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Geplante Gruppenfahnenflucht des Torpedoschnellbootes 844

7. März 1968
Einzelinformation Nr. 273/68 über eine geplante Gruppenfahnenflucht von Angehörigen der Volksmarine mit dem Torpedo-Schnell-Boot (TS-Boot) 844, 4. TS-Abteilung, 6. Flottille

Vom MfS wurde festgestellt, dass sich mehrere Angehörige des TS-Bootes 844 der VM mit der Absicht einer Gruppenfahnenflucht unter Entführung des TS-Bootes 844 tragen.1

Die dazu vom MfS eingeleiteten Untersuchungen ergaben bisher Folgendes: In den letzten Monaten des Jahres 1967 zeigte sich unter einem Teil der Bootsbesatzung eine zunehmende politische Desinteressiertheit, die sich in der Folgezeit in zunehmendem Maße zu einer negativen Einstellung zur Politik der Partei und unseres Staates steigerte.

Diese Entwicklung war vor allem auf den im November 1967 zuversetzten Stabsmatrosen [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1946, wohnhaft Stralsund, [Straße, Nr.], NVA seit 2.11.1965, 1. Ari-Gast2 auf dem TS-Boot 844, zurückzuführen, der schon auf dem TS-Boot 848 negativ diskutierte. [Name 1] machte seinen negativen Einfluss besonders unter den Besatzungsmitgliedern geltend, die mit ihm die Kammer 4 des Wohnschiffes H-64 bewohnten. Positiv auftretende Besatzungsmitglieder wurden von [Name 1] beleidigt, beschimpft oder durch Drohungen zur Duldung seiner negativen Handlungsweise gezwungen. Neben anderen Ausdrücken gebrauchte [Name 1] Schimpfworte wie »roter Hund«, »rotes Schwein« usw. oder er äußerte, »dass man früher Leute mit roten Augen verbrannt oder erschossen hätte«. [Name 1] versuchte u. a. seine Meinung mit Gewalttätigkeiten durchzusetzen. Nahm jemand gegen [Name 1] Stellung, so fasste er ihn in den Exknoten3 und holte mit der Faust zum Schlag aus. Aufgrund seiner Haltung übte [Name 1] einen starken negativen Einfluss besonders auf die anderen zehn Bewohner der Mannschaftskammer 4 aus.

Auf diese Weise versuchte [Name 1], die Mehrzahl der 18 Besatzungsmitglieder des TS-Bootes 844 unter seinen negativen Einfluss zu ziehen und eine progressive politische Aktivität der Mannschaft zu unterdrücken. Im Ergebnis dieses Einflusses wurden FDJ-Veranstaltungen als störend empfunden, keine Tagespresse gelesen und Nachrichtenmeldungen von DDR-Sendern abgestellt. Von mehreren Bootsbesatzungsangehörigen wurden selbst während des Dienstes Westsender empfangen. Der überwiegende Teil war am Polit-Unterricht desinteressiert und brachte dies offen zum Ausdruck.4

Aufgrund seiner negativen Grundeinstellung und angeregt durch die Kenntnis von einer verhinderten Gruppenfahnenflucht, die 1967 mittels eines U-Jägers der VM geplant war,5 unterbreitete [Name 1] Ende Dezember 1967 den Bewohnern der Mannschaftskammer 4 im Gespräch über dieses verhinderte Verbrechen den Vorschlag, unter Anwendung von Waffengewalt das TS-Boot 844 zu entführen und gemeinsam fahnenflüchtig zu werden. Während ein Teil der Mannschaft seine Zustimmung zu diesem Plan gab, enthielten sich die anderen VM-Angehörigen einer Äußerung, ohne über dieses Vorkommnis Meldung zu erstatten.

In weiteren Gesprächen – an denen u. a. Obermatrose [Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1946, NVA seit: 2.11.1965, Funker auf dem TS-Boot 844, und die Stabsmatrosen [Name 3, Vorname], E-Gast;6 [Name 4, Vorname], Maschinist; [Name 5, Vorname], 2. Ari-Gast; [Name 6, Vorname], Maschinist; [Name 7, Vorname], Torpedo-Gast und [Name 8, Vorname], Torpedo-Gast teilnahmen – wurden nähere Festlegungen zur Durchführung der gemeinsamen Gruppenfahnenflucht getroffen, wobei die Beteiligten damit rechneten, dass bei Auslösung der Aktion kein ernsthafter Widerstand anderer Besatzungsmitglieder außer dem des Kommandanten, des leitenden Ingenieurs und des Bootsmannes zu erwarten sei. Ausgehend von dem schlechten politisch-moralischen Zustand der Besatzung insgesamt kalkulierten sie die Teilnahme aller übrigen Matrosen der Bootsbesatzung mit ein.

Bei den näheren Festlegungen kamen sie im Januar 1968 überein, die Gruppenfahnenflucht bei einer der nächsten Übungsfahrten des TS-Bootes auf hoher See durchzuführen. Als günstigster Zeitpunkt wurde die Begegnung mit einem westdeutschen oder anderem NATO-Kriegsschiff in Betracht gezogen. Ein konkreter Termin wurde jedoch nicht vereinbart. Obermatrose [Name 2] erklärte sich dabei bereit, auf ein entsprechendes Signal von [Name 1], die sechs MPi aus dem Waffenspind durch das Panzerschott zu reichen, wo sie von [Name 1] entgegengenommen und an die übrigen in den Plan eingeweihten Bootsangehörigen übergeben werden sollten. Anschließend sollten der Kommandant, der leitende Ingenieur und der Bootsmann überwältigt und in der Vorpiek7 des Bootes festgesetzt werden. Danach wollten die Beteiligten Verbindung mit dem Feindschiff aufnehmen und ihre Flucht und die Entführung des Bootes realisieren.

Für den Fall, dass sie keinem Feindschiff begegnen würden, beabsichtigte [Name 1] den Kommandanten, den leitenden Ingenieur und den Bootsmann niederzuschlagen, die Führung des Bootes zu übernehmen und einen westdeutschen oder einen skandinavischen Hafen anzulaufen. Ihr Ziel bestand jedoch in einer Gruppenfahnenflucht nach Westdeutschland. Zu diesem Zweck sollten alle Mannschaftsdienstgrade ihre Funktionen an Bord weiter ausüben.8

Nach den bisherigen Untersuchungsergebnissen sind [Name 1] und [Name 2] die Initiatoren und Hauptbeteiligten des geplanten Verbrechens.9

Alle Beteiligten wurden zunächst arretiert. Gegen [Name 1] und [Name 2] wurde ein E-Verfahren mit Haft eingeleitet. Sie wurden vom Untersuchungsorgan des MfS übernommen.

Die Untersuchungen zur Aufklärung aller mit der geplanten Gruppenfahnenflucht im Zusammenhang stehenden Probleme wie Ursachen, Motive, begünstigende Umstände und zur Person des [Name 1] sind noch nicht abgeschlossen. Nach Vorliegen abschließender Untersuchungsergebnisse wird informiert.

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    10. März 1968
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