigen der BP geführt wurde. Diese negativen Erscheinungen wurden u. a. am Beispiel der Fahnenflucht der BP-Angehörigen [Name 7] und [Name 8] sichtbar, die bei Ausübung ihres Postendienstes am 28.8.1961 fahnenflüchtig wurden. Die beiden Verräter führten an der Grenze ein längeres Gespräch mit zwei männlichen Personen, die sich auf Westberliner Gebiet befanden.

Nach dieser Unterhaltung fragten [Name 7] und [Name 8] die Nachbarposten, ob sie schießen würden, wenn sie beobachten, dass BP-Angehörige flüchtig werden. Beide Postenpaare der Nachbarbereiche gaben daraufhin keine konkrete Antwort. [Name 7] und [Name 8] wurden anschließend fahnenflüchtig.

Zu den Ursachen der Fahnenfluchten von Bereitschaftspolizeiangehörigen muss weiter erwähnt werden, dass die Einheitsleitungen und Politorgane teilweise nicht konsequent entsprechend militärischen Grundsätzen und der vorhandenen Lage gearbeitet haben und die Notwendigkeit einer verstärkten politisch-ideologischen Erziehungsarbeit unterschätzten. Begünstigt wurden diese Erscheinungen durch Mängel in der Führungstätigkeit übergeordneter Leitungen und durch die Vernachlässigung der Kontrolle seitens der Offiziere und Unteroffiziere. Dazu gibt es solche Hinweise, dass die Posten keine politischen Informationen erhielten und oft nicht einmal ihre Vorgesetzten kannten.

Außer der größeren Anzahl von Fahnenfluchten kam es in den Einheiten der BP auch zu einigen negativen Vorkommnissen, die jedoch keinen allgemeinen Charakter annehmen und sich nicht auf den Gesamtzustand der BP auswirkten. Der Ltn. [Name 9], 3. Bereitschaft, musste mit Arrest bestraft werden, weil er sich gegenüber der Einheitsleitung von seiner Frau verleugnen ließ und nicht, wie aufgefordert, sofort, sondern erst Stunden später zur Dienststelle kam.

Gegen den bestehenden Befehl verstoßend entfernten sich am 27.8.1961 acht BP-Angehörige aus dem Objekt der 1. mot. Brigade, wobei einer beim Übersteigen des Objektzaunes vom Wachtposten durch drei gezielte Schüsse schwer verletzt wurde.

Bei einer sofortigen Kontrolle wurde festgestellt, dass insgesamt 16 BP-Angehörige dieser Einheit fehlten. Alle 16 BP-Angehörigen – der größte Teil war betrunken – konnten im Standortbereich aufgefunden werden. Diese und andere noch aufgetretenen Einzelbeispiele lassen jedoch keine Verallgemeinerung zu.

Unter Berücksichtigung dieser negativen Erscheinungen im politisch-moralischen Zustand kann jedoch insgesamt eingeschätzt werden, dass die große Mehrheit der BP-Angehörigen bisher die Kampfaufgaben zuverlässig und konsequent gelöst hat.

  1. Zum nächsten Dokument Sicherung der DDR-Westgrenze (1)

    3. Oktober 1961
    1. Einzel-Information Nr. 613/61 über die Durchführung der Maßnahmen zur Festigung der Staatsgrenze West

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    30. September 1961
    [Einzel-Information] Nr. 608/61 über die Verletzung des Luftraumes der DDR