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Reaktionen der Bevölkerung zum gemeinsamen Brief an das ZK der KSČ

23. Juli 1968
Einzelinformation Nr. 778/68 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR zum gemeinsamen Brief an das ZK der KSČ und zur weiteren Entwicklung in diesem Zusammenhang

Die in der letzten Zeit erfolgte Veröffentlichung der verschiedensten Stellungnahmen zur Entwicklung in der ČSSR,1 insbesondere des gemeinsamen Briefes2 an das ZK der KSČ3 und in Auswertung der Materialien durch Rundfunk und Fernsehen hat dazu beigetragen, dass das allgemeine Interesse für die Ereignisse in der ČSSR und die weitere Entwicklung dieses Landes wieder angestiegen ist.

Aus den bisher vorliegenden Informationen geht hervor, dass in der Mehrzahl der Diskussionen der Brief der fünf kommunistischen und Arbeiterparteien voll inhaltlich befürwortet und die Sorge um den Bestand der sozialistischen Errungenschaften in der ČSSR geteilt wird. Unsere Bürger begrüßen auch überwiegend die im Brief zum Ausdruck gebrachte Konsequenz dieser Parteien, vor allem der KPdSU, eine Beseitigung des Sozialismus durch konterrevolutionäre Kräfte nicht zuzulassen und mit allen Mitteln zu verhindern.

Die zustimmenden Äußerungen sind jedoch auch vielfach mit verschiedenen Befürchtungen und Fragen verbunden, besonders mit folgenden:

  • Die Zuspitzung der Widersprüche in der ČSSR und das immer offenere Auftreten konterrevolutionärer Elemente, die besonders vom westdeutschen Imperialismus unterstützt werden, führt zu einer immer stärkeren Konfrontation Sozialismus – Imperialismus, die in einer bewaffneten Auseinandersetzung und damit in einem Weltkrieg mit unabsehbaren Folgen enden könnte. (Vereinzelt wird in diesem Zusammenhang die Anwesenheit der Sowjetarmee in der DDR und der ČSSR als beunruhigend empfunden.)

  • Die Wirksamkeit des Briefes, d. h., ob die progressiven Kräfte in der ČSSR in der Lage sind, sich zusammenzuschließen und die Entwicklung unter Kontrolle zu bringen, sei zu bezweifeln, zumal eine Anzahl leitender Genossen in der ČSSR nichts oder nur wenig in dieser Richtung unternehmen und andere in leitenden Positionen (vor allem Presse und Rundfunk) stehende Kräfte die konterrevolutionären Elemente unterstützen.

  • Wie wollen die anderen sozialistischen Länder die konterrevolutionäre Entwicklung verhindern, wenn die KSČ selbst nichts Wirksames dagegen unternimmt? Wäre ein sofortiges militärisches Eingreifen nicht zweckmäßig? Einzelne Befürchtungen gehen so weit, dass man die ČSSR »abschreiben« könne.

  • Warum haben die KPdSU und die anderen Parteien nicht schon früher wirksam Einfluss genommen, um eine solche Entwicklung in der ČSSR zu verhindern?

  • Wie konnten die Funktionäre und Mitglieder der KSČ eine solche Entwicklung überhaupt erst zulassen?

  • Welche Rolle spielen und spielten die Sicherheitsorgane und die Armee in der ČSSR?

  • Welche wirtschaftlichen Probleme und Komplikationen ergeben sich aus dieser Entwicklung für die DDR und die Wirtschaftsbeziehungen mit der ČSSR? (Z. B. wurden auf Wunsch der ČSSR-Partner alle Verhandlungen des Halbleiterwerkes Frankfurt[/O.], Betriebsteil Stahnsdorf, auf August/September verschoben. Der Kauf und Verkauf auf diesem Gebiet wurde eingestellt.)

Bei einzelnen Bürgern verschiedener Schichten der Bevölkerung der DDR treten neben solchen Befürchtungen auch eine Reihe von Unklarheiten auf:

  • Der Brief enthalte einen Widerspruch, weil einerseits von Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der ČSSR gesprochen werde, andererseits aber seien die Unterzeichner nicht willens, eine antisozialistische Entwicklung in der ČSSR zuzulassen. Man dürfe der ČSSR den Sozialismus nicht aufzwingen, wenn sie nicht will.

  • Wenn solche prominenten Leute wie Zátopek,4 Zikmund und Hanzelka5 die »2000 Worte«6 unterschrieben hätten, dann könne man diese nicht als ausländische Agenten bezeichnen.

  • Es werden Zweifel an der Stärke und Geschlossenheit des sozialistischen Lagers laut, besonders in Kreisen der Intelligenz und in Kreisen von Handwerkern, Gewerbetreibenden usw., wobei auf eine zunehmende Orientierung einiger sozialistischer Staaten (Rumänien,7 Jugoslawien und nunmehr auch der ČSSR) auf eine »Anlehnung an den Westen« verwiesen wird. Da jedoch auch im Westen starke Kräfte existieren würden, die eine Annäherung an das sozialistische Lage wünschen, blieben »die DDR neben der SU das einzige Land, das den Prinzipien des sozialistischen Aufbaus streng Folge leistet«.

Der Einfluss der westlichen Kommunikationsmittel, besonders zur Propagierung der »neuen Ostpolitik« der westdeutschen Regierung und zur Umschleierung ihrer Aktivitäten, spiegelt sich u. a. in nachfolgenden Argumenten wider:

  • Dubček8 versuche, »menschliche Kontakte« herzustellen;

  • in der ČSSR werde praktiziert, wie die »Entwicklung der persönlichen Freiheit« aussehe;

  • die ČSSR wolle sich von der »behindernden Vormundschaft der Sowjetunion« freimachen und deshalb seien die Bestrebungen zu engen Kontakten mit Westdeutschland normal;

  • die Ziele der »demokratischen Kräfte« könne man nicht ablehnen, weil sie für die »weitere Entwicklung auch anderer sozialistischer Staaten entscheidend« seien.

Ein Teil bereits bekannter, negativ-feindlich auftretender Personen aus den verschiedenen Schichten der Bevölkerung nimmt die Veröffentlichungen der letzten Zeit zum Anlass, unter dem Einfluss der westlichen Rundfunk- und Fernsehsender und der Argumente der konterrevolutionären Kräfte in der ČSSR ihre Angriffe vor allem gegen die konsequente Haltung der Partei- und Staatsführung in der DDR und in der UdSSR zu richten. Ihre Argumente beinhalten im Wesentlichen:

  • Verleumdung der Sowjetunion und der DDR unter Bezugnahme auf den Brief, mit dem die Sowjetunion und die DDR eine »Einmischung in die inneren Angelegenheiten der ČSSR« betreiben und eine »Unterdrückungsfunktion gegen den Willen der Regierung und Bevölkerung der ČSSR« ausüben würden. Dabei wird der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass die ČSSR »standhaft bleibe«.

  • Offene Zustimmung zur und Verherrlichung der Entwicklung besonders in der letzten Zeit in der ČSSR und der engen Zusammenarbeit der revisionistischen und konterrevolutionären Elemente in der ČSSR mit den revanchistischen Kräften in Westdeutschland.

  • Die DDR wäre am meisten an einem Einhalt in der Entwicklung in der ČSSR interessiert, weil sie sich »vor Auswirkungen auf die eigene Entwicklung und vor einer Fehlerdiskussion fürchte«.

  • Gäbe es nicht China und Albanien und die »positive Einstellung« Rumäniens, Jugoslawiens, der FKP und der IKP sowie anderer kommunistischer und Arbeiterparteien zu den Vorgängen in der ČSSR, dann wäre längst eine offene militärische Intervention durch die anderen sozialistischen Staaten erfolgt.

Neben den bereits angeführten unklaren bzw. feindlich-negativen Argumenten werden Zweifel an der »objektiven Berichterstattung« unserer Publikationsorgane geäußert und besonders die »allseitige Informationsfreiheit« in der ČSSR gelobt. (Diese Meinungen zielen u. a. auf die Veröffentlichung der »2000 Worte«9 und der Antwort des ZK der KSČ10 hin).

Ein Teil der negativ-feindlichen Kräfte, besonders unter der Intelligenz, ist bestrebt, Urlaubsreisen in die ČSSR zu unternehmen, um sich an Ort und Stelle von den »Vorzügen« zu überzeugen.

Verbreitet sind unter den Kreisen der Handwerker und Gewerbetreibenden Spekulationen im Zusammenhang mit den angeblichen Reprivatisierungsmaßnahmen in der ČSSR, die »auch in der DDR ermöglicht« werden sollten.

Verschiedene Komplementäre halbstaatlicher Betriebe sehen in der publizierten »Selbstständigkeit« der Betriebe in der ČSSR ein Beispiel für die Entwicklung der Eigenverantwortlichkeit der Betriebe in der DDR ohne zentrale staatliche Planung und Kennziffern in der Art »freier Marktwirtschaft«.

Obwohl zu den Ereignissen in der ČSSR in großem Umfange und unter allen Bevölkerungsschichten diskutiert wird, nimmt auch ein nicht zu unterschätzender Teil der Bürger eine noch abwartende Haltung zu den Ereignissen in der ČSSR ein und unterschätzt die Gefährlichkeit einer nichtsozialistischen Entwicklung in diesem Land.

Im Zusammenhang mit Gerüchten über »Einschränkungen bzw. Stilllegung des Reiseverkehrs« in der ČSSR halten sich im Bezirk Karl-Marx-Stadt auch Gerüchte über die Errichtung von Befestigungsanlagen entlang der Staatsgrenze ČSSRDDR.

Die Sperrung verschiedener Zufahrts- und Wanderwege in Bad Elster im Bereich bis 150 m von der tschechischen Grenze löste unter Einwohnern und Kurgästen Diskussionen über die »Errichtung eines Sperrgebietes« aus und führte zu ersten Beschwerden bei der VP des Kurortes.

Eltern aus dem Bezirk Potsdam und aus Berlin, deren Kinder im Rahmen des betrieblichen Austausches ihre Ferien in der ČSSR verbringen sollen, hegen Bedenken, ihre Kinder fahren zu lassen. Die Verantwortlichen der Betriebe sind verschiedentlich nicht in der Lage, eine klare Stellungnahme abzugeben.

Feindliche Handlungen auf dem Territorium der DDR im Zusammenhang mit den Ereignissen in der ČSSR sind Einzelerscheinungen.

Im Konsumentwarenhaus Potsdam wurden in den Morgenstunden des 19.7.1968 sechs Flugblätter gefunden, die mit einer Schreibmaschine beschrieben waren und in ihrem Inhalt aufforderten, der ČSSR nachzueifern und die Sowjetarmee nach Hause zu schicken.

Am 23.7.1968 wurden im Dienstabteil eines S-Bahnzuges auf dem Bahnhof Schönefeld drei mit einem Kinderdruckkasten hergestellte Flugblätter (4,5×12 cm) aufgefunden. (Inhalt: »Die Sowjetunion will in der ČSSR die Macht ausüben«.)

Die notwendigen Maßnahmen zur Ermittlung der Täter wurden vom MfS eingeleitet.

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    23. Juli 1968
    Einzelinformation Nr. 781/68 über Äußerungen von Redakteuren der »Práce« zur innenpolitischen Situation in der ČSSR

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    23. Juli 1968
    Einzelinformation Nr. 776/68 über verstärkte Versuche der Kirche, durch »moderne Formen« kirchlicher Jugendarbeit größeren Einfluss auf Jugendliche zu gewinnen