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Weiterer Verlauf Teilsynode der EKD in Magdeburg

24. März 1965
Einzelinformation Nr. 254/65 über den weiteren Verlauf der Teilsynode der EKD in Magdeburg

Von mehreren zuverlässigen Quellen wurde – ergänzend zu den in der Information vom 23.3.1965 (Nr. 252/65) angeführten Einzelheiten über den ersten Tag der Synode – über den Verlauf der Teilsynode in Magdeburg am 22. und 23.3.1965 berichtet.

Nach den vorliegenden Materialien und Informationen befassten sich die Synodalen in Magdeburg am 22.3. größtenteils mit theologischen Fragen. Berichterstatter waren Dr. Krusche1 (Direktor des Prediger-Seminars Lückendorf)2 und Dr. Zabel3 (Generalsekretär des Bibelwerkes). Ihre Referate enthielten keine politischen Aussagen. Einen weiteren Vortrag hielt Dipl.-Chem. Schmidt (Greiz), der u. a. auf den »Substanzverlust« der Kirche hinwies. Weitere Tagesordnungspunkte waren eine 1. Lesung zum »Kirchengesetz über Tagungen der Kirchenkonferenz in besonderen Fällen«,4 die Bildung von Ausschüssen und Beratungen in den Ausschüssen.

Der Entwurf des genannten Kirchengesetzes gab Oberkirchenrat Behm5 bekannt. Wie Bischof Krummacher6 bereits am ersten Tag in seinem Bericht erklärte, handelt es sich dabei um ein sog. Ergänzungsgesetz, um auch für das Zusammentreten der Kirchenkonferenz in der DDR (Arbeitsgremium, beratendes Gremium der Synode) die erforderlichen »Rechtsvoraussetzungen« zu besitzen, nachdem die Durchführung getrennter Synoden in beiden deutschen Staaten bereits mit einem Kirchengesetz vom 13.3.1963 geregelt wurde. Es soll ermöglicht werden, dass künftig auch die Kirchenkonferenz zu örtlich getrennten Tagungen einberufen werden kann.

Das Gesetz besagt, dass der Vorsitzende des Rates der EKD die Kirchenkonferenz bis auf Weiteres zu getrennten Tagungen einberufen kann. Er kann dieses Recht auf seinen Stellvertreter oder ein anderes Ratsmitglied übertragen. Die örtlich getrennten Tagungen der Kirchenkonferenz werden vom Vorsitzenden oder von einem anderen Mitglied des Rates der EKD geleitet. Falls örtlich getrennte Tagungen nicht durchführbar seien, finde die Kirchenkonferenz dort statt, wo sich die Mehrheit der Mitglieder versammeln kann.

Die Gesetzesvorlage war der Synode bereits am 21.3. von der Konferenz der Bischöfe und Kirchenleitungen in der DDR (bei 2 Stimmenthaltungen) zur Annahme empfohlen worden. Nachdem die Beratung über den Gesetzentwurf im Rechtsentwurf im Rechtsausschuss fortgesetzt worden war, erfolgte am 23.3. die 2. Lesung. Gegenteilige Meinungen traten nicht auf. Der Vizepräses der Synode Figur7 habe darauf gedrängt, diese Lesung vorzuziehen, um »im Rhythmus mit Frankfurt« zu bleiben.

Wie weiter bekannt wurde, ersuchte ein Vertreter des Westdeutschen Rundfunks in Köln (ein gewisser [Name 1] vom sog. Mittagsmagazin des WDR) Bischof Mitzenheim8 um ein Interview. Seine Fragen zielten darauf ab, von Bischof Mitzenheim dessen Meinung u. a. über Inhalt und Atmosphäre der Tagung der Kirchenkonferenz sowie Einzelheiten über sog. Kirchenkontakte zwischen Ost und West zu erfahren. Bischof Mitzenheim lehnte jedoch die Erteilung entsprechender Auskünfte ab und forderte vom Vertreter des WDR, sich der korrekten Bezeichnung Deutsche Demokratische Republik zu bedienen.

Der Briefwechsel zwischen Präses Scharf9 und Bischof Krummacher zur Frage der Atombewaffnung wurde – wie bereits in der Information vom 23.3. angekündigt – von der Pressestelle der Kirchenkanzlei den Mitgliedern der Synode bekannt gegeben. Der den Synodalen bekannt gegebene Briefwechsel ist dieser Information abschriftlich beigefügt.

Wie in diesem Zusammenhang berichtet wurde, erklärte Generalsuperintendent Jacob10 am 23.3., dass es auf den beiden Teilsynoden in Magdeburg und Frankfurt/M. keine Einmütigkeit in den Auffassungen zu diesem Briefwechsel gibt. Nach einer weiteren Information vertrete ein Teil der Synodalen die Meinung, dass Krummacher es mit seiner positiven Stellungnahme zur Frage der Atombewaffnung nicht ehrlich meine. Es sei u. a. geäußert worden, dass Krummacher sich damit wieder eine Genehmigung für eine Auslandsreise verschaffen wolle.

Ferner wurde zu den in der Information vom 23.3. genannten Ausführungen Krummachers, wonach die guten Beziehungen zum Ökumenischen Rat in der Schweiz die Grundlage für die Kurse für Laien und Geistliche seien, ergänzend bekannt, dass es sich um Kurse handelt, die das Ökumenische Institut Bossey11 im Stephanus-Stift (früher Stoecker-Stiftung)12 in Weißensee13 durchführt.

Am 23.3. fand im Wintergarten der Pfeifferschen Stiftungen14 ein sog. Informationsgespräch zwischen führenden Vertretern der Synode, der Kirchenzeitungen und der CDU-Presse statt. Seitens der Synode nahmen Bischof Krummacher, Kirchenrätin Leweck und Vizepräses Figur teil. Als Vertreter der Presse waren Klages, Neue Zeit,15 Pfarrer Schlorr, Mecklenburgische Kirchenzeitung, Dr. Brigitte Krell, Potsdamer Kirche, Missionsdirektor Brennecke,16 Zeichen der Zeit,17 und Lorenz, Evangelischer Nachrichtendienst Ost,18 erschienen.

Im Mittelpunkt des Gesprächs standen Fragen zur Arbeitsweise und Funktion der EKD, zur Stellung der Kirche zu den beiden deutschen Staaten und zu den Lebensfragen der Nation. Wie bereits in seinem Bericht am 1. Tag der Synode wies Krummacher darauf hin, dass die »Einheit der EKD« nicht starr und formal, sondern eine »Einheit im Vertrauen« sei. Probleme, die nicht so schnell mit den westdeutschen Synodalen abgesprochen werden könnten, sollen auf Arbeitstagungen der DDR-Synodalen behandelt werden. Bei diesen Zusammenkünften könnten eigenständige Entscheidungen getroffen werden. Als Beispiele führte er erneut die Stellungnahmen zum Arbeitsgesetz, Bildungssystem usw. an.

Zur »Beweisführung« dafür, dass die Situation der Kirche in beiden deutschen Staaten unterschiedlich sei, führte er an, dass es in der DDR z. B. keinen Beauftragten der EKD bei der Regierung der DDR gebe.19 Bedenken und Vorstellungen der Kirche zu bestimmten Problemen könnten deshalb nicht unmittelbar mit der Regierung besprochen werden. Die Kirche müsse deshalb von der in der DDR entwickelten Praxis, Gesetze in der Öffentlichkeit zu diskutieren, sinngemäß Gebrauch machen. Das Staatssekretariat für Kirchenfragen sei nicht immer die richtige Stelle für Aussprachen zwischen Staat und Kirche, zumal es für viele Fragen nicht kompetent sei.

Im weiteren Verlauf des Gesprächs gingen Krummacher und Figur auf die Stellung der EKD zu den beiden deutschen Staaten ein. Krummacher zitierte erneut Präses Scharf, wonach die EKD nicht Sprecher einer bestimmten Form der Zuordnung zu den beiden deutschen Staaten sein könne.

Die EKD habe kein pauschales Rezept für die Lösung der deutschen Frage und könne ein solches Konzept auch nicht pauschal übernehmen. Bis jetzt abgegebene Stellungnahmen seien als Einzelerscheinungen zu werten, da die Kirche in erster Linie theologische Aufgaben habe. Krummacher polemisierte dabei gegen das Wartburg-Gespräch20 und behauptete, dass eine Normalisierung der Beziehungen der Kirchen zwischen Ost und West eine Verbesserung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten bewirken würde und nicht umgekehrt.

Figur erklärte dazu, dass die Nichtanerkennung der EKD durch die Regierung der DDR »die umgekehrte Hallstein-Doktrin«21 sei. Die Nichtanerkennung der existenten EKD sei dasselbe wie die Nichtanerkennung der existenten DDR.

Im Unterschied zu Krummacher wich Figur einer klaren Stellungnahme zu solchen Fragen wie z. B. zur Frage der atomaren Aufrüstung Westdeutschlands aus. Er äußerte, dass es schwierig sei, zu solchen Fragen etwas Gemeinsames zu sagen, da man sich gegenseitig nicht anhören und abstimmen könne. Wenn es auch die Möglichkeit der getrennten Stellungnahme gebe, müsse zumindest innerhalb der Teilsynode Einstimmigkeit erzielt werden.

Im weiteren Verlauf spielte die Beratung einiger Vorlagen zu theoretischen Fragen (Autoren sind Pfarrer Steiner aus Wuppertal-Barmen und Prof. Gollwitzer22) sowie eines »Wortes an die Pfarrer« eine wichtige Rolle.23 Die Vorlage zum »Wort an die Pfarrer« sollte – nach westdeutschen Vorstellungen – dahingehend erweitert werden, dass damit ein größerer Kreis der im Dienst der Kirche Stehenden angesprochen werden soll. Die Frankfurter Synode habe die Synode in Magdeburg »beauftragt«, diese Vorlage für beide Teilsynoden auszuarbeiten. Die westdeutsche Seite wolle das in Magdeburg erzielte Ergebnis dann akzeptieren. Bis zum Abend des 23.3. wurde über die Vorlagen jedoch keine Einigung erzielt. Die Beratung über diese Vorlagen soll am 24.3. mit dem Ziel fortgesetzt werden, doch noch Übereinstimmung zu erzielen.

In den Stellungnahmen zum Bericht Krummachers und zu den Ausschussberichten habe es außer der Betonung der »Einheit der EKD« keine wesentlichen Meinungsäußerungen gegeben. Keiner der Diskussionsredner habe zu aktuellen politischen Problemen Stellung genommen. Generalsuperintendent Jacob brachte zum Ausdruck, er sei dagegen, dass Bischof Dibelius24 bei der Zusammenkunft der Kirchenkonferenz West als Vertreter der Landeskirche Berlin-Brandenburg auftritt. Dibelius könne bestenfalls als Vertreter Westberlins in Erscheinung treten.

Den bisherigen Verlauf der Teilsynode in Magdeburg habe Jacob als »sehr lahm« eingeschätzt. Allgemein wurde von den Quellen darauf hingewiesen, dass die jetzige Synode die »bisher uninteressanteste« gewesen sei. Es sei zwar viel über die Einigkeit und Brüderlichkeit geredet worden, jedoch sei bisher noch kein konkretes Arbeitsergebnis zustande gekommen. Die Synodalen seien vom Verlauf der Synode teilweise enttäuscht. Über das Verhältnis zwischen den Synoden in Magdeburg und Frankfurt/M. sei – außer von einigen führenden Vertretern, die diese Frage hochzuspielen versuchten – im Allgemeinen wenig gesagt worden.

Die Information darf im Interesse der Sicherheit der Quellen nicht publizistisch ausgewertet werden.

Anlage zur Information Nr. 254/65

Abschrift

Briefwechsel zwischen Präses Scharf und Bischof Krummacher25

»Bischof D. Krummacher | Greifswald, den 28.2.1965

Lieber Bruder Scharf!

Sie wissen, dass mich und andere kirchenleitende Brüder in der DDR unablässig die Frage umtreibt: Was haben nun wir als eine Kirche für die Menschen eines geteilten Volkes zu tun? Weil wir voneinander getrennt sind, ist es schwer eine sachkundige und wirklich hilfreiche Antwort zu finden. Ich bitte Sie, als den Vorsitzenden des Rates der EKD deshalb herzlich, zu helfen, dass wir eine gemeinsame kirchliche Antwort auf einige brennende Fragen geben können, zumal Sie bessere Einsichten in die inneren Probleme der Bundesrepublik haben als wir.

Die erste unablässig seit dem grauenvollen Tage von Hiroshima die Menschheit beängstigende Frage nach der totalen Beseitigung der Atomwaffen kann nur im Weltmaßstab richtig gesehen werden. Sie hat aber doch noch einen besonderen Ernst für uns als Christen gerade im deutschen Volk, das durch sein Verschulden mit dem 2. Weltkrieg so unendlich viel Unheil über die Völker gebracht hat.26 Darum scheint mir die klare Forderung zwingend: was auch immer die Politiker für Verteidigungsmaßnahmen für nötig halten mögen, jedenfalls gehören Atomwaffen nicht in deutsche Hände! Jedes Mitbestimmungsrecht der Bundesrepublik aber an einer wie auch immer gearteten Atombewaffnung muss unvermeidlicherweise neues tiefes Misstrauen bei unseren Nachbarvölkern hervorrufen. Eine neue Verhärtung des ohnehin tiefen Spaltes, der durch unser eigenes Volk geht, wäre die Folge erst recht bei dem Gedanken an einen Atomminengürtel an der innerdeutschen Grenze. Muss hier nicht die Kirche um der Menschen willen den Politikern rechtzeitig ihr warnendes Wort sagen?

Meine zweite Frage zielt auf die Erstarrung der politischen Fronten, wie sie z. B. in der Hallstein-Doktrin zum Ausdruck kommt. Macht es sich die Bundesrepublik nicht auf diese Weise unmöglich, Vorschläge der DDR auch nur zu prüfen? Sollten Doktrinen nicht darauf überprüft werden, ob sie geeignet sind, den Menschen zu dienen oder zu schaden? Wir sind im Rückblick auf 1964 alle tief dankbar gewesen für eine Reihe von »kleinen Schritten« der Menschlichkeit. Müssten nun nicht – wiederum um der Menschen willen – größere Schritte zu einer wirklichen Kooperation folgen? Meine Frage ist: ob die eine Kirche in dem so unselig zerrissenen Volk hier nicht die Stimme erheben und die Politiker mahnen sollte, die noch gegebenen Chancen nicht zu versäumen, ehe es zu spät ist. Die Tatsache, dass wir trotz der Zerrissenheit unseres Volkes eine EKD haben, deren Ratsvorsitzender Sie sind, ist doch ein ständiges Angebot zur Befriedung nach beiden Seiten.

Und endlich die Frage, die nun mit dem 8. Mai 1965 gestellt wird. Keiner kann ja vergessen, was vor 20 Jahren endete. Sie haben, lieber Bruder Scharf, als Seelsorger der Gemeinde Sachsenhausen das Grauen des dortigen Konzentrationslagers miterlebt.27 Ich meinerseits werde die Massengräber von Kiew und die grausigen Eindrücke von Auschwitz in meinem Leben nicht wieder vergessen können.28 Natürlich vermag ich die rechtsstaatlichen Erwägungen, die in der Bundesrepublik mit der Frage der Verjährung verbunden sind, nicht sachverständig zu beurteilen.29 Aber es ist doch unvorstellbar, wenn sich etwa der Eindruck im deutschen Volk und vor den anderen Völkern der Welt durchsetzen sollte, nun seien die Akten geschlossen, nun brauche man sich nicht mehr an die Vergangenheit zu erinnern, oder nun könnten sich gar ungestraft neue Giftzentren bilden, aus denen eine Wiederkehr dieser alle menschlichen Vorstellungen übersteigenden Geschehnisse hervorbrechen. Müsste nicht auch hier die Kirche aus tiefer Sorge um die Menschen ein wegweisendes Wort finden?

Um dieser Menschen willen, deren Bruder Jesus Christus ist, haben alle großen Synoden der EKD und alle ökumenischen Weltkonferenzen seit 1945 ihre Stimme immer wieder für den in unserem Jahrhundert besonders gefährdeten Menschen erhoben.

So hat erst jetzt wieder der Ökumenische Rat der Kirchen auf seiner Jahressitzung in Nigeria30 die Vorschläge der »Kommission für Kirchen für internationale Angelegenheiten« (CCIA)31 aufgenommen. Darunter waren auch für uns sehr brennende Fragen, wie etwa die Schaffung atomfreier Zonen in bestimmten Teilen der Erde,32 die Erweiterung des Moskauer-Atomteststopp-Abkommens,33 die Überwindung aller Rassenvorurteile, die Hilfe für die Menschen und Völker Afrikas.

Wenn wir auch in ganz verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen unseren kirchlichen Dienst tun, so ist uns doch in unserer Kirche eine gemeinsame unteilbare Verantwortung für die Menschen unseres Volkes auferlegt. So bitte ich Sie, lieber Bruder Scharf, meine Fragen brüderlich recht aufzunehmen.

Ihr getreuer

gez. Krummacher«

»Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland | Der Vorsitzende | 7. März 1965

Lieber Bruder Krummacher!

Ihr Brief vom 28.2.1965 trifft auf Erwägungen, die auch mich sehr beschäftigen. Die Evangelische Kirche in Deutschland kann sich gewiss von keiner Seite für die Unterstützung eines bestimmten politischen Konzeptes in Anspruch nehmen lassen. Aber diese Unabhängigkeit verstehe ich nicht so, dass die Kirche nicht doch in den politischen Dingen einen besonderen Auftrag hätte. Wie nötig politischer Dienst der Kirche ist, erfahren wir als eine kirchliche Gemeinschaft an einer spannungsgeladenen Stelle der Weltpolitik jeden Tag von Neuem. Wie Sie sehe ich in solchem Dienst eine kritische Unruhe im Interesse der Menschlichkeit in der Politik. Unsere Kirche kann ihn umso wirksamer tun, je unbefangener sie sich ihr Urteil bilden und es auch aussprechen kann.

Lassen Sie mich von daher zunächst einiges zu der von Ihnen erwähnten Sorge um die Erhaltung des Friedens sagen! Ich kann Ihrer Auffassung zu der Frage der Atomwaffen in deutschen Händen nur zustimmen, aber ich meine, wir müssen hinzusetzen: Auch der konventionelle Krieg stellt heute, zumal in Europa, nicht mehr eine ethisch zu vertretende Verhaltensweise dar. Auch die konventionellen Waffen führen heute zur Massenvernichtung Unschuldiger. Ich brauche zum Beweise dieser Behauptung nur das Beispiel Dresden zu nennen, die Stadt in der Deutschen Demokratischen Republik, der wir in diesen Wochen besonders gedacht haben – aus Anlass der Bombenangriffe auf seine Zivilbevölkerung vor 20 Jahren34 und aus Anlass unserer gesamtkirchlichen Wiederaufbausammlung.

Trotz aller Unterschiede im Urteil über das Recht und die Pflicht der bewaffneten Verteidigung des eigenen Landes ist sich unsere Kirche wohl darin einig, dass ein atomarer Krieg eine sittliche Ungeheuerlichkeit und eine politische Katastrophe wäre. Aber auch das ist für uns gemeinsame Erkenntnis, die uns mit der ganzen Christenheit verbindet: Auch ein mit konventionellen Waffen geführter Krieg kann prinzipiell nicht mehr sittlich gerechtfertigt werden, zumal in der gegenwärtigen Weltlage jeder Krieg – gar in Europa – unversehens in einem atomaren Vernichtungskrieg umschlagen kann. Daraus ergibt sich:

Die Kirche hat die Aufgabe, der breiten Öffentlichkeit die entsetzlichen Folgen kriegerischer Handlungen im eigenen Lande so vor die Augen zu malen, dass das öffentliche Bewusstsein sich gegen die Möglichkeit auch nur eines Krieges mit konventionellen Waffen wendet. In dem Bewusstsein, dass jede Spekulation auf eine kriegerische Auseinandersetzung von vornherein ausgeschlossen ist, muss die deutsche Bevölkerung einig sein.

Sie erinnern an die Auseinandersetzung über die Atomminen35 an der innerdeutschen Grenze. Gerade diese Auseinandersetzung macht deutlich, was ich meine: Was es mit den »Minen« wirklich auf sich hat, wissen wohl nur einige Sachverständige. Nach meinem Dafürhalten hat das Erschrecken über die Atomminen deutlich gemacht, wie wenig sich unser Volk dessen bewusst ist, dass wir uns ständig, also auch ohne Atomminen, am Abgrund weltpolitischer Katastrophen entlang bewegen. Gegenüber der deutschen Öffentlichkeit werden offenbar Grundfragen der militärischen Lage und der Militärpolitik nicht offen und glaubwürdig genug behandelt. Der Mangel an Informationen täuscht über den Ernst der Lage hinweg und verhindert ein verantwortliches politisches Mitdenken in der breiten Öffentlichkeit. Eben deswegen meine ich, hier eine politische Aufgabe der Kirche proklamieren zu sollen.

In einem zweiten Gedankengang beklagen Sie die Auslieferung politischen Handelns an starre Doktrinen, von denen Sie die sog. Hallstein-Doktrin ausdrücklich anführen. Hier wäre ja überhaupt der ganze Fragenbereich einer weltanschaulich und ideologisch bestimmten Politik von heute zu nennen. Unsere kirchliche Erfahrung geht dahin, dass eine sich als Dienst am Menschen verstehende Politik einen solchen Doktrinarismus nicht verträgt.

Auf Ihre konkrete Frage will ich aber auch konkret antworten: Wir haben uns als Kirche von der »Hallstein-Doktrin« nie betroffen gefühlt und haben uns nie an sie gebunden. Da die evangelische. Kirche in Deutschland als kirchliche Gesamtorganisation von Anfang bis heute in beiden deutschen Teilgebieten präsent ist, haben wir beispielsweise auch bei der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, solange sie es wünschte, einen Bevollmächtigten unterhalten. Wir haben, solange dies möglich war, unsere Synodaltagungen und sonstigen Konferenzen abwechselnd in den beiden Teilen Deutschlands durchgeführt. Wir vertreten auf ökumenischen Tagungen die evangelische Kirche in Deutschland unterschiedslos gemeinsam. Schon damit meinen wir, einen Dienst der Vermittlung und des Friedens zu tun.

Aber es ist sicherlich richtig, dass wir darüber hinaus diesen besonderen Vorzug, in beiden politisch und gesellschaftlich so unterschiedlichen Teilgebieten arbeiten zu können, auch tatsächlich noch stärker unmittelbar auszunützen haben.

Sie und ich sind dafür eingetreten, dass Regelungen für den Besuchsverkehr zwischen Ost und West in Deutschland zustande kämen. Als die Abkommen kritisiert wurden und eingeschränkt werden sollten, haben wir in internen Verhandlungen und öffentlichen Appellen ihre Verlängerung und Ausweitung gefordert. Auch ich bin der Meinung, dass um der Menschen willen den kleinen Schritten größere folgen müssen. Wir sind ständig bemüht, bei den zuständigen Stellen darauf hinzuwirken, dass nicht politische Doktrinen, sondern der Wille zum Frieden und zur Versöhnung unter den Menschen unseres Volkes die entscheidenden Motive werden.

Zu Ihrer letzten Frage nach der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechern ist mein bestimmtes Urteil:

Kirche ist nicht Anwalt der Rache, aber Kirche muss dafür eintreten, dass Schuld aufgedeckt und eingestanden wird, damit sie zwischen Menschen und von Gott vergeben werden kann. Deshalb halten wir nicht für Recht, dass die Verfahren wegen so ungeheuerlicher Verbrechen, wie die nationalsozialistische Zeit sie zu verantworten hat, durch das Eintreten einer Verjährung verhindert werden. Gründe, die stichhaltig wären, die Untersuchung dieser Verbrechen aufzuhalten, gibt es nicht.

Allerdings hat mich die Art, wie gegen das Eintreten der Verjährung vielfach argumentiert worden ist, tief bedrückt. Man sollte nicht ernsthafte, rechtliche Erwägungen von vornherein verdächtigen und jede Prüfung der komplexen Frage als ein böswilliges Manöver anprangern. Tut man dies, so wird man das Gegenteil erreichen von dem, was man erstrebt. Man wird das deutsche Volk, wie es heute ist, in der Gemeinschaft der Nationen der Erde isolieren und diffamieren, weil man jedes Verständnis für die innere deutsche Lage vermissen lässt, die sich 20 Jahre nach dem Kriegsende ergeben hat. Dadurch wird den Deutschen nicht zu Einsicht und Umkehr geholfen, sie werden vielmehr in neue, tiefere Verhärtung hineingetrieben. Ich zweifle nicht daran, dass die bevorstehende Entscheidung des Bundestages die Situation klären wird.

Könnten wir doch, lieber Bruder Krummacher, gemeinsam noch mehr dafür tun, dass die Botschaft des Evangelismus auch im politischen Alltag unseres geteilten Volkes wirksam wird! In diesem dringenden Wunsch weiß ich mich mit Ihnen verbunden als

Ihr getreuer

gez. Scharf«

  1. Zum nächsten Dokument 5. Bericht über die 2. Periode des Passierscheinabkommens

    25. März 1965
    5. Bericht Nr. 262/65 über die 2. Periode der Ausgabe von Passierscheinen des laufenden Passierscheinabkommens

  2. Zum vorherigen Dokument Trinkwasserverseuchung durch sowjetische Truppen bei Bernau

    23. März 1965
    Einzelinformation Nr. 258/65 über eine Verseuchung des Trinkwassers in Bernau, [Bezirk] Frankfurt/O.