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Einleitung 1963

Einleitung 1963
Georg Herbstritt

1. Zeitgeschichtlicher Hintergrund

»Aufbruch nach Utopia« lautet der Titel eines Buches, in dem der Berliner Historiker Stefan Wolle kenntnisreich und anschaulich, kritisch und doch mit viel Witz die Geschichte der DDR zwischen 1961 und 1971 erzählt.1 Sein Buchtitel bringt eine Stimmungslage jenes Jahrzehnts auf den Punkt, die in der DDR und weit darüber hinaus von Aufbruchstimmung, Optimismus, Fortschrittsglauben und großen Zukunftserwartungen geprägt war. Auf das Jahr 1963 trifft diese Charakteristik in besonderem Maße zu. Das Jahr 1963 gehört zudem zu den entscheidenden Wegmarken in der Geschichte des Kalten Krieges und der deutschen Teilung, auch wenn es in der Erinnerungskultur keinen herausragenden Platz gefunden hat.

1.1 Entspannungspolitik: »Wandel durch Annäherung«

Im Jahr 1963 setzte ein Entwicklungsprozess ein, der die darauffolgenden zweieinhalb Jahrzehnte bis 1989 nachhaltig prägen sollte: die Entspannungspolitik. Anläufe dazu gab es zwar auch schon davor, doch 1963 verbanden sich Konzepte und programmatische Ansätze endlich mit konkreten praktischen Schritten, die sowohl der westlichen wie der östlichen Seite abverlangten, bisheriges Verhalten zu revidieren, und die Langzeitfolgen zeitigten.

Egon Bahr schuf in jenem Jahr den Begriff »Wandel durch Annäherung«, der zu einer griffigen Formel für ein neues Verhältnis der beiden deutschen Staaten werden sollte. Nach dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 hatte die Politik der Konfrontation offenkundig in einer Sackgasse geendet. Bahr wollte weg von einer Politik des »Alles oder nichts«, die ausschließlich den Sturz der SED-Herrschaft verfolgte, hin zu einer Politik der kleinen Schritte, der gegenseitigen Öffnung. Er interpretierte den Mauerbau nicht nur als Zeichen der Schwäche, sondern auch als Ausdruck eines »Selbsterhaltungstriebes« des SED-Regimes. Deshalb sollte die westliche Seite der SED-Führung »gewisse berechtigte Ängste nehmen«, damit das Risiko einer »Auflockerung der Grenzen und der Mauer« erträglich würde. Der Status quo könne am besten überwunden werden, indem er zunächst einmal nicht verändert werde. Zunehmende Spannungen würden hingegen nur die Position Walter Ulbrichts stärken.2

Egon Bahr, der dieses Konzept am 15. Juli 1963 in der Evangelischen Akademie Tutzing vortrug und bei dieser Gelegenheit erstmals vom »Wandel durch Annäherung« sprach, war zu dieser Zeit Leiter des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlin und somit kein politischer Entscheidungsträger. Doch er war ein enger Vertrauter des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt. Auch Brandt sprach damals in Tutzing. Er drückte sich vorsichtiger aus, plädierte aber ebenfalls dafür, das »Sicherheitsbedürfnis des Ostens an[zu]erkennen« und zugleich den Austausch zwischen Ost und West auf möglichst vielen Gebieten zu fördern. Dadurch würden beide Seiten aufeinander einwirken, doch Brandt zeigte sich selbstbewusst und zuversichtlich, dass das westliche System trotz aller Mängel die größere Anziehungskraft besitze: »Freiheit ist stark«.3

Brandt und Bahr beriefen sich ausdrücklich auf US-Präsident John F. Kennedy. Dieser hatte am 10. Juni 1963 in einer viel beachteten Rede in der »American University« in Washington eine »Strategie des Friedens« vorgestellt. Um den Frieden langfristig zu erhalten, sprach sich Kennedy nicht nur für umfassende Rüstungskontrollen aus, sondern er verlangte auch im Westen ein Umdenken. Das beinhaltete für ihn unter anderem, die »Einstellung […] zur Sowjetunion, zum Verlauf des Kalten Krieges […] zu überprüfen«. Er stellte ein gemeinsames Interesse der USA und der Sowjetunion an einem »gerechten und wirklichen Frieden« fest. Um diesem Ziel näher zu kommen, schlug er eine »bessere Verständigung« zwischen den beiden Supermächten vor, die dann »vermehrte Kontakte und Verbindungen erfordern« würden.4 Kennedys Rede, so der Historiker Bernd Stöver, bildete den amerikanischen Gegenentwurf zum sowjetischen Konzept der »Friedlichen Koexistenz« und stellte dieses zugleich vor eine ernsthafte Bewährungsprobe.5

Egon Bahr hatte auf jeden Fall erkennbare politische Rückendeckung für seine damaligen Vorschläge, auch wenn er seine Tutzinger Rede als politischen »Versuchsballon« charakterisierte.6 Nicht ohne Grund fand seine Rede viel Beachtung und löste kontroverse Reaktionen aus.

Auch die SED sah sich veranlasst, darauf zu reagieren, und es fiel ihr erkennbar schwer, eine eindeutige Position dazu zu formulieren. Das zeigt bereits ein Blick in das SED-Zentralorgan »Neues Deutschland«. Schon am 19. Juli 1963 zitierte das Blatt Auszüge der Tutzinger Rede Egon Bahrs und bescheinigte ihm, er habe über »Möglichkeiten eines Umdenkens« gesprochen.7 Der stellvertretende Chefredakteur des »Neuen Deutschlands«, Günter Kertzscher, kommentierte dann am 25. Juli 1963 unter der Überschrift »Überreif« eher spöttisch, Bahrs Überlegungen seien »keine sehr konsequenten und weitreichenden Gedanken, aber immerhin Gedanken«.8 Am 10. Dezember 1963 schrieb Kertzscher schließlich positiv über den »Geist von Tutzing« und charakterisierte ihn als den »ganz vorsichtige[n] Beginn des notwendigen Umdenkens«.9 Auch der Chefideologe der SED Kurt Hager begrüßte im September 1963 Bahrs Konzept eines »Wandels durch Annäherung«, da es eine Abkehr von den Positionen der konservativen »Scharfmacher« bedeute und mit der Bereitschaft einhergehe, sich auf eine »realistische Einschätzung der Lage Westberlins« einzulassen.10 In einem damals veröffentlichten Bericht des SED-Politbüros an das Zentralkomitee im Februar 1964 wurde die Formel »Wandel durch Annäherung« als Ausdruck einer neuen Politik eingeschätzt und dazu erklärt: »Wir begrüßen jedes derartige Überdenken der bisherigen Politik der Bonner Regierung.«11

Die SED-Führung registrierte gleichwohl, dass der »Wandel durch Annäherung« auch eine offensive Komponente besaß. Denn Bahr hatte in Tutzing auch dargelegt, dass sein Konzept auf Veränderungen der kommunistischen Herrschaft abziele und er darauf vertraue, dass sich die westliche Welt »durchsetzen wird«.12 Diesen Aspekt griff Kurt Hager im März 1964 in einer Rede auf und setzte den »Wandel durch Annäherung« warnend mit »ideologischer Diversion« gleich, also mit dem Versuch des Westens, durch freiheitliche Ideen auf den Osten einzuwirken und dort allmählich eine Liberalisierung zu erreichen.13

Seit den 1990er-Jahren wird in der Literatur gerne kolportiert, der damalige 1. stellvertretende Außenminister der DDR Otto Winzer habe Bahrs Konzept als »Aggression auf Filzlatschen« bezeichnet. Doch für dieses Zitat gibt es keinen Beleg.14 Und es ist in seiner ablehnenden Tendenz irreführend, wie schon der Blick in das »Neue Deutschland« gezeigt hat. Auch andere Quellen offenbaren einen durchaus differenzierten Blick innerhalb der SED auf die Tutzinger Reden von Bahr und Brandt.15

Und es blieb 1963 nicht mehr nur bei Reden und Konzepten, sondern die Politik der kleinen Schritte nahm konkrete Gestalt an. Für alle Welt sichtbar geschah das mit der ersten Passierscheinvereinbarung, die die Regierung der DDR und der Senat von Berlin nach einer längeren Sondierungsphase innerhalb weniger Tage am 17. Dezember 1963 abschlossen. Sie erlaubte den Bürgerinnen und Bürgern Westberlins erstmals seit dem Mauerbau wieder die Einreise nach Ostberlin, wenngleich auf den Zeitraum vom 19. Dezember 1963 bis zum 5. Januar 1964 beschränkt und nur zum Besuch naher Verwandter. Rund 730 000 Personen und somit ein Drittel der Bevölkerung Westberlins machten von dieser Möglichkeit Gebrauch.16 Weitgehend unsichtbar blieb damals noch eine andere deutsch-deutsche Abmachung: Im Herbst 1963 kam es zum ersten Häftlingsfreikauf. Die DDR entließ acht politische Häftlinge aus den Gefängnissen, wofür die Bundesregierung 205 000 D-Mark an die DDR bezahlte.17

Diese Abmachungen wurden möglich, weil beide Seiten fair verhandelten, pragmatisch vorgingen, einen Erfolg wünschten und strittige Statusfragen geschickt ausklammerten.18 Das Protokoll der Passierscheinvereinbarung vom 17. Dezember 1963, das seitens der DDR von Staatssekretär Erich Wendt und seitens des Berliner Senats von Senatsrat Horst Korber unterschrieben wurde, enthielt den Passus: »Beide Seiten stellten fest, dass eine Einigung über die Orts-, Behörden- und Amtsbezeichnungen nicht erzielt werden konnte.«19 Infolge dessen wurde der östliche Teil Berlins in dem Protokoll stets als »Berlin (Ost)/Hauptstadt der DDR« tituliert, sodass dem östlichen wie dem westlichen Rechtsstandpunkt Genüge getan wurde. Und über den Häftlingsfreikauf verhandelten zwei Rechtsanwälte: Jürgen Stange aus Westberlin und Wolfgang Vogel aus Ostberlin. Diese unterhalb der völkerrechtlichen oder staatlichen Ebene angesiedelten Verhandlungen beließen der Bundesrepublik die Möglichkeit, die DDR weiterhin nicht als Staat anzuerkennen und keine offiziellen Kontakte zu ihr unterhalten zu müssen. Und sie boten der DDR, die 1962 angesichts massiver Wirtschaftsprobleme ihre Bereitschaft zu dem »Häftlingsverkauf« signalisiert hatte, die Gewähr, dass die Verhandlungen absolut diskret geführt werden konnten.20

Die damals erprobten Modalitäten schufen eine Vertrauensgrundlage, auf der weitere Abmachungen möglich waren. So folgten bis 1966 drei weitere Passierscheinregelungen. Und der durchaus umstrittene Häftlingsfreikauf wurde bis 1989 fortgesetzt und brachte der DDR insgesamt rund drei Milliarden D-Mark im Tausch gegen die Entlassung von 33 000 Häftlingen in den Westen.21 Die Erfahrungen des Jahres 1963 legten schließlich auch ein Fundament für die sehr viel weitergehenden Verträge, mit denen Anfang der 1970er-Jahre die neue Ostpolitik manifest wurde: die Ostverträge der Bundesrepublik mit der Sowjetunion und Polen 1970, das Viermächte-Abkommen (Vierseitiges Abkommen) über Berlin 1971 und der Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten 1972. In dem Viermächte-Abkommen wiederholten die Signatarstaaten Frankreich, Großbritannien, USA und Sowjetunion die bereits 1963 bewährte Praxis, strittige Statusfragen auszuklammern. Da sich die Westmächte und die Sowjetunion nicht einigen konnten, ob das Abkommen für ganz Berlin oder nur für Westberlin gelten sollte, war in den allgemeinen Bestimmungen des Abkommens nur von »dem betreffenden Gebiet« die Rede, ohne es näher zu definieren.22

Die Politik der Verständigung beschränkte sich nicht auf Deutschland. Im August 1963 unterzeichneten Vertreter der Sowjetunion, der USA und Großbritanniens in Moskau nach mehrjährigen Verhandlungen ein Atomteststoppabkommen (»Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser«). Bis Ende 1963 traten weltweit 106 Staaten dem Abkommen bei, darunter auch die beiden deutschen Staaten. Erneut nahm die Bundesregierung damit Abstriche an ihrem Alleinvertretungsanspruch hin. Frankreich blieb dem Abkommen fern.

Bedeutender war jedoch, dass China und einige ihm nahestehende Staaten wie Nordvietnam, Nordkorea und Albanien ihre Unterschrift verweigerten. Damit verfestigte sich der Bruch innerhalb des Weltkommunismus, der die Sowjetunion und ihre Verbündeten vor neue, globale Herausforderungen stellte. Ideologische Differenzen und machtpolitische Rivalitäten hatten bereits seit 1960 zu einem offen ausgetragenen, polemischen Streit zwischen den Führungen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) geführt. 1962/63 zerbrach die weltweite Einheit der sozialistischen Staaten sowie der kommunistischen und Arbeiterparteien unter der unangefochtenen Führung der Sowjetunion. Auf dem VI. SED-Parteitag, der vom 15. bis 21. Januar 1963 in Ostberlin stattfand, grenzte sich die ostdeutsche Staatspartei demonstrativ von der KPCh ab. So wurde die Rede des chinesischen Delegierten Wu Xiuquan, die dieser am 18. Januar auf dem VI. Parteitag vortrug, durch minutenlange Pfui-Rufe, Pfiffe und Getrampel unterbrochen; diese Störaktion hatte das SED-Politbüro in seiner Sitzung am 10. Januar 1963 bereits geplant.23 China entwickelte sich zu einem ernstzunehmenden Rivalen der Sowjetunion in der sozialistischen Welt, warf der Sowjetunion ein zu nachgiebiges Verhalten gegenüber dem Westen vor und stieg 1964 zur Atommacht auf, als es seine erste Atombombe zündete.24

1.2 Die SED auf Reformkurs

Die ersten praktischen Erfolge der Entspannungsbemühungen, insbesondere die Passierscheinvereinbarung, waren nur möglich, weil im Osten ebenso wie im Westen die Bereitschaft zunahm, sich auf Veränderungen einzulassen. In der DDR zeigte sich Partei- und Staatschef Walter Ulbricht 1963 außerordentlich reformfreudig. Walter Ulbricht war seit 1950 Generalsekretär (ab 1953: Erster Sekretär) des Zentralkomitees (ZK) der SED und seit 1960, nach dem Tod von Staatspräsident Wilhelm Pieck, auch Vorsitzender des Staatsrats. Er vereinigte damit in seiner Person die Spitzenämter von Partei und Staat. Im Jahr 1963 stand Ulbricht, so sein Biograf Norbert Podewin, »im Zenit der Macht. Seine Führung war unumstritten, seine Kompetenz auch in wirtschaftlichen Grundsatzfragen unangetastet. Rivalen im Hinblick auf den Platz an der Spitze gab es – nicht mehr und – noch nicht wieder. Sein 70. Geburtstag am 30. Juni 1963 wurde zum Republiks-Festtag stilisiert, er selbst in Grußadressen zum ›Staatsmann neuen Typs‹ erhoben.«25

Zur selben Zeit sahen sich Partei- und Staatsführung in der DDR vor neue Herausforderungen gestellt: Die Wirtschaft befand sich in einer Krise, die Sowjetunion leitete eine zweite Phase der Entstalinisierung ein, Künstler, Kulturschaffende und junge Menschen suchten nach neuen Ausdrucks- und Lebensformen. In dieser Phase nutzte Walter Ulbricht seine Machtposition, um grundlegende Reformen anzugehen. Der VI. SED-Parteitag im Januar 1963 bildete den programmatischen Auftakt zu dem Reformjahr 1963 und leitete »Neuerungen […] auf personeller und programmatischer Ebene« ein.26 Vier Bereiche sollen unter diesen Aspekten im Folgenden etwas näher betrachtet werden: die Wirtschaft, das Justizwesen, die Jugendpolitik sowie Kunst und Kultur.

1.2.1 Das Neue Ökonomische System der Planung und
Leitung der Volkswirtschaft

Am 10. Juli 1958 definierte Walter Ulbricht in seiner programmatischen Eröffnungsrede auf dem V. SED-Parteitag die »ökonomische Hauptaufgabe« der DDR-Volkswirtschaft: Sie sollte die »Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung« gegenüber der »imperialistischen« Bundesrepublik beweisen, indem sie dafür sorgte, dass bis 1961 »der Pro-Kopf-Verbrauch unserer werktätigen Bevölkerung mit allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern den Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland erreicht und übertrifft«.27 Nach sowjetischem Vorbild stellte die DDR ihre Wirtschaft im darauf folgenden Jahr von einem Fünf- auf einen Siebenjahrplan um. Mit diesem Plan sollte es gelingen, die Produktion und die Produktivität so zu steigern, dass die »ökonomische Hauptaufgabe« bis Ende 1965 erfüllt sein würde.28 Beflügelt wurden diese ehrgeizigen Pläne von den unerwartet hohen Wachstumsraten der industriellen Bruttoproduktion (1958: 11 Prozent, 1959: 13 Prozent), mit denen man sogar die Planziffern übertroffen hatte.29 Doch schon 1960 geriet die DDR-Wirtschaft ins Stocken. Die Wachstumsrate des Nationaleinkommens ging zurück (1960: 6,6 Prozent, 1961: 1,5 Prozent). Im Frühjahr 1960 war die Kollektivierung der Landwirtschaft, gegen den Widerstand vieler Bauern, weitgehend abgeschlossen. 1961 kam es dann zu Missernten, die nicht nur auf die Witterung, sondern auch auf Organisationsprobleme in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) zurückzuführen waren. Ausbleibende Importe für die DDR-Industrie und weitere Schwierigkeiten führten dazu, dass sich die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und anderen Waren in den Jahren 1961 und 1962 spürbar verschlechterte. Schon im Mai 1961 wurden die hochgesteckten Ziele des Siebenjahrplanes gesenkt.30

Die Partei- und Staatsführung reagierte zunächst mit Zwangsmaßnahmen. Mit dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 stoppte sie abrupt die Massenflucht aus dem Land, die ja zugleich auch eine Massenabwanderung von überwiegend jüngeren Arbeitskräften war. 1962 propagierte sie dann das »Produktionsaufgebot«: Die Normen wurden erhöht, sodass die arbeitende Bevölkerung für denselben Lohn länger als bisher arbeiten musste und außerdem ein dürftigeres Warenangebot vorfand. Das steigerte die Unzufriedenheit der Menschen, vereinzelt begannen Arbeiter zu streiken.31 Wie André Steiner schreibt, war es diese Wirtschaftskrise in Verbindung mit der sowjetischen Weigerung 1962, »die Modernisierung der DDR-Wirtschaft zu kreditieren«, die für Ulbricht schließlich den Ausschlag dafür gab, eine grundlegende Reform des Wirtschaftssystems anzugehen, und zwar jenes Wirtschaftssystems, »das er vorher selbst entscheidend geprägt hatte«.32

Jörg Roesler erinnert daran, dass Anfang der 1960er-Jahre auch in anderen sozialistischen Ländern die Wirtschaft stagnierte und insbesondere in der Tschechoslowakei und in Ungarn ebenfalls umfassende Reformen auf den Weg gebracht wurden. Ideologische Rückendeckung habe es aus der Sowjetunion gegeben. Im September 1962 hatte die »Prawda« mit Zustimmung des Ersten Sekretärs des ZK der KPdSU, Nikita Chruschtschow, Reformvorschläge des Charkower Wirtschaftswissenschaftlers Jewsei Liberman veröffentlicht, die umgehend in der DDR-Presse publiziert worden waren und die Ulbricht dann ab 1963 umsetzte. Libermans Artikel, so Roesler, habe den Wirtschaftsreformern in der DDR »Auftrieb« gegeben.33 Liberman habe die Kategorie »Gewinn« in die Planwirtschaft einführen wollen, doch seine Thesen seien von der SED »weniger als eine theoretische Anleitung für die DDR-Wirtschaftsreform, sondern als Autoritätsbezug« genutzt worden, um die Reformen »durchsetzbar zu machen«, so der Historiker Marcel Boldorf.34

Den offiziellen Auftakt zu den Wirtschaftsreformen machte Walter Ulbricht am 15. Januar 1963 mit seiner Rede auf dem VI. SED-Parteitag. Dort begründete und erläuterte er das »Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft« (NÖS).35 Im Kern ging es bei dem NÖS darum, bestimmte marktwirtschaftliche Instrumente in die Planwirtschaft zu integrieren. Die Betriebe sollten nicht mehr an ihrer Bruttoproduktion gemessen werden, sondern an der Höhe ihres Gewinns. Eine leistungsbezogene Prämienbezahlung sollte durch ihre materiellen Anreize die Arbeiter zu besseren und höheren Leistungen animieren. Den Betrieben wurden mehr Entscheidungsfreiheiten eingeräumt. Die staatlichen Planvorgaben sollten sich nur noch auf die Eckdaten der anzustrebenden Wirtschaftsziele konzentrieren. Im Übrigen sollte ein »System ökonomischer Hebel« marktwirtschaftliche Elemente in die Planwirtschaft implementieren. Die Betriebe sollten ihre benötigten Geldmittel möglichst selbst erwirtschaften, und die Rechnungsführung sollte auf einer realistischen Grundlage erfolgen. Solche Faktoren (»ökonomische Hebel«) wie Festsetzung der Preise, Kosten, Löhne, Prämien, Zinsen, Gewinne, Kredite und andere sollten flexibler als bisher gehandhabt werden.36 Die Reformen sollten unter Berücksichtigung moderner wissenschaftlicher Methoden wie der Kybernetik umgesetzt werden.37

In Folge des VI. Parteitags rückten jüngere, gut qualifizierte und reformbereite Funktionäre in verantwortliche Positionen: »Erich Apel, der seine organisatorischen Fähigkeiten unter Wernher von Braun in Peenemünde und nach 1945 in der sowjetischen Rüstungsindustrie erworben hatte, wurde Chef der Staatlichen Plankommission (SPK). Seine Position als Wirtschaftssekretär des ZK übernahm Günter Mittag. Ihnen zur Seite stand ein Braintrust von Wirtschaftswissenschaftlern um Wolfgang Berger, Helmut Koziolek, Otto Reinhold, Herbert Wolf, die als persönliche Referenten Ulbrichts oder als Leiter von wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstituten der SED analytische Vorarbeiten beisteuerten.«38 Zu den Skeptikern oder Kritikern des NÖS zählten ältere Wirtschaftsfunktionäre wie der Vorsitzende des Volkswirtschaftsrates Alfred Neumann und Finanzminister Willy Rumpf.39

Die Richtlinien und Grundsätze des NÖS wurden im Rahmen einer Wirtschaftskonferenz verabschiedet und öffentlich propagiert, die gemeinsam am 24. und 25. Juni 1963 vom Zentralkomitee der SED und dem Ministerrat der DDR in Ostberlin durchgeführt wurde. Vor zahlreichen Vertretern von Partei und Staatsorganen, Betrieben und Forschungseinrichtungen erläuterte Walter Ulbricht dort die Notwendigkeit und Inhalte der neuen Wirtschaftspolitik.40 Am 11. Juli 1963 beschloss der DDR-Ministerrat förmlich die Gültigkeit der NÖS-Richtlinie und am 15. Juli 1963 bestätigte der DDR-Staatsrat diesen Beschluss.41 Der ambitionierte Siebenjahrplan von 1958, dessen Laufzeit eigentlich erst Ende 1965 endete, wurde nicht förmlich aufgehoben, sondern einfach beiseitegeschoben. Walter Ulbricht verkündete auf dem VI. SED-Parteitag schlichtweg einen neuen Siebenjahrplan, auch Perspektivplan genannt, für die Jahre 1964 bis 1970.42 Das Jahr 1963 bildete im Hinblick auf die Wirtschaftsplanung ein Jahr des Übergangs, für den ein einfacher Jahresplan, der Volkswirtschaftsplan 1963, maßgebend war.43

André Steiner attestiert dem NÖS »Inkonsistenzen« und einen »Zielkonflikt«. Da die Reformen darauf ausgerichtet waren, die Macht der SED zu sichern, seien die »politischen und ideologischen Grundlagen« unverändert geblieben und faktisch sei lediglich versucht worden, innerhalb der sozialistischen Wirtschaftsordnung »marktwirtschaftliche Mechanismen zu simulieren«.44 Jörg Roesler sieht den Ansatz des NÖS positiver und erkennt Parallelen zum »New Deal« der Vereinigten Staaten der 1930er-Jahre. In beiden Fällen habe man Elemente des eigentlich gegnerischen Wirtschaftssystems übernommen, um eine Krise zu überwinden, und zugleich habe die jeweilige Reform auch andere Gesellschaftsbereiche erfasst.45

Auf jeden Fall trug das NÖS in den folgenden Jahren tatsächlich dazu bei, die DDR-Wirtschaft zu konsolidieren. Die volkwirtschaftliche Produktivität stieg bis Ende der 1960er-Jahre spürbar an, das Warenangebot verbesserte sich, der Lebensstandard stieg. Das NÖS prägte somit auch die Konsum- und Sozialpolitik jener Jahre.46 Doch der Abstand zur wirtschaftlich erfolgreicheren Bundesrepublik wurde dadurch nicht geringer, sondern er vergrößerte sich weiter.47

Das Neue Ökonomische System wurde 1963 zwar auf den Weg gebracht, doch die konkrete Umsetzung der Wirtschaftsreformen begann erst 1964.48 Insofern blieb das NÖS noch ohne direkte Auswirkungen auf das wirtschaftliche Geschehen in der DDR des Jahres 1963. Das NÖS hatte für das Jahr 1963 dennoch eine große und prägende Bedeutung. Denn die Staatspartei SED ließ hier eine Bereitschaft durchscheinen, ihren allumfassenden Reglementierungsanspruch ein wenig zurückzunehmen und gewisse Freiräume zuzulassen. Mit dem NÖS »entstand eine beachtliche Aufbruchstimmung«, so der Berliner Historiker Gerd Dietrich, weil »nun über Wirtschaftsprobleme öffentlich gesprochen werden [konnte]«, und weil »erstmals wieder eine durchdachte längerfristige Konzeption vor[lag]«.49

1.2.2 Reformen im Justizwesen und Rückwirkungen auf das MfS

Die Justizreform 1963

Im April 1963 traten in der DDR mehrere Gesetze und Erlasse in Kraft, die das Justizwesen reformierten. Sie vollendeten die »zweite Justizreform« der noch jungen DDR.50 Der Publizist Karl Wilhelm Fricke, seit den 1950er-Jahren kenntnisreicher und nüchtern-kritischer Beobachter der Entwicklungen in der DDR, fasst den Charakter dieser Justizreform zutreffend so zusammen: Sie habe die »politisch-erzieherischen Aufgaben der Strafjustiz [stärker hervorgehoben]«, ohne jedoch »ihre repressiv-sichernde Funktion« aufzugeben.51

Der Rechtspflegeerlass des Staatsrats vom 4. April 1963 bildete den zentralen Bestandteil der Reform.52 Ausgehend von der ideologisch begründeten Behauptung, dass in der sozialistischen Gesellschaft der DDR die Wurzeln der Kriminalität weitgehend beseitigt seien, sollten an die Stelle von Freiheitsstrafen zunehmend bedingte Verurteilungen treten, die von erzieherischen Maßnahmen und Bürgschaften, etwa seitens der Kollektive, also der Arbeitskollegen, begleitet werden sollten.53 Die Konflikt- und Schiedskommissionen wurden zu einem grundlegenden Bestandteil der Gerichtsbarkeit aufgewertet, was theoretisch eine durchaus fortschrittliche Maßnahme darstellte. Die Konfliktkommissionen verhandelten geringfügige Straftaten und kleinere zivilrechtliche Streitigkeiten. Sie setzten sich aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Betriebe und anderer Arbeitsstätten zusammen, waren also durchweg juristische Laien.54 Die hier skizzierten Änderungen folgten indes dem Leitmotiv, »dass sich das sozialistische Recht in die ›Bewegung von der Vereinzelung zur Gemeinsamkeit‹ eingliedern müsse«.55 Sie entsprachen dem von Ulbricht damals gerne propagierten Ziel, eine »sozialistische Menschengemeinschaft«56 zu schaffen. In der Praxis bedeutete diese Form der Gerichtsbarkeit für die solcherart Verurteilten aber auch Bloßstellung und öffentlichen Tadel und eine Intensivierung der sozialen Kontrolle.57

Mit dem »Gesetz zur Änderung und Ergänzung strafrechtlicher und verfahrensrechtlicher Bestimmungen« vom 17. April 1963 wurde die Zielstellung verstärkt, Freiheitsstrafen mehr als bisher zur Bewährung auszusetzen.58

Der Rechtspflegeerlass übertrug die Gerichtsaufsicht, also die Anleitung und Kontrolle der Rechtsprechung, vom Justizministerium auf das Oberste Gericht der DDR. Nach Auffassung des Rechtshistorikers Johannes Raschka begünstigte diese Maßnahme »die ungestörte Arbeit der Jurisdiktion nach professionellen Grundsätzen«, und Falco Werkentin geht davon aus, dass der zentrale Parteiapparat infolge des Rechtspflegerlasses deutlich seltener bei Einzelverfahren eingriff als bisher. An der grundsätzlichen Kontrolle der SED über die Justizpolitik habe das aber nichts geändert und Raschka konstatiert, dass auch nach 1963 »von einer vollen Autonomie der Richter […] keine Rede sein [konnte]«.59 Zu den neuen gesetzlichen Bestimmungen für das Justizwesen im April 1963 gehörten ferner die Militärgerichtsordnung, das Gerichtsverfassungsgesetz und das Staatsanwaltschaftsgesetz sowie die Verordnungen über die Konfliktkommissionen und über das Staatliche Vertragsgericht.60

Die Erlasse und Gesetze zur Justizreform vom April 1963 setzten einerseits die Linie um, die Walter Ulbricht auf dem VI. SED-Parteitag verkündet und vorgegeben hatte.61 Andererseits griffen sie frühere Reformansätze auf. So handelte es sich bei dem Rechtspflegeerlass im Kern um eine Bestätigung und Erweiterung des Rechtspflegebeschlusses vom 30. Januar 1961.62 Doch die politischen Spannungen rund um den Bau der Berliner Mauer hatten diese Entwicklung unterbrochen und 1961/62 vorübergehend zu einer Verschärfung des Strafrechts und seiner Anwendung geführt, ehe zur Jahreswende 1962/63 eine relative und vorübergehende Entspannung eintrat.63

Die statistischen Daten zeichnen ein widersprüchliches Bild hinsichtlich einer Entspannung der strafrechtlichen Praxis. Einerseits ging zwischen 1961 und 1964 der Anteil der Strafen mit Freiheitsentzug an der Gesamtzahl der Verurteilungen beständig zurück, um danach wieder etwas anzusteigen. Gerade in den Jahren 1963 und mehr noch 1964 machten die Gerichte von der Möglichkeit der Bewährungsstrafe, der »bedingten Verurteilung«, offenkundig immer mehr Gebrauch.64 Andererseits blieb die Anzahl der Strafgefangenen recht hoch, was darauf hindeutet, dass die Gesamtzahl der Verurteilungen zunahm.65

Rückwirkungen der Justizreform auf das MfS

Die Justizreformen der Jahre 1961 bis 1963 berührten auch die Tätigkeit und das Selbstverständnis der DDR-Geheimpolizei. Roger Engelmann und Frank Joestel sehen die Jahre 1962 bis 1964 als eine Phase der »Verrechtlichung und Professionalisierung« im MfS und insbesondere in dessen Untersuchungsabteilung, die als »Hauptabteilung IX« oder auch »Linie IX« des MfS firmierte.66

Ungefähr zur Jahresmitte 1962 war das MfS massiv in die Kritik der SED geraten, wie es das bis 1989 nicht mehr geben sollte. Eine Arbeitsgruppe im Auftrag der Abteilungen für Sicherheitsfragen und für Staats- und Rechtsfragen beim SED-Zentralkomitee hatte damals die Arbeit des MfS untersucht und stellte in einem Grundsatzpapier zahlreiche gravierende Mängel fest.67 Ein Hauptvorwurf an die Adresse des MfS betraf »Gesetzesverletzungen bei der Durchführung der Ermittlungs- und Untersuchungsarbeit«.68 Das MfS habe »gesetzliche Ausnahmebestimmungen zur Regel gemacht«, beispielsweise »Festnahmen ohne richterlichen Haftbefehl, Hausdurchsuchungen ohne Anordnung des Staatsanwalts«. Außerdem habe es fragwürdige Praktiken gegeben wie die »Einflussnahme auf Inhaftierte, auf die [Einlegung] von Rechtsmitteln zu verzichten; die zwangsweise Zuführung und Vernehmung von Personen ohne vorherige gründliche Aufklärung; die ungenügende Aufsicht der Staatsanwaltschaft über die Untersuchungsorgane des MfS sowie Schenkungen an Staatsanwälte«.69

Diese Kritik erfolgte offenkundig in Reaktion auf den Politbürobeschluss vom 17. April 1962, der die Durchsetzung des Rechtspflegebeschlusses vom 30. Januar 1961 verlangte und den Rechtspflegeerlass vom 4. April 1963 vorbereitete und der somit die Justizreform voranbringen wollte.70 Staatssicherheitsminister Erich Mielke konnte sich dieser Entwicklung nicht länger völlig verschließen und erließ am 18. Mai 1962 den Grundsatzbefehl Nr. 264/62. Darin verlangte er insbesondere von den Untersuchungsorganen des MfS, sich streng an die Strafprozessordnung zu halten.71

Im Staatsanwaltschaftsgesetz vom 17. April 1963 wurden dann zum ersten Mal überhaupt die Untersuchungsorgane des MfS in einer gesetzlichen Regelung ausdrücklich genannt. Dort hieß es: »Die Staatsanwaltschaft übt die Aufsicht über die Einhaltung der Gesetzlichkeit im Ermittlungsverfahren und über die Untersuchungshandlungen aller Untersuchungsorgane aus. Untersuchungsorgane sind: die Untersuchungsorgane des Ministeriums des Innern; die Untersuchungsorgane des Ministeriums für Staatssicherheit; die Untersuchungsorgane der Zollverwaltung.«72 Engelmann und Joestel deuten diesen Passus »als Signal für die rechtliche Normalisierung der Tätigkeit der Linie IX«.73

In einem Rundfunkinterview mit Radio DDR bekannte sich Erich Mielkes am 23. April 1963 vor der Öffentlichkeit zu den Grundlinien des Rechtspflegeerlasses und beschrieb das MfS als ein normales Rechtspflegeorgan. Er kündigte an, die Arbeit des MfS werde weiter qualifiziert, und man werde bei der Untersuchung von Straftaten eine »sorgfältige« Ursachenforschung betreiben; man werde differenzieren zwischen jenen, die, vom Westen angestiftet, Staatsverbrechen begingen sowie jenen, deren Taten zwar eine rückständige und unklare, aber keine feindliche Haltung gegenüber dem Sozialismus zugrunde liege.74 Die Anweisung 3/63 des Generalstaatsanwalts vom Juni 1963 »zur Anleitung und Kontrolle der Untersuchungsorgane durch die Staatsanwaltschaft« verlangte im Prinzip auch vom MfS, sich an die Regeln des Strafverfahrensrechts zu halten, doch das MfS reduzierte von sich aus die Kontrollrechte der Staatsanwaltschaft. Die Bedeutung des Geständnisses für die Beweisführung wurde in der Anweisung deutlich herabgestuft, was der bisherigen Praxis der MfS-Untersuchungsabteilungen zuwiderlief.75

In den Jahren 1962/63 setzte auch eine »Verwissenschaftlichung« in den MfS-Untersuchungsorganen ein. Wie Engelmann und Joestel feststellen, wirkte sich das im Bereich des Strafrechts dahingehend aus, dass die MfS-Vernehmer genauer auf den »›individuellen Tatbeitrag‹« und die konkrete »›Verantwortlichkeit eines jeden Beschuldigten‹« achteten.76 Kurzzeitig hielt sich das MfS sogar mit Verhaftungen zurück, wie es Erich Mielke in seinem Rundfunkinterview angekündigt hatte.77 Bislang hatten die Untersuchungsorgane des MfS diejenigen Menschen, gegen die sie Ermittlungsverfahren durchführten, üblicherweise in Untersuchungshaft genommen. In Reaktion auf die Justizreform rückte man von dieser Praxis ab: 1963 blieben immerhin 24 Prozent der Menschen, gegen die die Linie IX Ermittlungsverfahren durchführte, von der Untersuchungshaft verschont, so viele wie in keinem anderen Jahr. Schon ab 1964 rückte das MfS schrittweise wieder von dieser Linie ab.78

Die Zentrale Informationsgruppe (ZIG) des MfS warnte schon im Februar 1962, als sich die Konturen der Justizreform mit dem Rechtspflegebeschluss vom 30. Januar 1961 erst abzeichneten, vor den damit einhergehenden Erscheinungen des »Liberalismus«, die sich in der ungenügenden Ahndung von Staatsverbrechen zeige.79 Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass die Justizreform 1963 auch das MfS erfasste. Die Veränderungen wirkten außerdem auch nach innen. Ende April 1962 erließ Erich Mielke eine Dienstanweisung über die »Politisch-ideologische Erziehung der Mitarbeiter des MfS«, die auf eine schärfere Disziplinierung der hauptamtlichen Mitarbeiter abzielte.80 Im Jahr 1963 entfaltete diese Dienstanweisung ihre volle Wirkung: 431 Mitarbeiter (2,1 Prozent) wurden in jenem Jahr entlassen und 1 223 (5,9 Prozent) disziplinarisch bestraft. Eine so hohe Disziplinierungsquote gab es später nicht mehr.81 Jens Gieseke spricht mit Bezug auf diese Zahlen des Jahres 1963 von einer »Säuberung« innerhalb des MfS.82 Die damals einsetzende »Verrechtlichung und Professionalisierung« sowie die Disziplinierung nach innen änderte indes nichts an der Funktion des MfS als Repressionsorgan, gegen das sich die Menschen mit rechtlichen Mitteln nicht wehren konnten und dessen Willkür sie ausgeliefert blieben.

1.2.3 »Der Jugend Vertrauen und Verantwortung«:
Das zweite Jugendkommuniqué

Die Jugendpolitik bildete neben der Wirtschaft und der Justiz einen dritten wichtigen gesellschaftlichen Bereich, in dem 1963 neue Akzente gesetzt wurden und eine gewisse Aufbruchstimmung herrschte. Achtzehn Jahre nach Kriegsende und zwei Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer war eine Generation herangewachsen, die von den Verhältnissen in der DDR geprägt war und sich dauerhaft in irgendeiner Weise mit diesem Staat arrangieren musste. Doch die Heranwachsenden blieben auf Distanz zum SED-geprägten System. Das zeigte sich nicht zuletzt in ihrer Abwendung von der FDJ. Obwohl die »Freie Deutsche Jugend« als einziger zugelassener Jugendverband der DDR über eine Monopolstellung verfügte, sank der Anteil der FDJ-Mitglieder unter den Jugendlichen zwischen Juni 1961 und Sommer 1963 von 49,4 auf 42,7 Prozent.83

In dieser Situation unternahm Walter Ulbricht den Versuch, den Ansprüchen und Bedürfnissen der Jugendlichen entgegenzukommen und sie für den sozialistischen Staat zu gewinnen. Er beauftragte eine Gruppe jüngerer Funktionäre damit, ein geeignetes Papier auszuarbeiten. Zum Leiter der Arbeitsgruppe berief er den 34-jährigen Kurt Turba, Chefredakteur der Studentenzeitschrift »Forum«, der sich politisch als vergleichsweise offen gezeigt hatte. Auch die 30-jährige Schriftstellerin Brigitte Reimann gehörte der Arbeitsgruppe an. Im Juli 1963 machte Ulbricht Kurt Turba auch zum neuen Vorsitzenden der Jugendkommission beim Politbüro des SED-Zentralkomitees. Am 17. September wurde das von der Arbeitsgruppe erarbeitete Dokument als »Kommuniqué des Politbüros […] zu Problemen der Jugend« vom Zentralkomitee beschlossen und wenige Tage später veröffentlicht.84 Das »Neue Deutschland« druckte das Jugendkommuniqué in vollem Wortlaut ab und titelte programmatisch »Der Jugend Vertrauen und Verantwortung«.85

Es waren einige wenige Sätze, die diesem Jugendkommuniqué Wirkung verliehen, so Bernd Florath: »Habt Mut zur Anstrengung des eigenen Denkens«, hieß es darin an hervorgehobener Stelle. Von der älteren Generation, von Lehrern und Erziehern verlangte das Jugendkommuniqué Großzügigkeit, Verständnis und Ehrlichkeit gegenüber den Jugendlichen: »Es geht nicht länger an, ›unbequeme‹ Fragen von Jugendlichen als lästig oder gar als Provokation abzutun, da durch solche Praktiken Jugendliche auf den Weg der Heuchelei abgedrängt werden. Wir brauchen vielmehr den selbstständigen und selbstbewussten Staatsbürger mit einem gefestigten Charakter«, hieß es an anderer Stelle. Im Freizeitbereich, bei Freundschaften und Beziehungen sollte es ebenfalls Freiräume geben: »Niemandem fällt es ein, der Jugend vorzuschreiben, sie solle ihre Gefühle und Stimmungen beim Tanz nur im Walzer- oder Tangorhythmus ausdrücken. Welchen Takt die Jugend wählt, ist ihr überlassen: Hauptsache, sie bleibt taktvoll!«86

Auch in der Praxis gab es vorsichtige Anzeichen für mehr Verständnis. Im Jahr 1963 brachte das DDR-Plattenlabel »Amiga« die ersten Twist-Schallplatten heraus.87 Dieser Modetanz war bis dahin offiziell völlig verpönt: »Twist ist die Umkehr des Prozesses von der Menschwerdung des Affen«, schrieb das »Neue Deutschland« noch im Mai 1962.88

Das Jugendkommuniqué zeigte jedoch auch Grenzen auf, auf die Marc-Dietrich Ohse nachdrücklich hinweist. Es läutete keine allgemeine Liberalisierung ein, sondern erklärte es weiterhin zum Ziel, die Jugendlichen zu Sozialisten zu erziehen. In diesem Sinne bezeichnete das Kommuniqué schon einleitend die Jugendlichen als die zukünftigen »Hausherren des sozialistischen Deutschlands«. Durch diesen eindeutigen ideologischen Rahmen, so Ohse, seien Konflikte vorprogrammiert gewesen.89 Ohse erinnert außerdem daran, dass das Politbüro gleichzeitig mit dem Jugendkommuniqué auch den Entwurf eines neuen Jugendgesetzes billigte, das im Mai 1964 förmlich in Kraft trat. Dieses Gesetz habe eine »grundsätzlich konservative Ausrichtung« gehabt und habe keine Grundlage für eine »liberale Jugendpolitik« geboten. Die Jugendpolitik der SED habe daher 1963/64 ein »äußerst ambivalentes Bild« abgegeben.90 Den liberalen Tendenzen setzte zudem Erich Mielke schon im Juli 1963 prophylaktisch seine »Arbeitshinweise« zur Bekämpfung von abweichendem Verhalten Jugendlicher durch das MfS entgegen.91

Ähnlich wie das NÖS im Bereich der Wirtschaft stellte auch das Jugendkommuniqué eine Reaktion auf Krisenerscheinungen dar. Schließlich waren es bis zum Mauerbau im August 1961 vor allem jüngere Menschen, die zu Hunderttausenden der DDR den Rücken gekehrt hatten.92 Und die 1962 einsetzende Militarisierung und somit auch Disziplinierung der Jugendlichen insbesondere durch Einführung der Wehrpflicht Anfang 1962 und der vormilitärischen Ausbildung 1963 führten bei diesen oftmals zu ablehnenden Reaktionen.93 Das Psychologische Institut der Universität Leipzig untermauerte solche Beobachtungen mit Zahlen aus einer anonymen Befragung von über 2 000 Jugendlichen im Jahr 1962. Es gab demnach unter den jungen Leuten zwar eine »hohe Bereitschaft«, sich mit der DDR zu arrangieren, doch die SED-Politik stieß auf »eine nur geringe Akzeptanz«.94 Dieser Befund wurde im Politbüro diskutiert und mochte mit ein Anstoß zu dem Jugendkommuniqué gewesen sein.95 Marc-Dietrich Ohse zitiert aus einem FDJ-Papier von Ende 1963, in dem treffend die Frage gestellt wurde: »Ist das Kommuniqué herausgekommen, weil wir so viel Sorgen mit der Jugend haben?«96

Eine Parallele der Jugendpolitik zur Justizreform von 1963 bestand darin, dass es schon 1961, vor dem Mauerbau, ähnliche Anläufe gegeben hatte. Kurz nach dem Rechtspflegebeschluss vom Januar 1961 veröffentlichte das Politbüro des ZK der SED am 7. Februar 1961 ein erstes Jugendkommuniqué. Es zielte darauf ab, die Jugend durch »positive Anreize« für den Sozialismus zu gewinnen und ihr mehr Selbstbestimmung zuzugestehen. Der Theologe und Politologe Christian Sachse hält das erste Jugendkommuniqué sogar für ideologisch offener und freier und sieht im zweiten Jugendkommuniqué bereits Tendenzen, frühere liberale Zugeständnisse zurückzunehmen. Doch auch Sachse konstatiert, dass das zweite Jugendkommuniqué schon allein Dank seiner »[auffälligen] Nähe zur Umgangssprache […] stärker rezipiert wurde und im Gedächtnis blieb«.97 Das erste Jugendkommuniqué entfaltete aufgrund der damaligen Zeitumstände, des Mauerbaus und der darauf folgenden Repressionswelle keine nennenswerte Wirkung, während die Resonanz 1963 größer war und positiver ausfiel.

1.2.4 Literatur und Kultur: »Das literarische Schlüsseljahr 1963/64«

Gerd Dietrich charakterisiert die Jahre 1963/64 zusammenfassend als das »literarische Schlüsseljahr in der DDR«.98 Er stützt sich dabei auf Studien von Wolfgang Emmerich. Dietrich und Emmerich benennen exemplarisch fünf herausragende Romane und Erzählungen jener Zeit: 1963 erschienen Christa Wolfs »Geteilter Himmel« und Erwin Strittmatters »Ole Bienkopp«, 1964 Erik Neutschs »Spur der Steine« und Johannes Bobrowskis »Levins Mühle« sowie 1965 Hermann Kants »Die Aula«.99 Emmerich bezeichnet diese Literatur als »kulturell innovativ«, denn sie habe »als erste festgefahrene Normen [kritisiert] und […] den neuen Empfindungen sehr vieler Menschen Ausdruck [gegeben]«. Damit habe sich die Literatur zum »Seismographen« gesellschaftlicher Probleme entwickelt.100

Mit diesen Facetten fügt sich die Literatur in das Bild des von Reformen und neuer Offenheit geprägten Jahres 1963 ein. Doch das Jahr begann für die Schriftsteller und Künstler äußerst repressiv und in keiner Weise reformorientiert. Auf dem VI. SED-Parteitag zeigte Walter Ulbricht persönlich den Kulturschaffenden die Grenzen auf. Er forderte sie in seiner Parteitagsrede vom 15. Januar 1963 auf, sich am »sozialistischen Realismus« zu orientieren und erteilte jenen Strömungen eine Absage, die sich angeblich auf das Negative fokussierten, dem »primitiven« Modernismus anhingen, die »Subjektivismus«, »Formalismus« und »Schematismus« pflegten und »bürgerliche Dekadenz« oder »kleinbürgerlich-anarchistische Auffassungen« vertraten. Ohne ihn namentlich zu nennen, kritisierte Ulbricht den Schriftsteller Günter Kunert und dessen Drehbuch »Monolog für einen Taxifahrer« als Beispiel für den »primitiven« Modernismus.101 Weitere Parteitagsredner assistierten Ulbricht, bezogen sich ebenfalls auf jüngst aufgetretene Konflikte und griffen namentlich die Schriftsteller Peter Huchel und Peter Hacks an; der erstere sei zu liberal, der letztere verbreite ein falsches Bild des Sozialismus, weil er die Gegenwart als »grau in grau« darstelle.102

Diesen Angriffen waren bis zum Jahreswechsel 1962/63 mehrere heftige Konflikte vorausgegangen. Peter Huchel, seit 1949 Chefredakteur der Literaturzeitschrift »Sinn und Form«, war Ende 1962 abgesetzt worden. Die Akademie der Künste, die »Sinn und Form« herausgab, setzte auf diese Weise die strengeren kulturpolitischen Vorgaben der SED durch.103 Gegen Günter Kunert schritt die Kulturbürokratie Ende Dezember 1962 ein, indem sie die Ausstrahlung des DEFA-Fernsehfilms »Monolog für einen Taxifahrer« im DDR-Fernsehen kurzfristig verbot. Der Sendetermin war bereits für den 23. Dezember 1962 angekündigt worden.104 Peter Hacks musste erleben, wie sein Stück »Die Sorgen und die Macht« nach 22 erfolgreichen Vorstellungen am Ostberliner Deutschen Theater zwischen September und Dezember 1962 nun Anfang 1963 vom Spielplan abgesetzt und somit verboten wurde.105 Der Schriftsteller Stephan Hermlin hatte die Grenzen der SED-Kulturpolitik überschritten, indem er am 11. Dezember 1962 in der Akademie der Künste eine Lesung junger Lyriker durchführte. Daran nahm auch Wolf Biermann teil, dessen Lieder und Gedichte bei den Anwesenden auf lebhafte Zustimmung stießen, darunter sein Lied »An die alten Genossen«, die er dazu aufforderte, den Jungen Platz zu machen. Hermlin wurde daraufhin nach einer inszenierten Kampagne im März 1963 aus seinem Amt als Sekretär der Klasse Dichtkunst und Sprachpflege der Deutschen Akademie der Künste gedrängt.106

Ende März 1963 setzte die SED-Führung ein weiteres unheilvolles Zeichen und lud rund 1 000 Schriftsteller und Künstler zu einer »Beratung« ins Haus des SED-Zentralkomitees ein. Die Hauptredner waren Walter Ulbricht und der SED-Chefideologe Kurt Hager, die die Kulturschaffenden erneut auf die ideologische Linie des »sozialistischen Realismus« festzulegen versuchten. Mehrere Schriftsteller und Kulturschaffende übten daraufhin auf erniedrigende Weise Selbstkritik.107

Die SED folgte mit dieser »Beratung« dem Beispiel der Sowjetunion, wo am 7./8. März 1963 Nikita Chruschtschow und der ZK-Sekretär und -Ideologe Leonid Iljitschow auf einer Tagung mit sowjetischen Schriftstellern und Künstlern von diesen die Rückkehr zum restriktiven »sozialistischen Realismus« im Kulturleben eingefordert hatten und damit eine liberalere Phase der Kulturpolitik beendeten. Darüber hatte die DDR-Presse ausführlich berichtet und somit bereits die härtere Linie angekündigt.108 Trotz dieser Repressionen wandten sich Autorinnen und Autoren wie Christa Wolf erfolgreich von einer »Produktionsliteratur« ab, die »technologisch-ökonomische Rationalität als einziges Bewegungsgesetz der Gesellschaft« anerkennen wollte.109 Stattdessen schufen sie »eine neue, subjektive Erzählstruktur«.110

Matthias Braun resümiert für die DDR-Kulturpolitik der frühen 1960er-Jahre, diese »pendelte zwischen der Duldung künstlerischer Experimente und ihrer exemplarischen Unterbindung konzeptionslos hin und her«.111 Dieses ambivalente Bild trifft gewiss auch auf das Jahr 1963 zu. Erst das 11. Plenum des SED-Zentralkomitees vom 16. bis 18. Dezember 1965 beendete abrupt und eindeutig die Phase relativer Offenheit und ging daher als »Kahlschlagplenum« in die Geschichte ein.

2. Zentrale Themen der Berichterstattung

In der Geschichtsschreibung wird das Jahr 1963 im deutschen Kontext vor allem positiv dargestellt. Davon künden Buchtitel wie der schon zitierte »Aufbruch nach Utopia« und mehr noch solche wie »Dynamische Zeiten« oder »Aufbruch in die Zukunft«112. Das innenpolitische Klima in der DDR wird mitunter, wenngleich zurückhaltend, als »liberal« bezeichnet. Die Informationsberichte des MfS für die Partei- und Staatsführung lassen allerdings eine andere Seite der DDR erkennen. Hier zeichnen sich nicht die Umrisse des Traumlandes Utopia ab, sondern man begegnet einer real existierenden Anti-Utopie, gekennzeichnet von Enge, Unterdrückung und Unzulänglichkeit. Dieser Befund ist nicht überraschend. Denn das MfS als Sicherheitsapparat sah seine Aufgabe ja gerade darin, all jenen Menschen und Vorfällen nachzuspüren, die den Aufbau des Sozialismus möglicherweise behinderten. Dazu gehörten Unfälle, Havarien und ökonomische Schwierigkeiten, aber auch das Verhalten jener Mitmenschen, die das Entstehen der vermeintlich harmonischen »sozialistischen Menschengemeinschaft« störten, die gegen die SED-Herrschaft opponierten, Widerstand leisteten oder aus dem Land fliehen wollten. Der Blick der Stasi auf die DDR erfolgte also aus einer ganz bestimmten Perspektive. Er war weder objektiv noch umfassend. Doch er ist geeignet, den optimistischen Aspekten des Jahres 1963 auch die düsteren zur Seite zu stellen. Das Bild dieses Jahres wird auf diese Weise um wichtige Facetten erweitert.

Von den 233 Informationsberichten des Jahres 1963, die hier ediert werden, handeln etwa 96 von abweichendem, nicht systemkonformem Verhalten, von Protesten und Widerstandshandlungen. Das macht gut 40 Prozent der Informationsberichte aus. Immer wiederkehrende Rapporte über Havarien, Brände und Produktionsausfälle verweisen ebenfalls auf Mängel und Unzulänglichkeiten im sozialistischen Alltag. Meldungen über die bedrängte Lage der Kirchen erinnern an die christlich gebundenen Bürgerinnen und Bürger, die sich am Rande der neuen Gesellschaft wiederfanden. Bereiche wie Kultur und Sport bilden sich regelmäßig in der Berichterstattung des MfS ab, ebenso wie Probleme mit dem Status Berlins und der Präsenz der drei westlichen Siegermächte in Ostberlin, womit der DDR die Grenzen ihrer Souveränität aufgezeigt wurden. Über westliche Nachrichtendienste und westliche Spionage in der DDR wird ganz selten und nur beiläufig berichtet, obwohl dieses Themenfeld zum Hauptkompetenzbereich des MfS gehörte. Gemessen an seiner damaligen Bedeutung und Brisanz ist auch der Bereich der Landwirtschaft auffallend selten Gegenstand der Berichterstattung.

2.1 Flucht und Grenze

Am 13. August 1961 schloss die DDR die letzte offene Grenze nach Westen und begann mit dem Bau der Mauer in Berlin. Der seit 1959 wieder angestiegene Flüchtlingsstrom wurde innerhalb weniger Monate fast vollständig gestoppt.113 Viele Menschen empfanden den Mauerbau als Schock. Zugleich erwies sich der Mauerbau als »ein mobilisierender Faktor, der die generelle Unzufriedenheit und die Ablehnung des SED-Regimes in Protest umschlagen ließ«, resümiert Elke Stadelmann-Wenz.114 Der Sicherheitsapparat reagierte darauf mit einer Verhaftungswelle, die ein solches Ausmaß erreichte, dass selbst Erich Mielke im Dezember 1961 einen Strategiewechsel verlangte: »Wir müssen dazu übergehen, durch neue Methoden in Zusammenarbeit mit der Partei und den gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen die feindliche Tätigkeit zu unterbinden. Es ist nicht möglich, die gegenwärtig hohe Zahl von Festnahmen noch länger beizubehalten«, so Mielke.115 Die oben skizzierte Reformpolitik des Jahres 1963 sollte dazu beitragen, das innenpolitische Konfliktpotenzial zu entschärfen. 1963 stieß das Grenzregime zwar weiterhin auf breite Ablehnung in der Bevölkerung, doch hatten viele Menschen notgedrungen damit begonnen, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren.116 Gleichzeitig blieb die Bereitschaft sehr hoch, das Land zu verlassen, wann immer sich eine Möglichkeit bot; und die geschlossene Grenze blieb für viele eine Provokation, ein Ärgernis, ein Grund zur Verzweiflung.117

Aus dieser Situation heraus resultierte auch 1963 ein anhaltender Druck auf die Grenze, insbesondere in Berlin. Fluchten aus der DDR und das Geschehen an der Grenze bildeten in den Informationen der ZIG 1963 an die Partei- und Staatsführung folgerichtig einen inhaltlichen Schwerpunkt. 44 der 233 Berichte befassen sich überwiegend oder ausschließlich mit dieser Thematik. Darunter befinden sich zum einen Berichte über Fluchtversuche von zumeist jungen Männern, von denen einige ihren Entschluss mit dem Leben bezahlten. Dabei bleibt – wie auch bei anderen Themen und in anderen Jahren – unklar, nach welchen Kriterien die ZIG entschied, über welche Vorfälle sie die Partei- und Staatsführung informierte und über welche nicht. So wurden 1963 insgesamt neun Flüchtlinge bei dem Versuch, nach Westberlin zu gelangen, erschossen oder verunglückten tödlich, doch nur über vier der erschossenen Flüchtlinge fertigte die ZIG einen Informationsbericht an.118

Zum anderen sind verhinderte und gelungene Fluchten von Grenzsoldaten mehrfach Gegenstand der Berichterstattung. Nur vereinzelt wird über Fluchthilfe berichtet. Gelegentlich meldete die ZIG, dass Bundesbürger aus unterschiedlichen Gründen und auf unterschiedlichen Wegen (mit Kraftfahrzeugen, Booten, Flugzeugen) illegal über die Grenze in die DDR kamen. Wie spannungsreich die Situation an der Grenze war, lässt sich auch aus den Berichten absehen, in denen von »Provokationen« des Bundesgrenzschutzes, der Westberliner Polizei und von Angehörigen der US-Armee die Rede ist. Mitunter widersprachen die ZIG-Meldungen inhaltlich den Berichten im »Neuen Deutschland«. Über den spektakulären Fluchtversuch mehrerer Ostberliner mit einem Omnibus in der Invalidenstraße wusste das SED-Zentralorgan, dass darin die Westberliner Fluchthelfergruppe um Detlef Girrmann involviert gewesen sei.119 Dagegen konnte das MfS an die Partei- und Staatsführung nur berichten, man führe »Untersuchungen, inwieweit die festgenommenen Personen mit Westberliner Terrorbanden wie z. B. der Girrmann-Gruppe oder mit in deren Auftrag tätigen Personen Verbindung hatten«, und diese Spur konnte das MfS auch später nicht bestätigen.120

2.2 Protest und Widerstand von jungen Menschen

Proteste und Widerstandshandlungen junger Menschen gegen die Verhältnisse in der DDR bilden in den ersten Monaten des Jahres 1963 einen bemerkenswerten Themenschwerpunkt. Schon Ende Januar 1963 heißt es in einem längeren analytischen Bericht der ZIG, der Anteil Jugendlicher und junger Erwachsener an »Verbrechen staatsgefährdenden Charakters u. ä. feindlicher Handlungen« habe seit dem 13. August 1961 ständig zugenommen. Ende 1961 seien solche Handlungen in rund 42 Prozent der Fälle von jungen Leuten verübt worden, Ende 1962 bereits in über 58 Prozent der Fälle. Gemeint waren vor allem Delikte wie die Verbreitung politischer Parolen gegen die SED-Herrschaft, Fluchtversuche in den Westen sowie rowdyhafte Gewalthandlungen.121

Mehrfach verfasste die ZIG zwischen Januar und Mai 1963 Informationsberichte über die Verhaftung »jugendlicher Untergrundgruppen«, die in Ostberlin und in den Bezirken Potsdam, Magdeburg, Halle, Leipzig, Karl-Marx-Stadt und Gera aktiv waren.122 Bei diesen Gruppen handelte es sich zumeist um kleinere Freundeskreise, denen im Durchschnitt fünf junge Leute angehörten. Manche Gruppen gaben sich Namen wie »Deutsche Befreiungsfront«, »Organisation Freies Deutschland«, »Großdeutscher Geheimbund« oder »Deutscher Wiedervereinigungsbund« und diskutierten in zum Teil geheimbündlerischer Manier darüber, wie das SED-Regime gestürzt werden könnte.123 Konkret ging es aber immer darum, den politischen Unmut öffentlich kundzutun. Manche verfassten Flugblätter, die sie mühsam mit Schreibmaschine oder Druckkästen vervielfältigten und in Hausbriefkästen warfen oder irgendwo anklebten, andere schrieben ihre Losungen an Häuserwände. Typisch für den Inhalt solcher Äußerungen sind die Forderungen, die fünf Jenaer Jugendliche im Alter von 18 bis 20 Jahren im Februar 1963 an Fassaden ihrer Heimatstadt pinselten: »Gib uns mehr zu essen Ulbricht oder lass uns raus! ›Freiheit‹« sowie »Weg mit Ulbricht, gebt uns Freiheit. Gebt uns was zum Fressen«.124

Im Jargon des MfS handelte es sich hier um »Hetzlosungen«. Mitunter bedienten sich die Jugendlichen eines Vokabulars aus der NS-Zeit. Daher ist es umso beachtlicher, wie sehr sich die ZIG in einer Analyse für Erich Honecker Ende März 1963 dennoch darum bemühte, die Handlungen und Haltungen der Jugendlichen differenziert zu sehen und auch gängige gruppendynamische Prozesse in die Betrachtung einbezog.125 Zumeist seien es nur einzelne, aber dominierende Gruppenmitglieder gewesen, die rechtsextremes Gedankengut propagierten und damit die anderen »verseuchten«, auch inspiriert durch westliche Rundfunksendungen. Die meisten der »staatsfeindlichen« Jugendlichen hätten jedoch keine ausgeprägt ablehnende Haltung zur DDR und oftmals nur »verworrene und unklare politische Vorstellungen«; sie seien allenfalls von Abenteuerlust getrieben und wollten in der Gruppe nicht als Außenseiter gelten, so der Tenor der ZIG-Analyse, und manchen würden diese Protestformen »als Ausgleich« für eine Flucht dienen, die ihnen nicht mehr möglich war. Schließlich nahm die ZIG auch Staat und Gesellschaft in die Verantwortung: Die real vorhandenen »Mängel und Schwierigkeiten« im Land hätten die Jugendlichen in ihren kritischen Vorstellungen bestätigt, und Schule, FDJ, Elternhäuser und Arbeitsstellen hätten ihre erzieherischen Aufgaben nicht erfüllt.126 Die oftmals unpolitische Haltung erkannte das MfS auch daran, dass sich der Zusammenhalt in einer Gruppe lockerte, sobald die jungen Männer eine feste Freundin hätten oder beruflich stärker gefordert würden.127

Diese Analyse ist bereits geprägt von Mielkes Befehl Nr. 264/62 zur Entwicklung der Rechtspflege und dem Geist der Justizreform und des Rechtspflegeerlasses, zu dem sich Erich Mielke in einem Rundfunkinterview am 23. April 1963 öffentlich bekannte: sorgfältige Ursachenforschung zu betreiben und zu differenzieren zwischen echten Staatsverbrechern einerseits und jenen, deren Taten keine feindliche Haltung gegenüber dem Sozialismus zugrunde liege.128 Dieser Trend erfasste im Übrigen nicht nur MfS und Justiz, sondern auch die Volkspolizei (VP), die sich nun ebenfalls bemühte, beispielsweise auf Formen von Jugendkriminalität und Rowdytum differenzierter zu reagieren.129 Doch auch in den differenzierteren Analysen transportierten die ZIG-Informationen die Botschaft an die Partei- und Staatsführung, wie groß das Unzufriedenheitspotenzial unter jungen Menschen war. Vor diesem Hintergrund erscheint die These erst recht plausibel, dass das SED-Jugendkommuniqué vom September 1963 eine Reaktion auf die mangelnde Akzeptanz des SED-Systems unter den zukünftigen »Hausherren« darstellte.130

Das MfS verfolgte und unterband die widerständigen Handlungen der jungen Menschen zwar weiterhin konsequent und erbarmungslos, nahm ihnen in seiner Analyse zu dieser Zeit aber ihren politischen Charakter. Das dürfte teilweise angemessen gewesen sein, ließ aber jene unberücksichtigt und – aus heutiger Sicht – ungewürdigt, die sich tatsächlich für mehr demokratische Mitbestimmung und Meinungsfreiheit einsetzten.131 Schließlich war es kein Zufall, dass im Herbst 1963 erneut vermehrt über selbst gefertigte Protestflugblätter berichtet wurde: Anlass hierfür waren die Volkskammerwahlen am 20. Oktober 1963, die den Menschen eben keine Wahl ermöglichten, weshalb einige ihre abweichenden Ansichten auf Handzetteln und Flugblättern kundtaten.132

2.3 Streiks und Arbeitsniederlegungen

Unter Jugendlichen und Arbeitern, teilweise auch unter der Landbevölkerung, sei die Protestbereitschaft in den 1960er-Jahren in der DDR besonders ausgeprägt gewesen, stellt Elke Stadelmann-Wenz fest. Sie stützt ihre Aussage auf zahlreiche Berichte des SED-Parteiapparats. Es seien also ausgerechnet jene Gruppen protestbereit gewesen, auf die sich die SED mit der Legitimation ihres »Herrschafts- und Führungsanspruchs« ganz besonders berufen habe.133

Tatsächlich enthalten die ZIG-Informationen für 1963 neben den Berichten über widerständiges Verhalten junger Menschen immer wieder auch Meldungen über Streiks und Proteste von Arbeitern.134 Den regionalen Berichtsschwerpunkt bildete der Bezirk Karl-Marx-Stadt, wo das MfS 1962 insgesamt 39 Arbeitsniederlegungen zählte und in den ersten neun Monaten des Jahres 1963 bereits 38.135 Den Anlass für die Arbeitsniederlegungen bildeten demnach stets Lohnforderungen oder Proteste gegen Lohnkürzungen, zum Teil verbunden mit Widerständen gegen höhere Arbeitsnormen, die einer Lohnreduzierung gleichkamen. Alle Streiks konnten innerhalb einiger Stunden von den Betriebsleitungen und lokalen SED-Funktionären beendet werden, häufig indem sie den Forderungen der Arbeiter entgegenkamen. Ganz offenkundig versuchte die Staatsmacht, auf den vorhandenen Unmut der arbeitenden Bevölkerung deeskalierend zu reagieren, sodass die Proteste unpolitisch blieben und die Arbeiter sich auf die Durchsetzung ihrer sozialen Interessen beschränkten.136 Auch für nazistische Schmierereien in einem Zwickauer Steinkohlerevier bot das MfS eine unpolitische Erklärung, indem es einen Brigadeleiter zitierte, der über jeden Verdacht erhaben war: »… wenn die einschneidenden Lohnmaßnahmen nicht gekommen wären, dann wären auch keine Hakenkreuze und Hetzlosungen geschmiert worden.«137

2.4 Vorfälle in der Polizei, der Armee und den Grenztruppen

Die SED stützte ihre Macht zu einem erheblichen Maße auf die bewaffneten Sicherheitskräfte: auf Polizei, Armee und Staatssicherheit. Das MfS wiederum verstand sich als Aufpasser über die beiden anderen Staatsorgane und verfügte über je eine Hauptabteilung, die sich mit der geheimdienstlichen Überwachung des Innenministeriums einschließlich der Volkspolizei bzw. des Verteidigungsministeriums und der Armee befasste.138 In den ZIG-Informationen des Jahres 1963 spielen Berichte über Sicherheitsdefizite und regelwidrige Vorkommnisse in der Nationalen Volksarmee einschließlich der Grenztruppen sowie in der Volkspolizei eine gewichtige Rolle.139

Die Sicherheitskräfte befanden sich zu dieser Zeit in einer Umbruchphase mit zahlreichen Veränderungen, die unmittelbar mit dem Mauerbau zusammenhingen. Bereits am 15. September 1961 wechselte die Unterstellung der DDR-Grenztruppen vom Ministerium des Innern zum Ministerium für Nationale Verteidigung, die nun als »Kommando Grenze der NVA« (kurz: NVA/Grenze) bezeichnet wurden. Lediglich die Grenztruppen rund um Westberlin verblieben zunächst im Innenministerium. Sie wurden erst am 23. August 1962 einer neu gebildeten Stadtkommandantur (Ost-)Berlin unterstellt, die aus drei Grenzbrigaden bestand. Die Stadtkommandantur gehörte bis 1971 nicht zum Kommando Grenze der NVA, sondern unterstand direkt dem Verteidigungsministerium.140

Schon am 28. August 1961, rund zwei Wochen nach dem Mauerbau, beschloss der Nationale Verteidigungsrat die Einführung der Wehrpflicht in der DDR. Die Möglichkeit, sich durch Flucht dem Wehrdienst zu entziehen, gab es nicht mehr. Im Januar 1962 trat das Wehrpflichtgesetz in Kraft und im April 1962 wurden die ersten Wehrpflichtigen in die NVA eingezogen. Dadurch dienten nun viele junge Männer in der Armee, die dem sozialistischen Staat eher ablehnend gegenüberstanden. Armee, Justiz und Staatssicherheit reagierten auf ihre Weise auf die neue Situation. Die NVA erließ im Januar 1963 eine verschärfte Disziplinarvorschrift, das MfS baute ab 1962 zielstrebig sein IM-Netz in der NVA und den Grenztruppen aus und im Rahmen der Justizreform etablierte man im April 1963 auch eine eigene Militärgerichtsordnung. Im Jahr 1963 führte die Militärjustiz in der NVA rund 3 600 Ermittlungsverfahren durch – das war der höchste Wert in den 1960er-Jahren.141

Diese Entwicklung schlug sich in den ZIG-Informationen nieder. Fahnenfluchten von einfachen NVA-Soldaten, von Angehörigen der Grenztruppen und der Grenzbrigaden rund um Berlin waren immer wieder Thema. Nach welchen Kriterien die ZIG entschied, welche Vorfälle sie weitermeldete, ist jedoch auch hier nicht ersichtlich. 1963 verzeichnete allein die NVA 380 Soldaten, die in den Westen fahnenflüchtig wurden, wobei die meisten von ihnen an der Grenze eingesetzt waren.142 Die ZIG erfasste in ihren Meldungen also nur einen kleinen Teil dieses Geschehens. Mitunter nahm sich die ZIG einzelne Militäreinheiten vor und informierte die Partei- und Staatsführung über moralisches und dienstliches Fehlverhalten höherrangiger Militärs, weil man darin auch sicherheitspolitische Gefahren sah. Vereinzelt waren auch Diebstähle von Waffen oder Dienstausweisen ein Thema. Wiederholt benannte die ZIG Alkohol als Ursache für Fluchten, tödliche Schießereien und undiszipliniertes Verhalten.

Eine auffallend positive Grundtendenz wiesen nur die Berichte über die Militärübung »Quartett« auf, die im September 1963 durchgeführt wurde. Es handelte sich um das erste Großmanöver der Armeen der Sowjetunion, der DDR, Polens und der Tschechoslowakei auf dem Gebiet der DDR mit rund 41 000 Soldaten. Das MfS fungierte als heimlicher Manöverbeobachter und meldete zwar eine ganze Reihe an vereinzelten Vorfällen, bemühte sich aber offensichtlich, den Manöververlauf insgesamt positiv zu schildern.143

Ebenso wie die Armee sah sich auch die Volkspolizei 1963 vor neue Aufgaben gestellt. Nach Einführung der Wehrpflicht verschlechterte sich zunächst die Rekrutierungsbasis für die Volkspolizei. Dies geschah vor dem Hintergrund einer enorm hohen Personalfluktuation. 1963 wurden außerordentlich viele Polizisten, fast 13 000, aus dem Dienst entlassen, worunter 46 Prozent »auf eigenen Wunsch« ausschieden, weil sie mit den Arbeitsbedingungen offenkundig unzufrieden waren. Dem standen 1963 nur 2 131 Neueinstellungen gegenüber.144 Selbstverständlich gab es in der Volkspolizei eine bemerkenswerte Anzahl an Disziplinarverstößen, -vergehen und -verbrechen, doch sank ihre Anzahl seit den späten 1950er-Jahren kontinuierlich.145 Mit dem Mauerbau hatte sich auch das Problem der Flucht weitgehend erledigt: 1963 setzten sich nur noch neun Polizisten in den Westen ab.146 Die drei ZIG-Informationsberichte über Vorfälle in der Volkspolizei bildeten die dortigen Zustände und Entwicklungen allenfalls bruchstückhaft ab.147 Der Bericht »über die Liquidierung einer staatsfeindlichen Gruppe in der 4. VP-Bereitschaft Magdeburg« war geeignet, Fragen nach Loyalität und Zuverlässigkeit aufzuwerfen. Dort herrschte demnach eine antikommunistische und faschistische Grundstimmung, die so weit ging, dass ein Porträtfoto Walter Ulbrichts als Zielscheibe für Schießübungen verwendet wurde.148 Indem der Bericht abschließend die 11. VP-Bereitschaft Magdeburg positiv hervorhob, vermittelte er indes die Botschaft, dass es sich bei den Zuständen der 4. VP-Bereitschaft um eine Ausnahme handelte und das MfS die Lage im Griff hatte.

2.5 Sport

Der Leistungssport spielte in der DDR eine herausragende Rolle. In den 1960er-Jahren sollte er unter anderem die Bemühungen der DDR-Führung unterstützen, die internationale Reputation und staatliche Anerkennung der DDR voranzubringen. Er hatte also auch eine große politische Bedeutung, die sich in den ZIG-Informationen des Jahres 1963 widerspiegelt.149 Inhaltlich ging es in den Berichten um drei Themenfelder:

Das erste Themenfeld war die internationale Sportpolitik. Dort wurde 1962/63 um die Frage gerungen, in welchem Rahmen die deutschen Sportler an den Olympischen Spielen 1964 teilnehmen sollten. Nach kontroversen Verhandlungen einigte sich der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees Avery Brundage am 6. Februar 1963 mit den Präsidenten der beiden deutschen Nationalen Olympischen Komitees Willi Daume (BRD) und Heinz Schöbel (DDR) in Lausanne darauf, dass an den Olympischen Spielen 1964 in Innsbruck und Tokio wie bisher eine gesamtdeutsche Mannschaft mit gemeinsamer Hymne, Flagge und gemeinsamem Emblem antreten werde. Die Teilnehmer der gesamtdeutschen Mannschaft wurden vorab in innerdeutschen Ausscheidungswettbewerben ermittelt.150

Zum zweiten wirkten sich die Grundideen des Neuen Ökonomischen Systems auch auf die DDR-Sportpolitik aus. Die Förderung des Leistungssports erhielt 1963 neue Vorgaben und Impulse. Die Strukturen der Sportclubs, die Mitte der 1950er-Jahre als Zentren für den Hochleistungssport gegründet worden waren, wurden nun durch Fusionen und Neugründungen klarer ausgebildet.151 Die Informationsberichte des MfS sollten hier Auskunft über den Leistungsstand der Sportlerinnen und Sportler und somit auch über die Wirksamkeit der sportpolitischen Bemühungen geben und auf Mängel und Probleme im Training und in der Sportpolitik hinweisen.

Das dritte Thema war das Problem der Flucht. Denn das Bemühen des DDR-Sports um internationale Anerkennung brachte es mit sich, dass DDR-Sportlerinnen und -Sportler an internationalen Sportwettkämpfen auch im westlichen Ausland teilnahmen. Hier sah das MfS seine Aufgabe darin, Fluchtabsichten rechtzeitig zu erkennen und Fluchten in den Westen zu verhindern.152

Mit besonderer Vorsicht sind die Berichte »über Ansichten von Leistungssportlern zu Problemen des Sports in der DDR« zu lesen.153 Sie suggerieren authentische Stellungnahmen einzelner Sportlerinnen und Sportler. Doch gelten hier jene Zweifel, die bereits in der Einleitung der Edition der ZIG-Berichte 1964 vorgebracht wurden: »Die in den ZIG-Berichten aufgereihten Äußerungen verschiedener Sportler sind in der Regel weder verifizierbar noch jenen zuzuordnen, denen sie vom MfS in den Mund gelegt wurden.«154 Mitunter enthielten sie auch »Schutzbehauptungen von Sportlern, die realiter unerwünschtes Verhalten verschleiern sollten – wie den sportlich fairen und freundschaftlichen Umgang mit westdeutschen Kollegen«. Offenbar dienten die Berichte vor allem dazu, »verbreitete Stimmungen und Probleme zu illustrieren«, während die sachlich korrekte Darstellung zweitrangig war.155

In einer Sport-Information vom März 1963 räumte die ZIG diese Defizite sogar ein und vermerkte abschließend: »Bei den Informationen im Zusammenhang mit Helmut R. wurde vom MfS nicht überprüft, ob es sich um Tatsachen oder Gerüchte handelt. Unabhängig davon wäre aber beides für den Weltmeister eine denkbare Belastung im Training und Wettkampf, weshalb wir Ihnen diese Hinweise mitteilen.«

2.6 Literatur, Kunst und Kultur

Der VI. SED-Parteitag im Januar 1963 und eine »Beratung« der SED-Führung mit rund 1 000 Schriftstellern und Künstlern Ende März 1963 verfolgten unmissverständlich die Absicht, das Kulturleben erneut auf die ideologische Linie des »sozialistischen Realismus« festzunageln. Nur im Kontext dieser beiden Veranstaltungen erachtete es das MfS für erforderlich, die Partei- und Staatsführung über Auffassungen und Haltungen insbesondere der Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu informieren. Zwei Berichte vom 24. Januar und 1. Februar 1963 behandelten eine deutsch-deutsche Schriftstellertagung, die von der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg im Ostberliner Bezirk Weißensee durchgeführt wurde, und zwar nur wenige Tage nach dem VI. SED-Parteitag. Der Fokus der beiden MfS-Berichte lag auf der Frage, inwieweit sich die dort teilnehmenden DDR-Schriftsteller gegen die »sozialistische Gesellschaftsordnung« und gegen »gegen die Kulturpolitik von Partei und Regierung« ausgesprochen hatten.156

Am 22. März 1963 verfasste die ZIG eine Information »über die Reaktion von Kulturschaffenden der DDR auf den VI. Parteitag der SED«.157 Zu diesem Zeitpunkt lag der Parteitag schon zwei Monate zurück. Es stand aber am 25. und 26. März die oben erwähnte »Beratung« der SED-Führung mit Schriftstellern und Künstlern an. Der zeitliche Zusammenhang legt es nahe, dass das MfS mit seiner Information vom 22. März die beiden Hauptredner Walter Ulbricht und Kurt Hager noch rechtzeitig mit Hintergrundwissen versorgen wollte.158 In der Information warnte es davor, dass viele Schriftsteller mit dem rigiden kulturpolitischen Kurs der SED auf dem VI. Parteitag und danach nicht einverstanden seien. Und es erweckte abschließend den Eindruck, die Partei müsse die »volksverbundenen« Künstler vor den »immer noch zahlreichen Anhängern einer liberalistischen Kunstauffassung« in Schutz nehmen.

In zwei Berichten informierte die ZIG kurz darauf über die Resonanz der »Beratung«.159 Nun scheute sie kritische Töne. Die Auftritte Kurt Hagers und Walter Ulbrichts seien von den Anwesenden »positiv eingeschätzt« worden, ebenso die damit verbundene »Klärung der Grundfragen auf kulturellem Gebiet«. Nur »einzelne Kulturschaffende« hätten sich noch kritisch geäußert. Doch ähnlich wie bei den Sport-Informationen ist auch bei diesen Berichten in Rechnung zu stellen, dass das MfS einzelnen Schriftstellern und Künstlern Aussagen zuschrieb, die sie in dieser Form nicht getätigt hatten. Die Botschaft der Berichte sollte offenbar lauten, die »Beratung« habe ihr Ziel erreicht.

2.7 Kirchen

Für die SED gehörten die Kirchen in der DDR immer zu den Hauptgegnern. Das war teils weltanschaulich begründet, teils machtpolitisch, da die Kirchen dem umfassenden Herrschaftsanspruch der SED im Wege standen. Die Folgen des sowohl offen als auch verdeckt geführten Kampfes gegen die Kirchen waren in den frühen 1960er-Jahren schon unübersehbar. Der Anteil der Konfessionslosen in der DDR war von 7,6 Prozent 1950 auf 31,9 Prozent 1964 gestiegen.160 Vor allem junge Menschen entfernten sich von den Kirchen, bedeutete ein christliches Bekenntnis doch häufig schlechtere Berufs- und Entwicklungschancen. Nach dem Mauerbau verstärkte die SED dann den Druck auf die evangelischen Landeskirchen in der DDR, sich von der gesamtdeutschen EKD zu trennen. In der Situation der Bedrängnis verabschiedete die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR (KKL) am 8. März 1963 die »Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche«. Sie waren, wie der Theologe Ehrhart Neubert schreibt, ein »Dokument der Selbstbehauptung und des Widerstandes gegen Ideologie und Praxis des SED-Staates«.161 Der SED-nahe »Weißenseer Arbeitskreis«, in dem sich seit 1958 sozialistische evangelische Theologinnen und Theologen in der DDR zusammenfanden, antwortete darauf am 26. November 1963 mit »Sieben Sätze[n] von der Freiheit der Kirche zum Dienen«. Beide Dokumente orientierten sich an der Barmer Theologischen Erklärung der Bekennenden Kirche von 1934.162 Die KKL leitete daraus eine Ablehnung totalitärer Herrschaft ab. Der »Weißenseer Arbeitskreis« bejahte dagegen die DDR als den antifaschistischen Staat; allerdings waren die »Sieben Sätze« vorab mit dem SED-Zentralkomitee und dem MfS abgestimmt worden.163

Der fünfte der »Zehn Artikel« war von tagespolitischer Bedeutung. Denn die Kirche setzte sich darin ausdrücklich »für den gesetzlichen Schutz der Wehrdienstverweigerer aus Glaubens- und Gewissensgründen ein«.164 Sie bot zwar ebenso den Soldaten ihre Seelsorge an, doch in ihrem Einsatz für das Recht auf Wehrdienstverweigerung positionierte sie sich offen gegen das erst im Januar 1962 erlassene Gesetz zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht.165

Das ganze Jahr 1963 hindurch verfasste die ZIG immer wieder Informationsberichte über kirchliche Themen.166 Der Fokus des MfS war jedoch auch hier nur auf ganz bestimmte Aspekte gerichtet. Die »Zehn Artikel« spielen darin beispielsweise überhaupt keine Rolle. Aus dem Bereich der evangelischen Kirche informierten ausführliche Berichte über die Synoden der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg im Februar 1963 in beiden Teilen Berlins, über die EKD-Synode in Bethel im März 1963 und über die Synode der Evangelischen Kirche der Union (EKU) in Ostberlin im Juni 1963. Allein die drei Berichte über die EKU-Synode umfassten insgesamt 22 Seiten und zeugen damit schon äußerlich von der Informationsdichte. Inhaltlich ging es um kirchenpolitische Strömungen und Positionen einzelner Synodaler und Theologen, vor allem aber um die Bemühungen der Synoden und Kirchenleitungen, die organisatorische Einheit der Kirchen zu bewahren. Das betraf die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburgs, die durch die Mauer geteilt wurde, sowie jene kirchlichen Zusammenschlüsse, denen Landeskirchen aus Ost und West angehörten, wie die EKD oder die EKU. Deren Synoden setzten sich aus Mitgliedern aus beiden deutschen Staaten zusammen. Nachdem das SED-Zentralkomitee im Februar 1963 Reiseverbote für Synodale aus West und Ost veranlasst hatte, konnten diese Synoden nicht mehr zu gemeinsamen Beratungen aller Mitglieder zusammenkommen, sondern mussten in Ost und West getrennt tagen. Die kirchlichen Bemühungen, trotzdem die institutionelle Einheit zu wahren, ließen sich nur noch wenige Jahre durchhalten.167 1969 organisierten sich die acht östlichen Landeskirchen im »Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR« und schieden aus der EKD aus. Die SED hatte damit ein wichtiges kirchenpolitisches Ziel erreicht und die ZIG-Informationen 1963 ordnen sich in diesen Kontext ein.

Die katholische Kirche erfuhr, gemessen an ihrer geringen Mitgliederzahl in der DDR, vergleichsweise große Beachtung. Drei Berichte analysierten zum einen die Tendenzen des reformorientierten Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–65) und dokumentierten Erklärungen der katholischen Bischöfe in der DDR zum Wehrpflichtgesetz und zu Fragen des Friedens. Hintergrund dieser Aufmerksamkeit bildete unter anderem die päpstliche Enzyklika »Pacem in terris« (Friede auf Erden) vom 11. April 1963. Darin wandte sich Papst Johannes XXIII. erstmals nicht nur an die Katholiken, sondern an »alle Menschen guten Willens« und rief zur friedlichen Lösung von Konflikten unter Achtung der Menschenrechte auf. Dies wurde auch von der SED-Führung registriert und als Bestätigung ihrer Version einer Politik der »friedlichen Koexistenz« aufgefasst. Zudem bemühten sich unter anderem die DDR-CDU und marxistische Philosophen, die »progressiven« Teile der Enzyklika als Beleg dafür heranzuziehen, dass Katholiken in der DDR für die sozialistische Gesellschaftsordnung eintreten könnten. Die Enzyklika wurde insofern für die staatliche »Differenzierungspolitik« gegenüber der katholischen Kirche instrumentalisiert. Gegen solche Vereinnahmungsversuche positionierten sich wiederum die katholischen Bischöfe in der DDR.168

2.8 Unglücksfälle, Mängel und Hemmnisse in der Produktion

Berichte über Brände und Zugunfälle, Havarien in Industriebetrieben sowie Mängel und Hemmnisse in der Produktion bilden immer wiederkehrende Themen.169 Meistens wurden die Berichte mit Angaben über die Ursachen der Vorfälle verbunden. In fast allen Fällen musste das MfS menschliches Versagen, Nichteinhaltung bestehender Vorschriften, Schwächen des Leitungspersonals, Planungsmängel, Schlamperei und Gleichgültigkeit, Misswirtschaft sowie Materialverschleiß feststellen. Mehrfach gab das MfS in diesen Berichten konkrete Handlungsempfehlungen. Unklar bleibt auch hier das Kriterium, nach dem die ZIG bestimmte Vorfälle als berichtenswert einstufte und viele andere nicht.

2.9 Zur Lage und zum Status Berlins

Der Viermächtestatus Berlins und die daraus resultierenden Besonderheiten sind immer wieder Gegenstand der ZIG-Berichte.170 Dazu zählte vor allem das Auftreten westalliierter Militärangehöriger in Ostberlin, womit den DDR-Behörden permanent ihre eingeschränkte Souveränität in der eigenen Hauptstadt vor Augen geführt wurde. Umgekehrt verfügten DDR-Institutionen über Rechte auf dem Schienen- und Wasserstraßennetz in Westberlin, weshalb auch über dortige Vorkommnisse, einschließlich der Lohnforderungen Westberliner Reichsbahnmitarbeiter, berichtet wurde. Gelegentlich lieferte die ZIG Statistiken über den Reiseverkehr aus dem Westen nach Ostberlin. Über Ostberlin-Besuche herausgehobener Persönlichkeiten wie des US-Politikers Richard Nixon fertigte die ZIG eigene Informationsberichte an.

2.10 Die Passierscheinvereinbarung vom Dezember 1963

Am 17. Dezember 1963 schlossen die Regierung der DDR und der Berliner Senat die erste Passierscheinvereinbarung ab. Sie erlaubte es Bürgern mit ständigem Wohnsitz in Westberlin, im Zeitraum vom 19. Dezember 1963 bis zum 5. Januar 1964 nahe Verwandte in Ostberlin zu besuchen. Seit Ende August 1961 hatte die DDR den Westberlinern die Einreise nach Ostberlin und in die DDR verwehrt und den eigenen Bürgern waren Reisen in den Westen sowieso versagt.171 Viele Familien waren auseinandergerissen worden und hatten seit über zwei Jahren keine Möglichkeit mehr gehabt, sich zu begegnen. Eine damalige Erhebung des Berliner Senats ergab, dass im November 1963 rund 800 000 der 2,2 Millionen Einwohner Westberlins nahe Angehörige in Ostberlin hatten.172 Der Kreis derjenigen, denen die Passierscheinvereinbarung zugute kam, war also groß und die öffentlichen Erwartungen im Spätherbst 1963, dass es zu Weihnachten eine Besuchsmöglichkeit geben würde, waren enorm hoch.

18 ZIG-Informationen behandelten die Passierscheinvereinbarung von 1963. Sie entstanden alle erst gegen Jahresende, im Zeitraum vom 12. Dezember 1963 bis 4. Januar 1964. In diesen dreieinhalb Wochen dominierte dieses Thema die Berichterstattung der ZIG. Neben den 18 Informationen über die Passierscheinvereinbarung fertigte die ZIG in diesem Zeitraum nur noch neun Berichte über andere Themen an.

Die Informationen über die Passierscheinvereinbarung haben unterschiedlichen Charakter. Alle ein bis zwei Tage verfasste die ZIG einen nüchternen Bericht über den Verlauf der Passierscheinaktion und besondere Vorfälle und mit jeweils aktualisierten Statistiken über Antragsteller und Reisende und stellte sie fast alle einem außergewöhnlich großen Empfängerkreis in der Partei- und Staatsführung zu.173 Daneben fertigte sie einige Stimmungsberichte an, die sie jedoch nicht extern verteilte.174 Außerdem erstellte sie am 20. Dezember zwei Berichte, die über interne Einschätzungen Egon Bahrs zum bisherigen Verlauf der Passierscheinaktion informierten, doch nur der oberflächlichere und kürzere der beiden Hintergrundberichte wurde an die Partei- und Staatsführung gegeben.175

Die herausragende politische Bedeutung der Passierscheinvereinbarung und ihre Vorgeschichte werden in den ZIG-Berichten nur teilweise thematisiert. Die Vorgeschichte reicht bis in den August 1961 zurück. Nachdem die DDR am 13. August 1961 die innerstädtische Grenze in Berlin geschlossen hatte, war es Westberlinern zunächst weiterhin gestattet, nach Ostberlin einzureisen. Am 22. August 1961 verfügte das DDR-Innenministerium, dass die Einwohner Westberlins hierfür fortan eine »Aufenthaltsgenehmigung« benötigten, die sie bei Zweigstellen des Deutschen Reisebüros (DER) der DDR in Westberlin beantragen mussten und später dort ausgehändigt bekommen sollten. Die Anträge sollten in Ostberlin geprüft und ggf. bewilligt werden, sodass das hoheitliche Handeln im Ostteil der Stadt vorgenommen würde. Der Ostberliner Oberbürgermeister Friedrich Ebert ersuchte noch am 22. August 1961 den Berliner Senat um Genehmigung, solche Zweigstellen einzurichten. Ohne eine Zustimmung abzuwarten, wurden in den S-Bahnhöfen Zoologischer Garten und Westkreuz entsprechende DER-Schalter eröffnet. Am 26. August 1961 erließen die Westalliierten ein Verbot und veranlassten die Westberliner Behörden noch am selben Tag, die beiden Schalter zu schließen.176 Während Westdeutsche weiterhin zu Tagesaufenthalten nach Ostberlin einreisen durften, hatten Westberliner diese Möglichkeit fortan nicht mehr. Der Ostberliner Vorschlag mit den Reisebüro-Zweigstellen gab, so Eckart Huhn, »das Muster vor, nach dem die Abwicklung der Beantragung und Ausgabe der Passierscheine dann in der Vereinbarung vom 17.12.1963 ausgehandelt war«. Die »niemals vollkommen einsichtige« Schließung der DER-Zweigstellen erklärt Huhn mit der aufgeheizten Stimmung, die in den Tagen und Wochen nach dem Mauerbau herrschte.177

Die Politik stand also vor der Aufgabe, die Mauer wieder ein bisschen durchlässiger zu machen. Mit diesem Ziel wandte sich der Berliner Senat im November 1961 über das Deutsche Rote Kreuz (DRK) an die Ostberliner Behörden und schlug Verhandlungen über »Erleichterungen für den Personenverkehr über die Sektorengrenze« vor. Der Ostberliner Polizeipräsident Fritz Eikemeyer ließ über das DRK antworten, dass solche Verhandlungen nur direkt zwischen der Regierung der DDR und dem Westberliner Senat stattfinden könnten, nicht jedoch über das DRK. Damit war die Konfliktlinie vorgegeben: Die Westberliner Seite strebte Reiseerleichterungen an, wollte die komplizierten Statusfragen Berlins sowie eine Anerkennung der DDR aber möglichst ausklammern.178 Ihr schwebten rein praktische Absprachen vor, wie sie nach dem 13. August 1961 zwischen Ost- und Westberlin im Rahmen »technischer Kontakte« weiterhin getroffen wurden.179 Die DDR-Seite sah in solchen Verhandlungen die Chance, die DDR als Staat aufzuwerten sowie Westberlin als eigenständige politische Einheit darzustellen. Diese von östlicher Seite vertretene »Drei-Staaten-Theorie« zielte auf Aufhebung der Bindungen Westberlins an die Bundesrepublik und die Einschränkung der westalliierten Rechte in Berlin. Das gesamte Jahr 1962 über fanden auf verschiedenen Ebenen Sondierungsgespräche zwischen Ost und West über die angestrebten Reiseerleichterungen statt. Sie blieben ohne praktische Ergebnisse, vermittelten der jeweils anderen Seite aber Erkenntnisse über deren »Vorstellungen und Verhandlungsspielräume«.180

Im Jahr 1963 gerieten die Dinge in Bewegung. Die SPD ging aus der Berliner Abgeordnetenhauswahl im Februar mit fast 62 Prozent der Stimmen als Siegerin hervor und der Regierende Bürgermeister Willy Brandt konnte die große Koalition mit der deutschlandpolitisch unbeweglichen CDU beenden. Die SED Westberlin sackte auf 1,3 Prozent ab. Nun übte auch der sowjetische Botschafter in Ostberlin Pjotr Abrassimow Druck auf die SED aus, um Reiseerleichterungen zu erreichen, da der gegenwärtige Zustand die sozialistischen Staaten in ein schlechtes Licht rücke. Im Oktober 1963 wurde in Bonn Ludwig Erhard zum Nachfolger von Bundeskanzler Konrad Adenauer gewählt. Im Sommer 1963 hatten Egon Bahr und Willy Brandt in Tutzing ihr Konzept einer Entspannungspolitik vorgestellt, das sich in die Vorstellungen von US-Präsident John F. Kennedy einfügte, die er im Juni 1963 in einer Rede dargelegt hatte.181 Im Juli 1963 schlug Willy Brandt die Bildung einer Kommission aus je zwei Ost- und Westjuristen unter dem Dach des DRK vor, die über Reiseerleichterungen sprechen sollte. Er signalisierte damit erneut seine Verhandlungsbereitschaft und zugleich die Bedingung, unterhalb einer völkerrechtlichen Ebene zu bleiben. Die DDR lehnte ab und bot stattdessen an, Juristen sollten ohne Einbeziehung des DRK über die Bildung einer Kommission verhandeln, was wiederum der Senat ablehnte.182

Im Dezember überschlugen sich dann die Ereignisse. Am 5.12. überbrachte der Westberliner Interzonenhändler Werner Schiebold dem Regierenden Bürgermeister ein Schreiben des stellvertretenden DDR-Ministerratsvorsitzenden Alexander Abusch. Abusch teilte mit, die DDR-Regierung sei bereit, in der Zeit vom 15. Dezember 1963 bis 5. Januar 1964 in Westberlin Ausgabestellen für Passierscheine eizurichten, mit denen Westberliner ihre Verwandten in Ostberlin besuchen könnten. Er erklärte sich zu einem Gespräch darüber mit Willy Brandt oder einem Vertreter bereit. Der Zeitpunkt der Offerte war, so Steffen Alisch, gut gewählt, weil der Senat unter hohem Erwartungsdruck der Westberliner Bevölkerung stand, zu Weihnachten eine Besuchsregelung zu erreichen.183 Am 10. Dezember übergab Werner Schiebold die Westberliner Antwort an Abusch, unterzeichnet vom Chef der Staatskanzlei Dietrich Spangenberg; demnach stehe ein Senatsrat für »technische Gespräche« zur Verfügung.184

Es ist auch im Rückblick noch erstaunlich, mit welcher Zielstrebigkeit, Intensität und Geschwindigkeit die Verhandlungen dann geführt und umgesetzt wurden, doch hatten beide Seiten ein Interesse an einem Erfolg. In sieben Verhandlungsrunden, die an nur fünf Tagen zwischen dem 12. und 17. Dezember 1963 stattfanden, brachten Senatsrat Horst Korber und DDR-Kulturstaatssekretär Erich Wendt eine Passierscheinvereinbarung zustande, die die unterschiedlichen Rechtsauffassungen respektierte oder ausklammerte.185 Das Protokoll, das sie letztlich auf Weisung des Senats bzw. der DDR-Regierung am 17. Dezember 1963 unterzeichneten, sowie die Protokollanlage bestimmte, dass vom 19. Dezember 1963 bis 5. Januar 1964 Bürger Westberlins ihre Verwandten in Ostberlin besuchen durften. Zu diesem Zweck werde vom 18. Dezember 1963 bis 4. Januar 1964 in jedem Westberliner Bezirk eine Stelle eingerichtet, wo Anträge entgegengenommen und Passierscheine ausgehändigt würden. Um den Eindruck hoheitlichen Handelns der DDR in Westberlin zu vermeiden, wurden die aus der DDR entsandten Mitarbeiter in den Ausgabestellen als Mitarbeiter der Deutschen Post der DDR deklariert und hatten Dienstuniformen der Post zu tragen. Über die Anträge wurde in Ostberlin entschieden und die dort ausgefertigten Passierscheine dann in Westberlin den Antragstellern ausgehändigt.186 Forderungen führender SPD-Landespolitiker aus dem Jahre 1962 nach einem spiegelbildlichen Verfahren im Osten, also Einrichtung von Passierscheinstellen in Ostberlin zur Ausgabe von Passierscheinen, mit denen Ostberliner zu Besuchen nach Westberlin reisen durften, fanden in den konkreten Verhandlungen 1963 keinen Platz.187

Eckart Huhn bezeichnet die Vereinbarung vom 17. Dezember 1963 treffend als einen »politischen Coup« angesichts der kurzen Verhandlungsdauer von nur einer Woche und der sofortigen Umsetzung des Abkommens in die Praxis; zudem setzte sich der Senat gegen starke Bedenken und Widerstände der Bundesregierung durch.188 Mit dem Abkommen wurde politisches Neuland betreten und zugleich ein Modell für die spätere Ost- und Entspannungspolitik erprobt.

In den ZIG-Informationen erscheint das MfS vor allem als Protokollant der Ereignisse und zählte am Ende der Passierscheinaktion rund 1,2 Millionen Einreisen von rund 730 000 Westberlinern nach Ostberlin innerhalb jener 18 Tage.189 Doch die Aktivitäten des MfS reichten weiter. In Ostberlin überprüfte das MfS sämtliche Passierscheinanträge, sobald die Volkspolizei sie bearbeitet hatte. Außerdem instruierte und kontrollierte das MfS die »Postangestellten« aus der DDR, die in den Westberliner Passierscheinstellen eingesetzt wurden und platzierte einzelne inoffizielle und hauptamtliche Mitarbeiter unter ihnen.190

Die Spionageabteilung des MfS, die Hauptverwaltung A (HV A), leitete der Partei- und Staatsführung über die ZIG Informationsberichte zu, in denen sie Meinungen und Auffassungen Westberliner Politiker zu den Passierscheinvereinbarungen wiedergab. Drei dieser Informationen entstanden bereits zum Jahresanfang 1963, die übrigen 14 erst ab dem 12. Dezember 1963.191 Ob diese Berichte von großem Nutzen waren, ist fraglich. Denn seit 1962 gab es bereits Sondierungskanäle auf verschiedenen Ebenen. Während der Passierscheinverhandlungen wurden Positionen dann direkt ausgetauscht, und parallel dazu hatte Egon Bahr einen »back channel« etabliert. Über diesen geheimen Kanal wurden »taktische Intentionen, Verhandlungstabus, inoffizielle Interpretationen offizieller Verlautbarungen der jeweils anderen Seite zur Kenntnis gebracht«.192 Als »journalistische Mittelsmänner« zwischen der Senatskanzlei und der DDR-Führung fungierten der Leiter der Berliner Redaktion der FAZ, Hansjakob Stehle, und der Leiter der Abteilung internationale Verbindungen im Presseamt des Ministerrats der DDR, Hermann von Berg.193 Sie trafen sich auf Veranlassung Bahrs erstmals am 3. Dezember 1963, also noch vor dem Abusch-Brief an Brandt, in Ostberlin zu einem Sondierungsgespräch.194 Von Berg wiederum war seit 1962 als inoffizieller Mitarbeiter an die HV A angebunden. Ferner verfügte die HV A über mehrere IM in der Westberliner Politik.195

Die Passierscheinverhandlungen fanden also in einem Kommunikations- und Beziehungsgeflecht statt, in dem das MfS nur einer von mehreren Akteuren war und gewiss nicht der maßgebende. Die hier edierten ZIG-Informationen bilden aus verschiedenen Gründen daher nur Ausschnitte des damaligen Geschehens ab, das eine entscheidende Wende hin zu einer Politik der Entspannung markierte.

2.11 Weitere Berichtsthemen

Die übrigen ZIG-Berichte decken eine Menge unterschiedlicher Themen ab, die punktuelle Einblicke in die Verfasstheit des Landes zulassen. So informierte das MfS über bürgerliche Milieus, die sich in manchen Berufssparten gehalten hatten und deren Beharrungstendenzen angegangen werden sollten. Das betraf 1963 die Veterinärmediziner, die Archivare, leitendes Forschungspersonal in den Chemischen Werken Buna sowie am Rande auch die Landwirtschaft.196 Mitunter verfasste die ZIG Berichte über einzelne Personen, so über den bekannten Leipziger Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der im September 1963 in die Bundesrepublik übersiedelte, aber auch über kaum bekannte Menschen, die sich in einer herausgehobenen beruflichen Position befanden.197 Ein immer wiederkehrendes Thema war die Verbreitung missliebiger politischer Druckschriften in der DDR. Aus dem Westen flogen mit Ballons massenhaft Broschüren über die Grenze, aus dem Osten kam die Bedrohung aus China und Albanien, deren Botschaften in Ostberlin Schriftstücke per Post in der DDR verschickten.198 Andere Berichte handelten von der Ermordung eines Dresdner Taxifahrers durch zwei sowjetische Zivilisten oder von einem rassistisch motivierten Übergriff auf zwei afrikanische Maschinenbau-Studenten in Wismar.199

3. Struktur und Entwicklung der ZIG 1963

Der Juniaufstand 1953 bildete die Initialzündung zur Etablierung eines systematischen Berichts- und Informationswesens im MfS. 1959 wurde aus einer bereits bestehenden MfS-Abteilung die »Zentrale Informationsgruppe« (ZIG) gebildet, die bis 1965 unter dieser Bezeichnung existierte.

Mit seinem Befehl über die »Verbesserung der Informationsarbeit des Ministeriums für Staatssicherheit« schuf Erich Mielke im Dezember 1960 die normativen und organisatorischen Grundlagen für die Arbeit der ZIG.200 Darin wurde der ZIG die Aufgabe zugewiesen, den Minister für Staatssicherheit sowie die Partei- und Staatsführung »qualifiziert und objektiv über die Lage in der DDR« zu informieren. Die ZIG hatte ihre Informationen sowohl auf Anweisung des MfS-Chefs als auch von sich aus anzufertigen. Seit 1961 legte die ZIG in Halbjahresplänen Themenschwerpunkte fest, über die vorrangig Analysen und Berichte verfasst werden sollten.201 Die ZIG musste ferner alle nach außen gegebenen Informationen zentral erfassen, registrieren und die Rückgabe der Berichte sicherstellen.202 Die Berichte sollten im verschlossenen Umschlag mittels Kurier dem Adressaten persönlich oder dessen Sekretariat übergeben werden.203 Mit dem Mielke-Befehl vom Dezember 1960 erhielt die ZIG einen »soliden Unterbau«, da sowohl in den operativen MfS-Hauptabteilungen als auch in den Bezirksverwaltungen Informationsgruppen eingerichtet wurden, die Berichte, Informationen und Materialien an die ZIG schickten, wo sie ausgewertet, verdichtet und zu Informationsberichten für die Partei- und Staatsführung zusammengefasst wurden. Die ZIG hatte diese Informationsgruppen anzuleiten und zu unterstützen. Dieser Auftrag galt auch gegenüber der Hauptverwaltung A (Auslandspionage), deren informationsauswertende Abteilung VII in dieser Hinsicht einer Informationsgruppe gleichgestellt war.204

Leiter der ZIG von 1959 bis 1965 war der 1900 geborene sudetendeutsche Parteifunktionär und Redakteur Robert Korb, Spanienkämpfer und Moskau-Emigrant, der 1951 in die neu gegründete Auslandsspionage der DDR ging und 1956 bis 1959 als Stellvertreter des HV-A-Chefs Markus Wolf fungierte. Werner Irmler, Jahrgang 1930, der 1957 bis 1959 den ZIG-Vorläufer »Abteilung Information« geleitet hatte, wurde nun Stellvertreter Korbs, um 1965 die Leitung der ZAIG zu übernehmen. Irmler blieb jedoch auch als stellvertretender Leiter »die treibende Kraft bei der organisatorischen und konzeptionellen Profilierung des Bereichs«.205 Im Jahr 1963 verfügte die ZIG über 13 Mitarbeiter. Diese Personalstärke blieb im gesamten Zeitraum zwischen 1959 und 1965 fast unverändert.206

4. Berichtsarten, Rezeption und Überlieferung

4.1 Berichtsarten

Kategorien

Die Zentrale Informationsgruppe hatte 1960 fünf formale Kategorien für »koordinierungspflichtige« Meldungen und Berichte festgelegt.207 Von den 233 Informationsberichten des Jahres 1963 galten 32 als »Bericht«, die übrigen als »Einzelinformation«.

Als »Bericht« definierte die ZIG »Informationen, die ›umfassende Materialien zu einem bestimmten Problem‹ bzw. ›zu mehreren zusammenhängenden Problemen‹ oder ›analytische Darstellungen enthalten‹«. Einzelinformationen waren »Informationen, die aufgrund ›ihrer Wichtigkeit mitzuteilen sind, ohne dass alle Zusammenhänge bekannt sein müssen‹ oder ›ihrem Charakter und Inhalt nach Einzelerscheinungen sind und daher oder gegenwärtig keine analytische Darstellung ermöglichen‹«.208 In der Praxis scheint die Unterscheidung in Berichte und Einzelinformationen 1963 aber nicht mehr konsequent angewendet worden zu sein und ist für den vorliegenden Berichtsjahrgang daher kaum von Bedeutung. Bezeichnend ist hier die Einstufung der Information 369/63: Das für Willi Stoph bestimmte Exemplar war als »Bericht« kategorisiert, während das textgleiche Exemplar, das die ZIG bei sich ablegte, als »Einzelinformation« galt.

Entschärfte Stimmungsberichte

Eine Textgattung, die in beiden Kategorien vorkommt, sind Stimmungsberichte, in denen Meinungen und Reaktionen der Bevölkerung zu politischen Ereignissen zusammengestellt wurden.209 Mitte der 1950er-Jahre machten Stimmungsberichte noch einen erheblichen Teil der Informationstätigkeit aus: 1956 war jede vierte Information ein Stimmungsbericht.210 Doch dann übte Walter Ulbricht Anfang 1957 massive Kritik an diesen Berichten, weil sie zu viel negative Meinungen, auch über ihn selbst, wiedergaben. Möglicherweise befürchtete er, seine innerparteilichen Gegner könnten daraus Argumente gegen ihn beziehen. Die Stimmungsberichte sah er daher als »Schädigung der Partei«, mit denen die »Hetze des Feindes legal verbreitet« würde.211 Dieses Verdikt wirkte auch 1963 noch nach. Stimmungsberichte machten 1963 noch einen Anteil von rund zehn Prozent der ZIG-Informationen aus. Sofern es sich hierbei um Stimmungen und Meinungen bestimmter Berufsgruppen handelte, insbesondere Sportler, aber auch Künstler und Schriftsteller, Tierärzte und Landwirte, verschickte die ZIG diese Berichte im Regelfall an ausgesuchte Empfänger in der Partei- und Staatsführung.212 Sofern die Berichte jedoch Stimmungen und Meinungen »der Bevölkerung der DDR« im Allgemeinen wiedergaben, beispielsweise zum VI. SED-Parteitag oder zur Passierscheinvereinbarung, hielt die MfS-Führung die von der ZIG bereits ausgefertigten Berichte regelmäßig zurück. Denn darin breitete die ZIG politische Auffassungen aus, von denen sie zwar schrieb, diese kämen in der Bevölkerung nur »in geringem Umfang« vor, doch waren es »pessimistische«, »gegnerische«, »kritische«, »feindliche«, »unklare« oder »ablehnende« Haltungen gegenüber der Politik von Partei und Staat.213

Manche der hier edierten Dokumente lassen noch erkennen, wie das MfS seine Berichte von kritischen Aussagen entschärfte. So verfasste die ZIG am 18. Dezember 1963 einen 19 Seiten langen Bericht »über die Reaktion auf das Übereinkommen über Passierscheinerteilung an Westberliner Bürger und über den Verlauf der bisherigen Maßnahmen«.214 Darin wurde einerseits über den Verlauf der Passierscheinaktion informiert, andererseits kritische Stimmen der Ostberliner Bevölkerung wiedergegeben. Dieser Bericht wurde daher zurückgehalten und in zwei Meldungen aufgeteilt: Der sachliche »Bericht Nr. 773b/63 über den Verlauf der Maßnahmen zur Ausgabe und Annahme von Anträgen für Passierscheine« wurde der Partei- und Staatsführung zugeleitet. Die mit kritischen Meinungen versetzte »Einzelinformation Nr. 799/63 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR und Westberlins zur Ausgabe von Passierscheinen an Westberliner Bürger zum Besuch der Hauptstadt der DDR« schaffte es hingegen nicht aus dem MfS hinaus, sondern blieb unter Verschluss.

Ein Vergleich der beiden Versionen der Information 561/63 »über negative Erscheinungen im VEB Erdölerkundung Grimmen/Rostock« veranschaulicht auf einen Blick, welche Tonlage das MfS gegenüber der Partei- und Staatsführung für vermittelbar hielt und welche nicht. Gegenstand der Information waren arbeitspraktische und politisch-ideologische Probleme in dem volkseigenen Betrieb. Darüber verfasste die ZIG mit Datum vom 17. September 1963 einen anschaulichen Bericht. Er bezifferte den materiellen Schaden fehlerhafter Arbeiten mit einer konkreten Summe (drei Millionen DDR-Mark) und illustrierte anhand ausgewählter Zitate die vorherrschende politische Stimmungslage unter der Belegschaft. Dazu zählten Sätze wie: Die Angehörigen der Grenztruppen »müsste man alle verkehrt herum aufhängen«; im Zusammenhang mit der Wehrpflicht in der NVA hieß es, man wolle »lieber auf zehn Russen schießen als auf einen Amerikaner« und politisch aktive Arbeiter galten als »SED-Spitzel«. Als Empfänger dieser Meldung waren an erster Stelle Ulbricht und Honecker vorgesehen. Doch der Bericht wurde im MfS zurückgehalten und alle soeben zitierten Passagen sowie die konkrete Schadenssumme gestrichen. Die entschärfte Textfassung vom 30. September 1963 benannte die Probleme nur noch allgemein und verklausuliert, wurde dafür aber Ulbricht, Honecker und anderen zugestellt.215

4.2 Rezeption

Die Informationsberichte des Jahres 1963 liefern keine Anhaltspunkte darüber, in welcher Form sie von ihren Empfängern rezipiert wurden. Diese Frage kann nur im Rahmen von Forschungen über das Verhältnis von SED und MfS geklärt werden; in diesem Kontext könnten auch die Berichtsstränge von MfS und SED auf Überschneidungen hin untersucht werden.216 Ganz vereinzelt enthalten Berichtsexemplare Auftragungen eines Lesers. Beispielsweise ist von der Information 72/63 das Exemplar überliefert, das an Erich Honecker ging und von ihm auch an das MfS zurückgegeben wurde.217 Honecker notierte auf der ersten Seite seines Exemplars »Gen. K. Hager«, verfügte also die Weiterleitung seines Exemplars an den ZK-Sekretär für Kultur und Wissenschaft Kurt Hager. Inhaltlich war das schlüssig, denn in der Information wurde über ein gesamtdeutsches Schriftstellertreffen in Ostberlin unter dem Dach der Kirche berichtet. Das fiel in Hagers Arbeitsbereich. Honeckers Verfügung zeigt zum einen, dass er den Bericht tatsächlich zur Kenntnis genommen hatte. Sie offenbarte dem MfS zugleich, dass Honecker sich nicht an die Vorgabe hielt, solche als »streng geheim« klassifizierten Papiere nicht weiterzugeben. Die ZIG wusste prinzipiell um dieses Problem.218 Honecker seinerseits kannte den Empfängerkreis der Information nicht und wusste daher nicht, dass Kurt Hager vom MfS diesen Informationsbericht ebenfalls erhalten hatte. Die Existenz des Honecker-Exemplars im MfS-Archiv kündet außerdem davon, dass Honecker sein Exemplar ordnungsgemäß wieder zurückgab, die ZIG jedoch ausnahmsweise darauf verzichtete, dieses Exemplar zu vernichten.

Entstehung der Informationsberichte

Die Frage nach der Rezeption ist unter anderem eng verknüpft mit der Frage nach der Entstehung eines Informationsberichts. Themen und Sachverhalte, an denen die politische Führung unmittelbar Interesse signalisierte, dürften insgesamt aufmerksamer rezipiert worden sein als solche, die das MfS von sich aus auswählte.

Doch ohne zusätzliche Dokumente sind Entstehungszusammenhänge kaum zu rekonstruieren. Wie diese aussehen konnten, sei am Beispiel der Information 365/63 gezeigt. Inhaltlich ging es in dieser Information um einen in Ostberlin tätigen Mediziner und Hochschullehrer, seine politische Zuverlässigkeit sowie um die Frage, ob er sich womöglich in den Westen absetzen werde. Der Grund, weshalb die ZIG darüber den Informationsbericht erstellte, erschließt sich nur anhand einer Personenakte, die das MfS zur Überwachung des Betreffenden führte. Darin findet sich ein Schreiben der ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen an Erich Mielke, in dem auf ebendiesen Mediziner und Hochschullehrer hingewiesen wird, auf ungünstige Einflüsse, die auf ihn einwirkten, und auf dessen Westverwandtschaft.219 Zehn Tage nach diesem Schreiben aus dem SED-Zentralkomitee verfasste die ZIG die Information 365/63 für Kurt Hager, gab darin Auskunft über den Betreffenden und schloss mit einigen Empfehlungen, wie das ZK der SED und das Gesundheitsministerium weiter verfahren sollten, und schlug den Betreffenden für den Nationalpreis vor. Offenkundig war diese Information die Antwort auf das ZK-Schreiben. Aus der Information ist zugleich ersichtlich, dass das MfS nicht selbst aktiv werden wollte und den Vorgang wieder ins Feld des SED-Zentralkomitees schob.

Verteiler

Von den 233 ZIG-Berichten, die hier ediert werden, wurden 47 nicht an Empfänger außerhalb des MfS herausgegeben. Somit gab das MfS 186 ZIG-Berichte an Externe heraus. Der Empfängerkreis umfasste 1963 in jeweils wechselnden Verteilern insgesamt 32 Spitzenfunktionäre von Partei und Staat sowie den KGB, also 33 Leser außerhalb des MfS.220 Hochrangige SED-Funktionäre wurden bevorzugt mit Informationsberichten bedient, was den Charakter des MfS als ein vorrangig der Partei verpflichtetes Organ unterstreicht.

Die meisten der 33 Empfänger wurden indes nur selten bedacht. 25 von ihnen bekamen im Laufe des gesamten Jahres 1963 weniger als zehn Informationsberichte, also nicht einmal einen Bericht im Monat. Die Hauptadressaten waren Erich Honecker mit 154 Informationen, Walter Ulbricht mit 78, Willi Stoph mit 45 und Paul Verner mit 34; im zweistelligen Bereich lagen ferner der KGB und Günter Mittag mit je 20 Informationen, Albert Norden mit 19 und Alfred Neumann mit 12.

Die ZIG erscheint somit in erster Linie als Informationsdienst für den ZK-Sekretär für Sicherheit Erich Honecker, in dessen Verantwortungsbereich unter anderem Fragen der Staatssicherheit gehörten. Honecker erhielt somit deutlich mehr Informationsberichte als die politische Nummer eins der DDR, Walter Ulbricht. Daran änderte sich in den gesamten 1960er-Jahren nichts. Erich Honecker bekam vor allem deutlich mehr Informationsberichte zu den Themenbereichen Militär, Grenze, Republikfluchten, ferner auch zu Unfällen, Havarien und Problemen in der Produktion sowie über oppositionelles und widerständiges Verhalten. An Walter Ulbricht gingen dafür Informationen über Kirchenfragen und Kulturschaffende, die Honecker nicht zugestellt wurden.

4.3 Überlieferung

In den MfS-Unterlagen befindet sich eine Auflistung mit den Titeln und Nummern der ZIG-Informationen sowie der Empfänger außerhalb des MfS.221 Anhand dieser Liste lässt sich feststellen, dass zehn ZIG-Berichte des Jahres 1963 weder im Bestand der ZAIG noch an anderer Stelle bislang aufzufinden sind und wahrscheinlich nicht überliefert wurden. Es handelt sich um folgende Titel:

155/63: »Brand im Fichtelberghotel« (versandt am 15.3.1963) – (Empfänger: Honecker, Leuschner)

176/63: »Vorgänge um die Berufung des Generalsuperintendenten Jacob, Cottbus, zum Verwalter des Bischofsamtes der Landeskirche Berlin-Brandenburg sowie über die fortschreitende Differenzierung innerhalb führender Kreise der evangelischen Kirche« (intern versandt am 15.3.1963, extern am 16.3.1963) – (Empfänger: Ulbricht, Leuschner, Verner; intern: HA V [Schröder])

254/63: »Sogenannte Meinungsforschung im Nachrichtenbataillon des Kommandos Grenztruppen der NVA in Schenkendorf am 22.3.« (versandt am 1.5.1963) – (Empfänger: Wansierski)

477/63: »Entwicklung und Ursachen der Fahnenfluchten aus der NVA seit 1960« (nicht versandt) – (Empfänger: Kein Nachweis für externe Verteilung (»nicht rausgegangen«))

497/63: »Tätliche Auseinandersetzungen zwischen polnischen Staatsbürgern und DDR-Bürgern in der Nacht vom 17. zum 18. August 1963 in der Konsum-Gaststätte Seese, Kreis Calau« (versandt am 19.8.1963) – (Empfänger: Honecker, Winzer; intern: HA II [Grünert])

516/63: »Störtätigkeit im internationalen Reiseverkehr durch das ›Allied Travel Office‹ (ATO) in Berlin-Schöneberg, Elßholzstraße 32« (nicht versandt) – (Empfänger: Kein Nachweis für externe Verteilung)

541/63: »Aktion ›Quartett‹« (Versanddatum nicht überliefert) – (Empfänger: Mielke) – »Quartett« war der Name eines großen Militärmanövers im Südosten der DDR, an dem vom 9. bis 14.9.1963 rund 41 000 Soldaten aus der DDR, der Sowjetunion, Polens und der ČSSR teilnahmen. Die ZIG fertigte darüber insgesamt fünf Berichte an, von denen die beiden hier genannten nicht überliefert sind.

543/63: »Aktion ›Quartett‹« (Versanddatum nicht überliefert) – (Empfänger: Mielke)

708/63: »Reaktion von Kreisen der evangelischen Kirchen der DDR auf die Veröffentlichung des Entwurfs des neuen Jugendgesetzes der DDR« (versandt am 23.11.1963) – (Empfänger: Ulbricht, Stoph, Hager, Verner, Barth; intern: HA V/4)

739/63: »Protestresolution an den Staatsrat der DDR wegen der Zusammenlegung des VEB Reifenwerk und VEB Cordwerk Fürstenwalde, [Bezirk] Frankfurt/O.« (versandt am 5.12.1963) – (Empfänger: Ulbricht, Honecker, Stoph, Neumann (Vorsitzender des Volkswirtschaftsrates), Mittag)

Vier ZIG-Berichte befassen sich ausschließlich mit Vorgängen außerhalb der DDR, obwohl sie sich auf Zuarbeiten der Abwehr stützten, also aus MfS-Abteilungen kamen, die für geheimpolizeiliche Aufgaben im Inneren der DDR zuständig waren. Sie sind nicht in diese Edition aufgenommen. Es handelt sich um folgende Informationen:

125/63: »Auffassungen führender CDU-Kreise zum westdeutsch-französischen Vertrag, zur Krise im westlichen Bündnissystem und zur Westberlinfrage« (erstellt am 1.3.1963) – (Empfänger: Ulbricht, KGB; intern: HA V [Schröder], Wolf); BStU, MfS, ZAIG 724

151/63: »Ansichten führender CDU-Kreise zum Ausgang der Westberliner Wahlen und den sich daraus für die CDU ergebenden Konsequenzen« (erstellt am 2.3.1963) – (Empfänger: Ulbricht, Verner, KGB; intern: HV-A-Abt. VII); BStU, MfS, ZAIG 726

212/63: »Bemühungen Brandts um einen Westberlinbesuch Kennedys im Zusammenhang mit Brandts Forderungen nach einer ›Aktivierung der westlichen Berlinpolitik‹« (erstellt am 29.3.1963) – (Empfänger: Ulbricht, KGB; intern: HA V [Schröder], HV-A-Abt. VII); BStU, MfS, ZAIG 741

213/63: »Auseinandersetzungen in der Westberliner CDU nach der Wahlniederlage und über die Rolle der CDU als Oppositionspartei in Westberlin« (erstellt am 29.3.1963) – (Empfänger: Ulbricht, Verner, KGB; intern: HA V [Schröder], HV A VII); BStU, MfS, ZAIG 742

Sechs ZIG-Berichte wurden von der Auswertungsabteilung (Abteilung VII) der Hauptverwaltung A erstellt, haben ihren Ursprung also in der Auslandsspionageabteilung des MfS, behandeln aber Vorgänge in der DDR. Sie wurden daher in die Edition aufgenommen. Es handelt sich um die Informationen 131/63, 520/63, 521/63, 523/63, 526/63 und 532/63. Sie befassen sich im Wesentlichen mit der Leipziger Messe.

5. Druckauswahl und Formalia

Die 233 edierten ZIG-Berichte des Jahrgangs 1963 umfassen ca. 1 025 Buchseiten. Vollständig stehen sie auf der Website www.1963.ddr-im-blick.de in Form einer Datenbank zur Verfügung, die eine komfortable Volltextrecherche ermöglicht. Die Auswahl im Buch versucht einerseits, das Spektrum an Typen der Berichte und Informationen abzubilden. Andererseits wurden vor allem solche Themenschwerpunkte dokumentiert, die für das Jahr 1963, aber auch darüber hinaus von historischem Gewicht sind.

Die Wiedergabe der Dokumente folgt grundsätzlich dem Original. Die Rechtschreibung ist den heute gültigen Normen angeglichen. Offensichtliche Schreibfehler wurden stillschweigend korrigiert, wobei der Lautstand beibehalten wurde. Auffällige Fehlschreibungen wurden im Text korrigiert, in der Fußnote die Schreibweise des Originals aber dokumentiert.

Zum Schutz von Persönlichkeitsrechten der Personen, über die das MfS berichtete, wurden ihre Namen anonymisiert, sofern kein Einverständnis zur öffentlichen Nennung vorlag. Um die Lesbarkeit des Dokumentes dennoch zu gewährleisten, wurden die Anonymisierungen derselben Personen mit eindeutigen Nummern innerhalb eines Dokumentes versehen. Gegebenenfalls wurde diese eindeutige Nummerierung über mehrere inhaltlich zusammenhängende Dokumente aufrechterhalten, worauf im Dokumentenapparat hingewiesen wird. In Einzelfällen wurden Sachverhalte getilgt, um die Persönlichkeitsrechte davon betroffener Personen zu schützen. Diese Tilgungen sind im edierten Text mit »[Passage mit schutzwürdigen Interessen nicht wiedergegeben.]« oder einem vergleichbaren Hinweis gekennzeichnet.

Gemäß § 32a des Stasi-Unterlagengesetzes (StUG) wurden Personen der Zeitgeschichte und Funktionsträger öffentlicher Institutionen vor der Veröffentlichung von Dokumenten, die Informationen über sie enthalten und die über ihre Funktionstätigkeit hinausgehen, benachrichtigt. Einige Betroffene, die nicht zu diesen Personenkreisen gehören, wurden darüber hinaus um eine Einwilligung zur Publikation der in den Berichten zu ihrer Person enthaltenen Daten gebeten. In den betreffenden Antworten wurden teilweise wichtige und interessante inhaltliche Anmerkungen zu den in den Quellen thematisierten Sachverhalten gemacht, die ganz oder auszugsweise in den Fußnoten dokumentiert sind.

6. Schlussbetrachtung

Das Jahr 1963 war in der DDR geprägt von Reformen und Veränderungen. Dabei handelte es sich naturgemäß um längerfristige Entwicklungen, doch in jenem Jahr verdichteten sich diese Prozesse und verleihen diesem Jahr rückblickend einen besonderen Charakter. Programmatisch und personell zeigten sich innovative Ansätze vor allem in der Wirtschafts-, Justiz- und Jugendpolitik. Dass sie auch eine Reaktion auf ernsthafte Krisensymptome waren, ist nichts Ungewöhnliches, denn akute Problemlagen können durchaus konstruktiv stimulierend wirken. Manche sahen vor dem Hintergrund des Mauerbaus neue »Entwicklungsbedingungen« und »Chancen«, andere fühlten sich »eingemauert« und sahen sich gezwungen, sich einzurichten. Aber beide Positionen förderten die Bereitschaft, sich auf Reformen einzulassen.222

Da nach dem Mauerbau in Berlin eine Flucht in den Westen kaum noch möglich war und somit auch protestbereite und unzufriedene Bevölkerungsgruppen das Land nicht mehr verlassen konnten, dienten die Reformen auch der gesellschaftlichen Deeskalation. Die SED-Führung bemühte sich »um die Integration und die Loyalität der Bevölkerung«.223 Die Ansätze zu mehr Offenheit wurden jedoch sorgsam eingehegt, indem die bisherigen ideologischen Grundlagen beibehalten wurden und der Herrschaftsanspruch der SED unangetastet blieb. Der SED ging es um Modernisierung und Mobilisierung, aber nicht um Liberalisierung. Dieser immer wieder gebrauchte Begriff im Zusammenhang mit den Reformen und Lockerungen führt in die Irre. Das belegen nicht zuletzt die hier veröffentlichten Informationsberichte des MfS an die Partei- und Staatsführung, die die fortbestehenden politischen Repressionen dokumentieren.

Es waren vor allem die Intellektuellen, die damals eine Aufbruchstimmung verspürten. Davon zeugte neben anderem der enorme Zuspruch auf die Vorlesungsreihe von Robert Havemann »Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme« an der Ostberliner Humboldt-Universität im Wintersemester 1963/64, zu der sich über tausend Hörer einschrieben und in der Havemann über die »Freiheit des Einzelnen im Sozialismus« sprach.224 Havemann, ein anerkannter Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, Professor für Physikalische Chemie in Berlin, Mitglied der SED und Nationalpreisträger der DDR, ging jedoch von einem Freiheitsbegriff aus, der selbst in der relativ offenen Reformphase nicht geduldet wurde. Der Konflikt, der hier aufbrach, war der ZIG 1963 indes noch keinen Informationsbericht wert, bildete aber im folgenden Jahr einen Berichtsschwerpunkt.225

Auf der innerdeutschen und internationalen Ebene markierte das Jahr 1963 mit der Aushandlung und Umsetzung der Passierscheinvereinbarung ebenfalls eine wichtige politische Veränderung: Die bislang nur postulierte Entspannungspolitik erfuhr ihre erste konkrete Umsetzung in reales Handeln. Dass sie nur den Westberlinern kurzfristige Reisemöglichkeiten über die Mauer eröffnete, nicht aber den Ostberlinern, zeigt wiederum die Grenzen der innenpolitischen Öffnung in der DDR.

7. Anhang: Adressaten der Berichte 1963

Tabelle 1: Adressaten der Berichte 1963 außerhalb des MfS

Name, Vorname, Funktion

Information Nr.

Anzahl

Abusch, Alexander (Jg. 1902)
Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats der DDR, ZK-Mitglied

773b, 780, 788, 791, 798, 802, 806, 810, 814

9

Axen, Hermann (Jg. 1916)
SED-Politbüro (Kandidat), Chefredakteur »Neues Deutschland«

38, 675

2

Balkow, Julius (Jg. 1909)
ZK-Mitglied, Minister für Außenhandel und innerdeutschen Handel

532

1

Barth, Willi (Jg. 1899)
Leiter der ZK-Arbeitsgruppe Kirchenfragen

329, 331, 394, 412, 671

5

Borning, Walter (Jg. 1920)
Leiter der ZK-Abteilung für
Sicherheitsfragen

374, 621, 701, 748

4

Ewald, Georg (Jg. 1926)
SED-Politbüro (Kandidat), Vorsitzender des Landwirtschaftsrates

313, 347, 348, 409, 501, 789

6

Ewald, Manfred (Jg. 1926)
ZK-Mitglied, Präsident des DTSB

130, 334, 346

3

Grüneberg, Gerhard (Jg. 1921)
SED-Politbüro (Kandidat), ZK-Sekretär für Landwirtschaft

347, 348, 409, 484, 501

5

Hager, Kurt (Jg. 1912)
SED-Politbüro, ZK-Sekretär für
Kultur, Wissenschaft

54, 72, 196, 247, 348, 365, 562b, 730

8

Hellmann, Rudolf (Jg. 1926)
Leiter der ZK-Arbeitsgruppe für Körperkultur und Sport

686

1

Hoffmann, Heinz (Jg. 1910)
ZK-Mitglied, Armeegeneral, Minister für Nationale Verteidigung, Mitglied des NVR

318, 544, 666, 692, 722

5

Honecker, Erich (Jg. 1912)
SED-Politbüro, ZK-Sekretär für Sicherheit, Mitglied des NVR

2, 12, 21, 23, 28, 30, 35, 38, 39, 54, 60, 72, 77, 85, 86, 89, 90, 102, 103, 105, 107, 108, 111, 115, 116, 118, 130, 153, 171, 181, 183, 186, 189, 190, 192, 195, 196, 203, 211, 214, 221, 223, 235, 241, 245, 246, 247, 250, 251, 252, 270, 283, 284, 287, 293, 295, 297, 303, 308, 318, 319, 320, 330, 332, 334, 336, 346, 348, 350, 352, 359, 360, 364, 374, 375, 377, 394, 401, 403, 406, 407, 412, 421, 422, 424, 467, 501, 507, 539, 540, 542, 544, 564, 567, 571, 573, 577, 578, 582, 583, 584, 561b, 585, 587, 589, 591, 592, 596, 597, 598, 603, 604, 606, 607, 612, 615, 616, 619, 620, 621, 626, 630, 652, 666, 668, 669, 671, 672, 675, 692, 699, 706, 722, 730, 747, 748, 773b, 780, 781, 786, 788, 789, 791, 792, 798, 800, 801, 802, 806, 809, 810, 814, 816, 817

154

Jarowinsky, Werner (Jg. 1927)
SED-Politbüro (Kandidat), ZK-Sekretär für Handel und Versorgung

801, 802, 806, 810, 814

5

KGB Komitee für Staatssicherheit der Sowjetunion, Berlin-Karlshorst (»AG« bzw. »Freunde«)

2, 21, 23, 30, 98, 102, 171, 191, 195, 252, 284, 306, 360, 369, 374, 406, 424, 532, 589, 607

20

Krolikowski, Werner (Jg. 1928)
ZK-Mitglied, 1. Sekretär BL Dresden

544

1

Lemmnitz, Alfred (Jg. 1906)
Minister für Volksbildung

319

1

Leuschner, Bruno (Jg. 1910)
SED-Politbüro, ständiger Vertreter der DDR beim RGW

62, 190

2

Maron, Karl (Jg. 1903)
ZK-Mitglied, Minister des Innern

501, 621

2

Matern, Hermann (Jg. 1893)
SED-Politbüro, Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission

544

1

Mittag, Günter (Jg. 1926)
SED-Politbüro (Kandidat), ZK-Sekretär für Wirtschaft

62, 115, 190, 320, 359, 413, 561b, 577, 578, 584, 587, 596, 597, 616, 626, 630, 747, 789, 800, 817

20

Neumann, Alfred (Jg. 1909)
SED-Politbüro, Vorsitzender des Volkswirtschaftsrates

62, 108, 115, 119, 190, 320, 359, 561b, 577, 630, 699, 747

12

Neumann, Alfred Bruno (Jg. 1927)
Vorsitzender des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport

173, 314, 334, 346, 383, 529, 686

7

Norden, Albert (Jg. 1904)
SED-Politbüro, ZK-Sekretär für Agitation

565, 598, 607, 612, 615, 669, 675, 696, 706, 730, 773b, 780, 788, 791, 798, 802, 806, 810, 814

19

Pisnik, Alois (Jg. 1911)
ZK-Mitglied, 1. Sekretär BL Magdeburg

544

1

Schumann, Horst (Jg. 1924)
ZK-Mitglied, 1. Sekretär des Zentralrats der FDJ, Mitglied des Staatsrats der DDR

319

1

Schwab, Sepp (Jg. 1897)
Stellvertretender Minister für Auswärtige Angelegenheiten

591, 669, 672, 675

4

Singer, Rudi (Jg. 1915)
Leiter der ZK-Abteilung Agitation

377, 379

2

Stoph, Willi (Jg. 1914)
SED-Politbüro, 1. Stellv.
(amtierender) Vorsitzender

89, 107, 108, 111, 119, 329, 331, 348, 369, 374, 401, 403, 407, 424, 501, 562b, 577, 589, 596, 597, 606, 607, 612, 616, 626, 666, 669, 671, 672, 675, 696, 706, 730, 747, 773b, 780, 788, 791, 798, 800, 802, 806, 810, 814, 817

45

Ulbricht, Walter (Jg. 1893)
Erster Sekretär des ZK, SED-Politbüro, Vorsitzender des Staatsrats, Vorsitzender des NVR

2, 21, 23, 35, 54, 60, 72, 89, 102, 105, 116, 171, 190, 192, 196, 203, 204, 247, 250, 251, 252, 306, 329, 331, 332, 348, 360, 369, 374, 375, 394, 401, 403, 406, 407, 412, 413, 421, 422, 539, 544, 561b, 589, 596, 597, 598, 603, 606, 607, 612, 615, 619, 620, 625, 630, 666, 669, 671, 672, 675, 696, 699, 722, 730, 773b, 780, 781, 786, 788, 791, 798, 800, 801, 802, 806, 810, 814, 816

78

Verner, Paul (Jg. 1911)
SED-Politbüro, 1. Sekretär BL Berlin

89, 183, 192, 195, 203, 246, 303, 308, 329, 330, 331, 350, 352, 360, 374, 375, 394, 401, 403, 407, 413, 573, 589, 603, 671, 699, 748, 791, 798, 802, 806, 810, 814, 816

34

Wansierski, Bruno (Jg. 1904) Stellvertretender Leiter der ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen

77, 273, 327

3

Warnke, Herbert (Jg. 1902) SED-Politbüro, 1. Vorsitzender des Bundesvorstandes des FDGB

62, 115, 320, 359, 413, 587, 630

7

Winzer, Otto (Jg. 1902)
ZK-Mitglied, 1. Stellvertreter des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten

252, 287, 369, 424, 467, 553

6

Tabelle 2: Name und Funktion der Adressaten innerhalb des MfS 1963

Name, Vorname

Funktion

Beater, Bruno

Stellv. Minister, Kandidat des ZK

Carlsohn, Hans

Persönlicher Referent Erich Mielkes

Eichler, Heinz

Leiter der HA V/6

Gehlert, Siegfried

Leiter der BV Karl-Marx-Stadt

Gold, Franz

Leiter der HA Personenschutz

Grünert, Werner

Leiter der HA II

Halle, Günter

Leiter der Abt. Agitation

Jamin, Erich

Leiter der HA VII

Kienberg, Paul

Stellv. Leiter der HA V

Kleinjung, Karl

Leiter der HA I

Krusch, Heinz

Referatsleiter in der ZIG

Mielke, Erich

Minister für Staatssicherheit

Mittig, Rudi

Mit der Leitung der HA III beauftragt

Mühlpforte, Robert

Leiter der HA Kader und Schulung

Schliep, Kurt

Referatsleiter Sonderfragen/Westarbeit in der Abt. Agitation

Scholz, Alfred

Leiter der AGM

Schorm, Ursula

Referatsleiterin in der ZIG

Schröder, Fritz

Leiter der HA V

Switala, Eduard

Leiter der Arbeitsgruppe (ab 12/1963: HA) Passkontrolle und Fahndung

Weidauer, Herbert

Leiter der HA XIII (bis 12/1963), kommissarischer Leiter der Abt. Funkabwehr (ab 7/1963)

Wichert, Erich

Leiter der Verwaltung Groß-Berlin

Wolf, Markus

Stellv. Minister, Leiter der HV A

Wunderlich, Helmar

Leiter der HA III/3