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Polnische Arbeiter im Bereich VVB Braunkohle Cottbus

20. April 1964
Einzelinformation Nr. 336/64 über die aufgrund des Vertrages vom 17. März 1963 zwischen den Regierungen der VR Polen und der DDR im Bereich der VVB Braunkohle Cottbus im Qualifizierungseinsatz befindlichen polnischen Arbeiter

In einigen Braunkohlenwerken der VVB Braunkohle Cottbus arbeiten gegenwärtig 466 polnische Arbeiter – von insgesamt 511 angereisten –, um sich entsprechend den vertraglichen Regelungen zwischen der VR Polen und der DDR1 die notwendigen beruflichen Fähigkeiten für ihren späteren Einsatz in den neuen Braunkohlenwerken der VR Polen anzueignen. Die polnischen Arbeiter wurden in den Betrieben der VVB Braunkohle Cottbus

  • Kombinat »Schwarze Pumpe«,

  • BKK Lauchhammer,

  • BKW »Franz-Mehring« – Brieske,

  • BKW »John Scheer« – Laubusch,

  • BKW »Jugend« – Groß Beuchow

zusammengefasst eingesetzt.

Aufgrund vorliegender Informationen sieht sich das MfS veranlasst, über einige, die kontinuierliche Ausbildung gefährdende Hemmnisse und Missstände zu informieren.

  • 1.

    Nach unseren Informationen bestehen besondere Mängel in der Auswahl polnischer Bürger für die Qualifizierung in den Bergbauberufen Baggerfahrer, Reparaturschlosser, Reparaturelektriker, da von polnischer Seite zu wenig darauf geachtet wurde, nur Arbeiter mit artverwandten Berufen des Bergbaues zum Qualifizierungseinsatz zu delegieren. Eine Anzahl polnischer Arbeiter übte bisher Berufe wie Tischler, Müller, Dachdecker, Kraftfahrer, Schneider oder Landarbeiter aus. Rund 80 % der polnischen Arbeitskräfte waren bisher nicht im Bergbau tätig. Ein anderer Teil dieser Arbeitskräfte stand vor ihrer Delegierung in die DDR in keinem Arbeitsverhältnis. Dadurch sind die fachlichen Voraussetzungen der polnischen Arbeiter für ihre Qualifizierung im Bergmannsberuf sehr unterschiedlich.

  • 2.

    Wie aus den nachfolgenden Hinweisen noch zu entnehmen ist, gewährleisten auch die politische Zusammensetzung und der ideologische Zustand der polnischen Arbeiter kaum eine wirksame massenpolitische Arbeit, um spezielle Fragen der Arbeitsmoral und -disziplin usw. zu klären. Bei einem Teil der polnischen Arbeiter traten in der Zeit ihres Einsatzes in den Bergbaubetrieben Erscheinungen von Arbeitsbummelei auf. Es wurden wiederholt Fehlschichten gefahren, der Urlaub wurde teilweise bis zu sieben Tage überschritten, die Arbeitspausen wurden nicht eingehalten und durch Vortäuschen von Krankheit wurde unberechtigterweise vom Arbeitsplatz ferngeblieben. Für die theoretische Ausbildung ist ebenfalls nur wenig Interesse vorhanden. Etwa 30 % aller polnischen Arbeiter beteiligen sich nicht oder nur sehr unregelmäßig am theoretischen Unterricht.

    Der Leistungsstand ist daher unzureichend (Durchschnittsnote 3.12), wodurch die angestrebte Grundausbildung und der erforderliche Qualifizierungsgrad ernsthaft gefährdet werden. In den Aussprachen über diese Unzulänglichkeiten konnte bei den polnischen Arbeitern kein Verständnis für die Bemühungen der Werkleitungen und Ausbildungskräfte zur theoretischen Ausbildung erreicht werden. Sie betonten bei diesen Aussprachen besonders stark, in die DDR gekommen zu sein, um möglichst viel Geld zu verdienen und sich damit eine solide materielle Grundlage schaffen zu wollen. Diese Tendenz »des Geldverdienens« wird u. a. auch aus einer Reihe von Forderungen ersichtlich, die im bisherigen Verlauf ihres Einsatzes gestellt wurden. Solche Forderungen beinhalten:

    • jeder polnische Bürger soll unabhängig von seinen Leistungen gleichen Lohn und gleiche Prämien erhalten;

    • Bewilligung von Deputatkohle;

    • Gewährleistung von Trennungsgeld;

    • weitere Ausgabe von Trinkbranntwein bzw. als Ersatz Ausgabe von Schokolade und Zigaretten;

    • Gewährung von Wochenendurlaub über die vertragliche Regelung hinaus.

    Einige dieser Forderungen konnten im beiderseitigen Interesse geklärt werden, andere Forderungen, z. B. nach Gewährung von Trennungsgeldern, konnten noch nicht geklärt werden. Bezeichnend für die Situation unter den polnischen Arbeitern sind aber auch Forderungen, westliche Zeitschriften zu erhalten und westliche Fernsehsendungen empfangen zu können. Beispielweise haben sich polnische Arbeiter im BKK Lauchhammer Fernsehantennen gefertigt, um das westdeutsche Programm zu empfangen.

    Aussprachen oder Beratungen über diese und andere ideologische Probleme finden nach unseren Informationen unter den polnischen Arbeitern und selbst unter den Mitgliedern der PVAP nicht statt. Die polnischen Genossen (Mitglieder der PVAP) und Mitglieder des Jugendverbandes (ZMS) sowie die Vertreter der polnischen Selbstverwaltungsorgane in den Betrieben weichen offensichtlich derartigen ideologischen Auseinandersetzungen aus. Sie begründen ihre Zurückhaltung in diesen Fragen damit,

    • bei Rückkehr in die VR Polen Repressalien befürchten zu müssen,

    • Angst vor einer Schlägerei mit den eigenen Landsleuten zu haben,

    • aufgrund eigener Fehler nicht in der Lage zu sein, für Disziplin und Ordnung im Kollektiv der polnischen Bürger sorgen zu können.

    Eine Reihe polnischer Arbeiter wies in Aussprachen auf ein ungenügendes Vertrauensverhältnis zu den Genossen der polnischen Delegationsleitung hin.

  • 3.

    Aus weiteren Hinweisen ist ersichtlich, dass vonseiten der polnischen Arbeiter teilweise die notwendige Sorgfalt im Umgang mit den Einrichtungsgegenständen in den Unterkünften fehlt. Beispielweise traten im Wohnlager des BKW »Jugend« Sachbeschädigungen an Klubsesseln, Wandleuchten, Rundfunkgeräten und Büchern auf. In anderen Wohnlagern sind ähnliche Vorkommnisse aufgetreten. Von polnischen Bürgern wurde nach ihrem Eintreffen in den Einsatzbetrieben ein illegaler Handel mit Zigaretten amerikanischer Herkunft, Nivea-Creme usw. organisiert. Sie selbst kaufen besonders Musikinstrumente, Saxophone und Akkordeons, um sie in der VR Polen zu Überpreisen zu veräußern.

  • 4.

    Obwohl nach den vorliegenden Einschätzungen ausreichende Möglichkeiten für eine sinnvolle Gestaltung der Freizeit geschaffen wurden – Büchereien, Rundfunk- und Fernsehräume, Bügel- und Kochräume, Sportanlagen und Sportgeräte, Musikinstrumente, polnische Tageszeitungen und Illustrierte Zeitschriften, Busfahrten – werden diese Gelegenheiten nur äußerst wenig genutzt. Die Botschaft der VR Polen in der DDR stellt laufend Filme und Bücher für die kulturelle Betreuung zur Verfügung. Außerdem wurden in der Vergangenheit von den FDJ-Grundorganisationen und Betriebssportgemeinschaften Veranstaltungen organisiert, zu denen die polnischen Gastarbeiter eingeladen waren. Im Allgemeinen war jedoch eine sehr geringe Beteiligung der polnischen Arbeiter zu verzeichnen. Nach den vorliegenden Informationen wird der überwiegende Teil der Freizeit in Gaststätten, teilweise mit moralisch nicht einwandfreien weiblichen Personen, verbracht.

  • 5.

    Im Verlauf des Einsatzes ereigneten sich eine Reihe von Verletzungen und Übertretungen der sozialistischen Gesetzlichkeit durch polnische Bürger. Im Zeitraum Mai bis Dezember 1963 gab es 21 Vorkommnisse, während sich im Zeitraum Januar bis März 1964 bereits zwölf derartige Vorkommnisse ereigneten. Vor allem wegen einiger schwerwiegender Schlägereien mit teilweise eingetretenen Körperverletzungen mussten Ermittlungsverfahren gegen polnische Staatsbürger eingeleitet werden. Wegen einiger schuldhaft verursachter Schlägereien mit polnischen Arbeitern, teilweise verbunden mit Körperverletzung, mussten ebenso zehn Ermittlungsverfahren gegen deutsche Bürger eingeleitet werden. Charakteristisch für die aufgetretenen Schlägereien zwischen polnischen und deutschen Arbeitern ist, dass bisher keine Kumpel der Braunkohlenbetriebe in diese Konflikte verwickelt waren. Vorkommnisse dieser Art ereigneten sich ausschließlich unter Beteiligung von Arbeitern der Bauindustrie und der Ausrüstungsbetriebe. Ursachen dieser Auseinandersetzungen waren besonders übermäßiger Alkoholgenuss oder die Aufnahme von Beziehungen zu weiblichen Personen. In den umfangreich geführten Ermittlungen gab es bisher keine Hinweise dafür, dass diesen Zwischenfällen irgendwelche staatsfeindlichen oder andere politische Motive zugrunde lagen. Vom MfS wird vorgeschlagen, dass die für die Durchführung des Regierungsabkommens verantwortlichen Organe die Möglichkeit prüfen, gemeinsam mit den entsprechenden Organen der VR Polen die im Bericht genannten Schwächen und Missstände durch geeignete Maßnahmen zu beseitigen.

  1. Zum nächsten Dokument Flucht über den Teltow-Kanal

    21. April 1964
    Einzelinformation Nr. 337/64 über einen schweren Grenzdurchbruch im Bereich der 2. Grenzbrigade GR 46, 2. Kompanie (Teltow) am 20. April 1964

  2. Zum vorherigen Dokument Versenden von gefälschten Telegrammen an den Staatsratsvorsitzenden

    20. April 1964
    Einzelinformation Nr. 335/64 über das Versenden von gefälschten Telegrammen an den Staatsratsvorsitzenden Genossen Walter Ulbricht durch den Bäckermeister [Vorname Name], wohnhaft in Staupitz, Kreis Finsterwalde