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Flucht des Schiffsarztes eines Fischverarbeitungsschiffes

5. September 1964
Einzelinformation Nr. 726/64 über den Republikverrat des Dr. [Name 1, Vorname], ehemaliger Schiffsarzt auf dem Fang- und Verarbeitungsschiff ROS 302 »Johannes R. Becher«

Am 29.7.1964 wurde der Schiffsarzt des Fang- und Verarbeitungsschiffes ROS 302 »Johannes R. Becher«) [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1926 in Dresden, wohnhaft in Weida/Thüringen, [Straße, Nr.], seit dem 20.3.1964 tätig als Schiffsarzt auf der »Johannes R. Becher« (Medizinischer Dienst des Verkehrswesens, Direktion Schifffahrt, Rostock), nicht organisiert, auf hoher See – ca. 240 Meilen vor Neufundland – in Ausnutzung einer notwendigen ärztlichen Hilfeleistung auf dem englischen Trawler »Ross Fighter« republikflüchtig.

Zum Sachverhalt wurde Folgendes bekannt: 1Einige Tage vor dem 29.7.1964 wurde der Kapitän [Name 2] von der »Johannes R. Becher« vom britischen Kapitän der »Ross Fighter«, [Name 3], der sich mit seinem Trawler auf See in der Nähe befand, um ärztliche Hilfe für zwei auf seinem Schiff verunglückte britische Matrosen ersucht. Daraufhin wurden beide Besatzungsmitglieder der »Ross Fighter« zur stationären Behandlung in das Schiffshospital der »Johannes R. Becher« überführt. (Eine Überführung der mit schweren Quetschungen Verunglückten war möglich, da sich nach den Orientierungs- und Fangplänen beide Schiffe mehrere Tage in unmittelbarer Nähe aufhalten sollten.)

Am 28.7.1964 wurde Kapitän [Name 2] erneut vom britischen Kapitän ersucht, für einen weiteren Erkrankten seiner Besatzung ärztliche Hilfe zu gewähren. Der Kranke, so wurde vom britischen Kapitän angegeben, habe einen Herz-Kollaps und sei nicht transportfähig. Da zwischen Kapitän [Name 2] und dem britischen Kapitän gute Beziehungen bestanden und auch gegenseitige Besuche stattgefunden hatten, schickte Kapitän [Name 2] daraufhin den Schiffsarzt [Name 1] an Bord der »Ross Fighter«. [Name 1] nahm beim Überwechseln auf das englische Schiff lediglich Medikamente mit. Seine persönlichen Papiere (Zeugnisse u. a.) sowie Unterlagen ließ er an Bord des DDR-Schiffes zurück.

[Name 1] kehrte am 28.7.1964 nicht zur »Johannes R. Becher« zurück, nachdem er mitgeteilt hatte, dass die Behandlung des Patienten noch die ganze Nacht in Anspruch nehmen würde. Auf wiederholte Aufforderungen von Kapitän [Name 2], unverzüglich zurückzukommen, reagierte [Name 1] zunächst nicht, am Morgen des 29.7.1964 teilte er dann mit, er würde nicht in die DDR zurückkehren, sondern in England um Asyl ersuchen. Auf den ausdrücklichen Hinweis des Kapitäns der »Johannes R. Becher«, dass sich an Bord vier Schwerkranke befinden (zwei Mitglieder der Besatzung der »J. R. Becher« und zwei Matrosen der »Ross Fighter«) erklärte [Name 1], »der Kapitän solle sehen, wie er weiterkomme«.

Die Aufforderung an Kapitän [Name 3], den Arzt wieder zurückzuschicken, wurde von diesem mit Schimpfworten beantwortet. Kurz darauf entfernte sich die »Ross Fighter«, ohne sich um die auf dem DDR-Schiff befindlichen schwerkranken Besatzungsmitglieder zu kümmern, aus dem Sichtbereich der »J. R. Becher«.

Der Kapitän der »J. R. Becher« war zur Gewährleistung der notwendigen Weiterbehandlung der vier Kranken gezwungen, das Fang- und Verarbeitungsschiff »Erich Weinert«, das sich auf nächster Position befand, um ärztliche Hilfe zu bitten. Die Schiffsärztin der »Erich Weinert«, [Name 4], ordnete nach einer ersten ärztlichen Untersuchung an, die zwei englischen Unfallkranken unverzüglich, da die ärztliche Notwendigkeit bestand, nach Saint Johns/Neufundland zur fachärztlichen Betreuung zu bringen, was von der »J. R. Becher« auch erfolgte.

Der Republikverrat [Name 1] wurde unmittelbar nach Bekanntwerden von der Besatzung der »J. R. Becher« scharf verurteilt. In einer Resolution der Besatzung, gerichtet an den Senat der Universität Rostock, Rektor Prof. Dr. Schick,2 wird unter Hinweis auf die gröblichste Missachtung der ärztlichen Pflichten durch [Name 1], der vier Schwerkranke ohne ärztliche Betreuung zurückließ, die Aberkennung seiner Approbation verlangt.

Zur Person des [Name 1] ist Folgendes von Bedeutung: [Name 1] qualifizierte sich von 1952 bis 1959 bis zum Assistenzarzt mit Staatsexamen, wobei ihm durch großzügige Förderung (vorzeitige Reifeprüfung, Stipendium u. ä.) jede Hilfe zur schnellen Erlangung seiner Approbation zuteil wurde. Nach seiner Ausbildung war [Name 1] bis März 1964 auf verschiedenen Stationen des Krankenhauses Weida/Thüringen, der Poliklinik Weida, als Betriebsarzt in den Lederwerken Weida und als Bereichsarzt der Außenstelle Crimla eingesetzt. Die ärztliche Tätigkeit führte er zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten aus.

[Name 1] war jedoch, wie durch die Untersuchungen bekannt wurde, über die eingetretenen Verzögerungen bei seiner Ausbildung zum Facharzt »Praktischer Arzt« im Krankenhaus Weida sehr verärgert. Diese Tatsache – und dazu die angeblich ungeklärte Wohnungsfrage in Weida – gab [Name 1] auch offiziell als Grund für seine Kündigung in Weida an. Mit der Kündigung und der Lösung des Ausbildungsvertrages schickte [Name 1] zugleich eine schriftliche Bewerbung an die Deutsche See-Reederei Rostock als Schiffsarzt.

In Weida/Thüringen beteiligte sich [Name 1] gesellschaftlich nicht; während seiner Tätigkeit beim Medizinischen Dienst des Verkehrswesens Rostock trat er mehrmals mit positiven politischen Diskussionen in Erscheinung, in deren Verlauf er wiederholt zum Ausdruck brachte, dass er niemals republikflüchtig werden würde.

[Name 1] verfügt über perfekte Kenntnisse der englischen Sprache, die er insbesondere durch die Teilnahme an einem Dolmetscherlehrgang 1951 zwecks Einsatzes während der Weltfestspiele erworben hat.

Die Familienverhältnisse des [Name 1] sind undurchsichtig. Seit Jahren befinden sich die Wohnsitze der Eheleute jeweils in anderen Städten; [Name 1] bemühte sich nicht um eine Wohnung in Weida, hatte jedoch die Zusage erhalten, 1964 geeigneten Wohnraum zu erhalten. [Name 1] unterhielt Beziehungen zu anderen Frauen.

Das monatliche Einkommen [Name 1] betrug im Kreiskrankenhaus Weida zuletzt 950 MDN; als Schiffsarzt erhielt er ein Grundgehalt von 1 300 MDN und zusätzlich 1 000 MDN Vergütungen (Erschwerniszuschläge und Bereitschaft).

Wie weitere Untersuchungen ergaben, hat [Name 1] seine Republikflucht seit längerer Zeit vorbereitet und zu diesem Zweck sich auch als Schiffsarzt beworben. Durch betont korrektes Auf-3treten vor der Schiffsbesatzung der »Johannes R. Becher« und durch positive politische Diskussionen (u. a. offene »Verurteilung« früherer Republikfluchten und Schiffsbesatzungsangehörigen) täuschte er bewusst das Vertrauen der Besatzung.

Durch das Verhalten des [Name 1] sind die international gültigen Normen der ärztlichen Pflichten gröblichst verletzt worden. Aus diesen Gründen erscheint es zweckmäßig und notwendig, die von der Besatzung der »Johannes R. Becher« erhobene Forderung nach Aberkennung der Approbation des [Name 1] wegen Verletzung seiner ärztlichen Pflichten durchzusetzen.

Da der englische Kapitän [Name 3] von der »Ross Fighter« gegen die international gültigen Regeln über die Hilfeleistung und Bergung in Seenot verstoßen hat (die entsprechenden Bestimmungen verpflichten jeden Kapitän, allen Personen, die auf See in Lebensgefahr angetroffen werden, Beistand zu leisten), indem er [Name 1] auf seinem Schiff behielt und damit den auf der »J. R. Becher« befindlichen Schwerkranken den unbedingt notwendigen ärztlichen Beistand verweigerte, müsste durch das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten energischer Protest an die englische Regierung gerichtet werden. Dabei sollte auch darauf hingewiesen werden, dass der englische Kapitän zugleich gegen seine Pflichten als Kapitän gegenüber seinen eigenen Besatzungsmitgliedern, die schwer krank ohne ärztliche Hilfe auf der »J. R. Becher« zurückgeblieben sind, gehandelt hat.

Im Interesse der Vermeidung ernster Zwischenfälle bei der Hilfeleistung auf Hoher See sollten deshalb entsprechende Maßnahmen gefordert werden, die derartige Vorkommnisse zukünftig ausschließen.4

[Ersatz für Bl. 2–4 der Langfassung]

Fassung für Winzer5

Einige Tage vor dem 29.7.1964 wurde der Kapitän [Name 2] von der »Johannes R. Becher« vom britischen Kapitän der »Ross Fighter«, [Name 3], der sich mit seinem Trawler auf See in der Nähe befand, um ärztliche Hilfe für zwei auf seinem Schiff verunglückte britische Matrosen ersucht. Daraufhin wurden beide Besatzungsmitglieder der »Ross Fighter« zur stationären Behandlung in das Schiffshospital der »Johannes R. Becher« überführt. (Eine Überführung der mit schweren Quetschungen Verunglückten war möglich, da sich nach den Orientierungs- und Fangplänen beide Schiffe mehrere Tage in unmittelbarer Nähe aufhalten sollten.)

Am 28.7.1964 wurde Kapitän [Name 2] erneut vom britischen Kapitän ersucht, für einen weiteren Erkrankten seiner Besatzung ärztliche Hilfe zu gewähren. Der Kranke, so wurde vom britischen Kapitän angegeben, habe einen Herz-Kollaps und sei nicht transportfähig. Kapitän [Name 2] schickte daraufhin den Schiffsarzt Dr. [Name 1] an Bord der »Ross Fighter«.

[Name 1] kehrte am 28.7.1964 nicht zur »Johannes R. Becher« zurück und reagierte auf wiederholte Aufforderungen von Kapitän [Name 2], unverzüglich zurückzukommen, zunächst nicht. Am Morgen des 29.7.1964 teilte er dann mit, er würde nicht in die DDR zurückkehren, sondern in England um Asyl ersuchen. Auf den ausdrücklichen Hinweis des Kapitäns der »Johannes R. Becher«, dass sich an Bord vier Schwerkranke befinden (zwei Mitglieder der Besatzung der »J. R. Becher« und zwei Matrosen der »Ross Fighter«) erklärte [Name 1], »der Kapitän solle sehen, wie er weiterkomme«.

Die Aufforderung an Kapitän [Name 3], den Arzt wieder zurückzuschicken, wurde von diesem mit Schimpfworten beantwortet.

Ohne dass sich der englische Kapitän der »Ross Fighter« um die auf dem DDR-Schiff befindlichen schwerkranken Besatzungsmitglieder kümmerte und – wie es seine Pflicht gewesen wäre – durch die Zurückweisung des [Name 1] die Voraussetzungen zur ärztlichen Betreuung der insgesamt vier Schwerkranken auf der »Johannes R. Becher« schuf, entfernte sich die »Ross Fighter« kurze Zeit darauf aus dem Sichtbereich der »J. R. Becher«.

Der Kapitän der »J. R. Becher« war zur Gewährleistung der notwendigen Weiterbehandlung der vier Kranken gezwungen, das Fang- und Verarbeitungsschiff »Erich Weinert«, das sich auf nächster Position befand, um ärztliche Hilfe zu bitten. Die Schiffsärztin der »Erich Weinert«, [Name 4], ordnete nach einer ersten ärztlichen Untersuchung an, die zwei englischen Unfallkranken unverzüglich, da die ärztliche Notwendigkeit bestand, nach Saint Johns/Neufundland zur fachärztlichen Betreuung zu bringen, was von der »J. R. Becher« auch erfolgte.

Wie Untersuchungen ergaben, hat [Name 1] seine Republikflucht seit längerer Zeit vorbereitet und zu diesem Zweck sich als Schiffsarzt beworben. Durch betont korrektes Auf-6

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