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Explosion im Instandsetzungskombinat Kohle in Regis (Leipzig)

10. April 1976
Information Nr. 264/76 über die Untersuchungsergebnisse im Zusammenhang mit der Explosion im VEB Instandsetzungskombinat »Kohle«, Zentralwerkstatt Regis, Kreis Borna, [Bezirk] Leipzig, am 10. Februar 1976

Am 10. Februar 1976, gegen 13.40 Uhr ereignete sich in der Zentralwerkstatt Regis des VEB Instandsetzungskombinates »Kohle«, Halle II – Hauptabteilung Schienenfahrzeuge, Bereich Elektromotorenreparatur – während des Schichtwechsels eine Explosion.

Von den in der Halle II anwesenden Werktätigen erlitten drei Werktätige tödliche, sieben schwere und fünf leichte Verletzungen. Zwei der sieben Schwerverletzten verstarben am 12. Februar 1976 bzw. am 14. Februar 1976 an den Folgen ihrer Verletzungen. Nach bisher vorliegenden Schätzungen beträgt der Sachschaden ca. 130 000 Mark.

Die von den Sicherheitsorganen in Zusammenarbeit mit Fachexperten eingeleiteten Untersuchungen zur Aufklärung der Ursachen dieser Explosion ergaben:

Bei einem normalen, arbeitsbedingten Abschaltvorgang eines Umformers entstand ein elektrischer Abrissfunken, der im Kabelkanal der Halle II anstehendes Azetylengas zündete. Durch die Zündung des Azetylengases wurden Abdeckplatten bzw. Teile von Abdeckplatten des Kabelkanals weggeschleudert. Diese verletzten sich in der Nähe aufhaltende Werktätige und beschädigten technische Einrichtungen.

Wie Experten feststellten, ist das Azetylengas aus drei durch Korrosionsschäden hervorgerufene Öffnungen ausgetreten. Die Öffnungen befanden sich in etwa 27 bis 33,5 cm Entfernung, im erdverlegten Teil der Azetylenleitung an der nördlichen Giebelwand außerhalb der Halle II. Das Azetylengas war durch das lose Erdreich am Mauerwerk entlang in den Kabelkanal diffundiert und breitete sich im Kabelkanal der Halle II aus.

In diesem Kabelkanal hatte sich nach Feststellungen der Experten ein explosibles Azetylengas-Luft-Gemisch (mehr als 2,3 Volumenprozent Azetylenanteile an der Luft) gebildet.

Im Rahmen der Untersuchungen wurde eine Reihe von Mängeln sowie Pflichtverletzungen verschiedener Betriebsangehöriger festgestellt, die das Entstehen der Explosion wesentlich begünstigt haben.

Am 10. Februar 1976 wurden in der Zeit von 7.45 Uhr bis 13.00 Uhr außerhalb der Halle II im Rahmen von Rekonstruktionsmaßnahmen Einbindearbeiten am Azetylennetz der Zentralwerkstatt (Abteilung Zuschnitt und Abteilung Stromabnehmerbau) Regis vorgenommen. Zu diesem Zweck wurde u. a. die Azetylenleitung am Nordgiebel der Halle II unterhalb eines dort vorhandenen Schiebers abgeflanscht. (Von dieser Stelle wird die Gasleitung durch das Fundament nach außen geführt, sie verläuft als Erdleitung weiter.)

Die Gasleitung, die im Normalfall unter einem Druck von 0,2 bis 0,3 at steht, wurde mit einem Druck von 3 bis 4 at mit Stickstoff gespült, um Gasreste zu beseitigen. Offensichtlich sind bei diesem Vorgang einige Schwachstellen der bereits starken Korrosionserscheinungen ausgesetzten Azetylenleitung undicht geworden.

Nach Beendigung der entsprechenden Arbeiten an der Gasleitung wurden lediglich in den Abteilungen Zuschnitt und Stromabnehmerbau Dichtheitsprüfungen vorgenommen, ohne dass jedoch die gültigen Vorschriften beachtet wurden. In der Arbeits- und Brandschutzanordnung Nr. 870 »Lagerung von Kalziumkarbid und Bau und Betrieb von Azetylenerzeugungsanlagen« vom 28. April 1959, Abschnitt Technische Grundsätze, heißt es u. a.: »Azetylenleitungen … , an denen Instandhaltungsarbeiten durchgeführt werden, [sind] vor der Inbetriebnahme einer Dichtheitsprüfung zu unterziehen. Sie gelten als dicht, wenn bei einem Überdruck von 3 kp/cm³, nach einer Wartezeit von zehn Minuten für den Temperaturausgleich der Prüfdruck während der anschließenden Prüfdauer von 30 Minuten nicht fällt.«

Wie hierzu festgestellt wurde, hat der für die Rekonstruktionsarbeiten verantwortliche Hauptschweißingenieur [Name] die Bedingungen der Dichtheitsprüfung nicht eingehalten. Im konkreten Fall wäre es erforderlich gewesen, die gesamte Azetylenleitung einschließlich der von der Halle II zu den Abteilungen Zuschnitt bzw. Stromabnehmerbau führenden Erdleitung vor der Freigabe in die Dichtheitsprüfung einzubeziehen und diese nicht nur, wie geschehen, auf die Abteilungen Zuschnitt bzw. Stromabnehmerbau zu begrenzen. Er begründet diese Unterlassung damit, dass die Rekonstruktionsarbeiten schnell abgeschlossen werden sollten und er der Meinung gewesen sei, vorhandene Undichtheiten geruchlich wahrnehmen zu können.

In der Zeit von 9.00 Uhr bis 11.40 Uhr hatte [der Hauptschweißingenieur] die Aufsicht über die Rekonstruktionsarbeiten dem Schweißingenieur der Zentralwerkstatt, [Name], übertragen. Während der Dichtheitsprüfung hatte dieser ebenfalls die vorgenannten Prüfbedingungen nicht beachtet. ([Der Schweißingenieur] beging am 18. Februar 1976 im Betrieb Selbstmord. Zuvor äußerte er seinem Vater gegenüber, dass er sich im Zusammenhang mit der erfolgten Explosion und deren Auswirkungen in moralischer Schuld fühle. Dieser Umstand ist vermutlich auch das Motiv der Selbsttötung.)

Im Zusammenhang mit den geführten Untersuchungen wurde weiter festgestellt, dass mehrere Werktätige der Halle II vor der Explosion wiederholt einen Gasgeruch wahrnahmen, der sich besonders ab 12.00 Uhr verstärkte. Darüber wurde der an diesem Tag in der Halle II als Hauptabteilungsleiter fungierende [Name] informiert. ([Der als Hauptabteilungsleiter Fungierende] ist Abteilungsleiter für E-Lok-Reparatur in der Halle II.) Der Genannte meldete dem Dispatcher der Zentralwerkstatt Regis den Gasgeruch, ohne jedoch eigene Maßnahmen zur Ursachenermittlung und Beseitigung der Gefahrenquelle einzuleiten. (Belüftung der Halle, Herstellung eines spannungslosen Zustandes aller elektrischen Anlagen, Evakuierung der Werktätigen, Ursachenermittlung und Beseitigung der Gefahrenquellen.) Der Dispatcher meldete daraufhin dem amtierenden Abteilungsleiter der Instandhaltung [Name] die in der Halle II anstehende Gasgefahr, welcher seinerseits den Meister [Name] beauftragte, die Ursachen des Gasgeruchs festzustellen und die erforderlichen Maßnahmen zur Beseitigung der Gefahrensituation einzuleiten.

[Der Meister] wandte sich, anstatt selbstständig zu handeln, mit der Bitte um Hilfe und Unterstützung an den in der Abteilung Zuschnitt mit Einbindearbeiten beschäftigten Brigadeleiter für Hebezeuge und Anlagen, [Name]. Nur [er] unternahm als einziger der informierten Kräfte konkrete Handlungen zur Aufspürung und Beseitigung der Gefahrenquelle. Er ging dabei von der Vermutung aus, dass die Stopfbuchse des Schiebers der Azetylenleitung am Nordgiebel der Halle II undicht sei und zog diese lediglich an. Ohne die erforderliche Prüfung vorzunehmen (ob offene oder geschlossene Stellung), pinselte er den Schieber mit Seifenlauge ab (Prüfverfahren) und stellte die »Dichtheit« an dieser Stelle der Azetylenleitung fest. [Der Meister] und der [erwähnte] Brigadeleiter [Name] meldeten anschließend dem Dispatcher die »Behebung« der Gefahrensituation.

Wie die Untersuchungen ergaben, wurde [der Meister] somit seiner Verantwortung nicht gerecht, da er bei verantwortungsbewusster Prüfung hätte feststellen müssen, dass der Schieber nicht als Ausgangspunkt für die in der Halle II auftretenden Gasgerüche infrage kam. Er wäre verpflichtet gewesen, die Suche nach der tatsächlichen Ursache des Gasausbruches fortzusetzen.

In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass bereits ab 12.30 Uhr vorgenannter Schieber geöffnet worden war und demzufolge Azetylen über das Netz auch durch die Erdleitung zu den Abteilungen Zuschnitt bzw. Stromabnehmerbau strömte. Der [genannte] Hauptschweißingenieur [Name] hatte 12.55 Uhr nach Abschluss aller Rekonstruktionsarbeiten das gesamte Netz der Azetylenleitung der Halle II zum Betrieb freigegeben. Die Wahrnehmung von Gasgeruch in der Halle vor diesem Zeitpunkt deutet jedoch darauf hin, dass bereits vor der Inbetriebnahme der Erdleitung Azetylen im Kabelkanal der Halle II sich ansammelte, ohne die untere Explosionsgrenze erreicht zu haben. Diesem Umstand haben offensichtlich alle Beteiligten zu wenig Beachtung geschenkt.

Die Fachexperten konnten im Verlauf der Untersuchungen den Zeitpunkt des Durchbruchs der Schwachstellen in der Erdleitung nicht eindeutig bestimmen, sodass auch bereits an vorhergehenden Tagen – also auch vor dem Trennen der Erdleitung von der Azetylenringleitung – Gas in geringen Mengen ausgetreten und in den Kabelkanal der Halle II gelangt sein kann, ohne jedoch wahrgenommen zu werden. Andererseits reichte nach Berechnungen der Experten die Zeit zwischen der Wiederinbetriebnahme der Azetylenleitung und der Explosion aus, im Kabelkanal der Halle II ein explosibles Gemisch zu erzeugen.

Die Staatsanwaltschaft leitete zwischenzeitlich ein Ermittlungsverfahren gemäß § 193 StGB – Verletzung der Bestimmungen des Gesundheits- und Arbeitsschutzes – ohne Haft gegen die Beteiligten Hauptschweißingenieur [Name], Meister der Instandhaltung [Name] und gegen den am 10. Februar 1976 als Hauptabteilungsleiter Schienenfahrzeuge fungierenden [Name] ein.

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