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Beschlüsse in der UdSSR über die Absetzung Chruschtschows

16. Oktober 1964
Einzelinformation Nr. 916/64 über die jüngsten Beschlüsse des ZK der KPdSU und des Obersten Sowjets der UdSSR

Die Veröffentlichung der jüngsten Beschlüsse des Plenums des ZK der KPdSU und des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR1 hat nach den bisher vorliegenden Berichten unter allen Teilen der Bevölkerung der DDR sehr breite Diskussionen ausgelöst.

In vielen Gesprächen in Verkehrsmitteln und an Arbeitsplätzen wurde heute bereits in den frühen Morgenstunden über die Veröffentlichung diskutiert, wobei teilweise die in den letzten Tagen sehr regen Diskussionen über die Olympischen Spiele2 in den Hintergrund traten.

Sehr häufig wird von der Bevölkerung zum Ausdruck gebracht, dass die plötzliche Veröffentlichung zur Entbindung des Genossen Chruschtschow3 von seinen Obliegenheiten eine große Überraschung für die Bevölkerung der DDR bedeuten würde, da es bisher in den Publikationsorganen keinerlei Hinweise oder Andeutungen zu diesem vorgesehenen bedeutenden Schritt gegeben habe.

In diesem Zusammenhang wird im breiten Umfang von der Bevölkerung die Richtigkeit der veröffentlichten Gründe über die Entbindung des Genossen Chruschtschow von seinen Obliegenheiten angezweifelt. Über den Ernst des Gesundheitszustandes des Genossen Chruschtschow sei früher nichts veröffentlicht worden, und es sei auch nicht bekannt, das Genosse Chruschtschow krankheitshalber seine Funktion längere Zeit nicht hätte ausführen können; es könne sich demnach um keine ernstzunehmende Krankheit handeln. Er habe sich auch, wie aus Fernsehaufzeichnungen erkenntlich gewesen sei, noch mit den drei sowjetischen Kosmonauten4 optimistisch unterhalten; wobei keinerlei Krankheitserscheinungen beim Genossen Chruschtschow festgestellt worden seien. Ferner sei sein »Rücktrittsgesuch« aus Altersgründen unglaubhaft. Es handle sich beim Genossen Chruschtschow zwar um einen an Jahren älteren Staatsmann und Parteifunktionär,5 der sich jedoch in seinem Verhalten und in seinem Arbeitselan ein jugendliches Auftreten bewahrt habe. Es gebe in anderen Ländern noch ältere Staatsmänner, die ihre Aufgaben ebenfalls noch erfüllen würden, ohne dass an deren Funktionsentbindung gedacht würde.

Auf diese Einschätzung Bezug nehmend, wird in den Diskussionen erklärt, die »wahren« Gründe für die Funktionsentbindung des Genossen Chruschtschow seien bisher noch nicht veröffentlicht worden. Dabei wird die Erwartung ausgesprochen, dass in den nächsten Tagen entsprechende Hinweise erfolgen werden, die Aufschluss über die »wahren« Ursachen geben.

Mehrfach wird kritisiert, dass eine solche »glaubwürdige« Veröffentlichung nicht sofort erfolgt sei. Die knappen Informationen unserer Publikationsorgane würden lediglich bewirken, dass sich die Bevölkerung der DDR – da sie an weiteren Einzelheiten interessiert sei – auf westlichen Wellenlängen informieren würde, in dem Glauben, dort schneller unterrichtet zu werden.

Häufig wird in diesem Zusammenhang auch hervorgehoben, dass Genosse Chruschtschow ein sehr beliebter und großer Staatsmann mit vielen Verdiensten sei, der wesentlich zur Erhaltung des Friedens und zur Durchsetzung der Politik der friedlichen Koexistenz beigetragen habe.

Allgemein besteht auch Unverständnis darüber, dass weder vom Plenum des ZK der KPdSU noch vom Präsidium des Obersten Sowjets – den Veröffentlichungen in unseren Publikationsorganen zufolge – dem Genossen Chruschtschow für seine Verdienste, die er unzweifelhaft habe, der Dank oder zumindest Anerkennung ausgesprochen worden sei. Schon allein diese Tatsache lasse Bedenken an der richtigen Darstellung der Gründe für die Funktionsentbindung aufkommen und lasse die Schlussfolgerung zu, dass dem Genossen Chruschtschow eventuell sein Ersuchen zur Entbindung »anheim« gestellt wurde.

Wiederholt trat in den Diskussionen der Bevölkerung das Argument auf, der wiederholte Funktionswechsel der führenden Staatsmänner in der SU sei dem Prestige der UdSSR und des ganzen sozialistischen Lagers abträglich. Auf der einen Seite werde von einer einheitlichen kollektiven Leitung gesprochen, auf der anderen Seite erfolgten jedoch solche Entscheidungen, die den Argumenten westlicher Politiker Auftrieb verleihen und zum andern die einfachen Menschen in den sozialistischen Staaten irreführen würden.

Im Ergebnis dieser »Einschätzungen« durch die Bevölkerung werden vielfach Spekulationen über die »wirklichen« Gründe, die zur Entbindung des Genossen Chruschtschow von seinen Obliegenheiten geführt haben könnten, angestellt. Dabei treten in der Hauptsache folgende Tendenzen in Erscheinung:

  • Die Funktionsentbindung des Genossen Chruschtschow erfolgte aufgrund seiner China-Politik, die zu unbeweglich gewesen sei und zu keinen positiven Ergebnissen geführt habe.6 Die Ablösung erfolge auf Betreiben der chinesischen Führer.7 Genosse Chruschtschow würde »geopfert«, um eine Übereinstimmung der KPdSU mit China herbeiführen zu können.

  • Staatsfunktionäre der SU seien mit der Deutschlandpolitik des Genossen Chruschtschow nicht einverstanden gewesen, insbesondere nicht mit der von ihm vorgesehenen Reise nach Westdeutschland.8 In Verbindung mit dieser Auffassung wird diskutiert, dass auch der Schwiegersohn des Genossen Chruschtschow, Genosse Adshubej,9 von seiner Funktion abgelöst worden sei, vermutlich deshalb, weil er den Besuch des Genossen Chruschtschow in Westdeutschland vorbereitet habe. Ein Besuch eines führenden Staatsmannes der SU in Westdeutschland sei durch die Ereignisse nun wohl hinfällig geworden.

  • Genosse Chruschtschow sei für die in der SU bestehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten verantwortlich zu machen. Er habe deshalb auch an der ZK-Tagung der KPdSU nicht teilgenommen und sei deshalb kritisiert worden.10

Weiter werden eine Reihe pessimistischer Stimmungen bekannt, die im Wesentlichen Folgendes beinhalten:

  • Wird der Kurs der Politik der KPdSU beibehalten, oder welche Veränderungen sind zu erwarten. Verbunden damit sind auch Befürchtungen, dass es infolge einer möglichen Umstellung der Politik der UdSSR zu Komplikationen in der Weltpolitik kommen könnte, die sich auch in der DDR auswirken würden.

  • Der Zeitpunkt für die Funktionsentbindung des Genossen Chruschtschow sei sehr ungünstig gewählt, da die Wahlen in den USA11 bevorstünden und diese Veränderungen von den reaktionären Kreisen um Goldwater12 ausgenutzt werden könnten.

  • Der überraschende Funktionswechsel ließe befürchten, dass die bevorstehende Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau13 ungenügend vorbereitet und nicht die erwarteten Ergebnisse bringen würde. Besonders hinsichtlich der China-Frage könne es, da die einheitliche Führung durch Genossen Chruschtschow fehle, zu weiteren Zerwürfnissen auch zwischen den übrigen kommunistischen Parteien kommen.

In anderen Diskussionen, die jedoch einen geringeren Umfang haben, wird die Frage aufgeworfen, in welchem Maße sich die Funktionsveränderungen in der SU auch in anderen sozialistischen Ländern durch »Ablösungen« und Funktionsumbesetzungen auswirken würden.

Im Allgemeinen wird die Entbindung des Genossen Chruschtschow von seinen Obliegenheiten von breiten Teilen der Bevölkerung der DDR bedauert. In den Diskussionen kommt vielfach eine Hochschätzung der Person des Genossen Chruschtschow und seiner Arbeit zum Ausdruck, wobei erklärt wird, Genosse Chruschtschow habe sich während seiner Besuche in der DDR große Sympathien unter der Bevölkerung erworben.

Nur vereinzelt äußern sich nach bisher vorliegenden Informationen Bürger der DDR erfreut über die Veröffentlichungen. In ihren Argumenten bringen sie zum Ausdruck, dass Genosse Chruschtschow ähnlich wie Stalin dem Personenkult verfallen gewesen sei und es deshalb an der Zeit sei, eine Änderung in der Funktionsbesetzung vorzunehmen.14 In Einzelfällen werden in Arbeitsräumen Bilder des Genossen Chruschtschow entfernt.

  1. Zum nächsten Dokument Verlauf des 2. Passierscheinabkommens (13)

    17. Oktober 1964
    13. Bericht Nr. 917/64 über den Verlauf des 2. Passierscheinabkommens

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    16. Oktober 1964
    Einzelinformation Nr. 914/64 über die Tätigkeit der Senatskommission für den Besuch von Rentnern in Westberlin