Direkt zum Seiteninhalt springen

Lage in Polen angesichts der Änderung der Preisstruktur

27. Juni 1976
Zur Lage und Entwicklung in der VR Polen im Zusammenhang mit dem polnischen Regierungsprojekt über die Änderung der Preisstruktur [Bericht O/26e]

Das polnische Regierungsprojekt zur Änderung der Preisstruktur hat unmittelbar nach seiner öffentlichen Verkündung unter großen Teilen der polnischen Bevölkerung Beunruhigung und Unzufriedenheit ausgelöst. Nach vorliegenden Hinweisen, Stimmungsberichten usw. waren zahlreiche polnische Bürger mit den angekündigten Maßnahmen nicht einverstanden und nahmen eine ablehnende Haltung dazu ein.

Vor den Lebensmittelgeschäften Warschaus und anderer Städte bildeten sich im Verlaufe des 25. Juni 1976 zum Teil große Käuferschlangen. Es wurden überwiegend Angst- und Hamstereinkäufe besonders der Waren getätigt, die ursprünglich von den Preissteigerungen betroffen werden sollten.

Die Belegschaft des im Vorortbereich von Warschau gelegenen Traktorenwerkes »Ursus«1 streikte und blockierte am 25. Juni 1976 aus Protest gegen die vorgesehene Änderung der Preisstruktur den Zugverkehr nach Warschau. Arbeiter des Werkes hielten mehrere Schnell- und Vorortzüge an, u. a. den Expresszug Paris – Warschau. Vor diesem Zug wurden die Schienen entfernt und hinter dem Zug Schwellen und Schienen über die Gleise gelegt. Außerdem wurden zahlreiche Traktoren auf die Gleisanlagen gefahren.

Der D 245 wurde ca. 6 km vor Warschau in Höhe des Traktorenwerkes gestoppt. Danach drangen ca. 30 vorwiegend jugendliche Personen in den Speisewagen ein, nachdem sie den Wagen mit Steinen und Flaschen beworfen und zwei Scheiben zerschlagen hatten. Mit Gewalt und unter Drohungen verlangten diese Personen alkoholische Getränke, die sie nicht bzw. nicht zum realen Preis bezahlten. Im Tumult beschimpften sie das Mitropa-Personal mit »Deutsche Schweine«, »Breschnew-Schweine« und »Gierek-Schweine«. Einem Mitropa-Angehörigen wurde die Reisetasche mit allen Ausweispapieren, Wertgegenständen u. a. gestohlen. Die vom Mitropa-Personal erbetene Hilfe wurde vom polnischen Zugpersonal mit der Begründung abgelehnt, dass in Warschau wegen Preiserhöhungen gestreikt werde. Die Eindringlinge hielten sich ca. 1 ½ Stunden im Wagen auf. Erst nach Eintreffen von einigen Angehörigen der Miliz fuhr der Zug im Schritttempo bis Warschau. Auf dem polnischen Grenzbahnhof zur SU, Terespol, informierte das Mitropa-Personal die polnischen Pass- und Zollorgane über die Vorkommnisse. Die Pass- und Zollangehörigen erklärten sich als nicht zuständig und äußerten, dass die Organe der DDR den Diebstahl klären mögen, der Tumult wäre »in Ordnung«. Die Rückfahrt am 26. Juni 1976 verlief ohne Vorkommnisse.

Die polnische Miliz habe sich nach offiziellen westlichen Pressemeldungen sehr zurückhaltend gezeigt. Sie hätte mit Polizeiwagen eine Polizeisperre errichtet und in der Ortschaft Ursus Wasserwerfer stationiert, aber nicht eingegriffen.

Weitere, auch politisch-operative Hinweise bestätigten die allgemeine Zurückhaltung der polnischen Miliz. So wurden die Kräfte der Miliz der Wojewodschaft Zielona Gora am 25. Juni 1976 um 20.30 Uhr angewiesen, ihren Dienst normal zu versehen und auf eventuelle Vorkommnisse rücksichtsvoll zu reagieren. Schwerpunkt der weiteren Tätigkeit der Miliz ist die Sammlung von Informationen über Meinungen und Stimmungen zur Erklärung des Gen[ossen] Jaroszewicz.

Eine Information der Wirtschaftspolitischen Abteilung der DDR-Botschaft in Warschau (WPA), nach der die blockierte Eisenbahnstrecke bei Ursus durch Einsatz von Militär und Polizei gewaltsam geräumt werden musste, konnte bisher nicht bestätigt werden.

Aufgrund der Vorfälle in Ursus kam es auch im grenzüberschreitenden Zugverkehr zu zum Teil großen Verspätungen. Folgende Züge des internationalen Verkehrs waren besonders davon betroffen:

  • D 245 Köln – Brest

  • D 450 Warschau – Paris

  • D 486 Warschau – Leipzig

  • D 1394 Warschau – Berlin

  • D 394 Warschau – Berlin-Ostbahnhof.

Diese Züge hatten Verspätungen von 8 bis 17 Stunden. Der gesamte Zugverkehr verläuft seit dem 26. Juni 1976 wieder normal.

Der übrige grenzüberschreitende Verkehr, einschließlich Güterverkehr, verlief im Wesentlichen normal. Im zivilen Flugverkehr VR Polen – DDR gab es nach vorliegenden Informationen keine Beeinträchtigungen bzw. Komplikationen.

Mit Ausnahme der Vorfälle in Ursus wurden bisher keine weiteren gewaltsamen Zwischenfälle bekannt. Nach der bereits genannten Information der WPA der Botschaft der DDR sei es auch in anderen Großbetrieben, besonders in Warschau, Lodz, Katowice, Gdansk, Szczecin und Poznan, zu Arbeitsniederlegungen gekommen. Weitere Einzelheiten wurden dazu bisher nicht bekannt. Westlichen Pressemeldungen zufolge habe es in vielen Orten Protestdemonstrationen und Streiks gegeben. In Warschau seien Truppen zusammengezogen worden.

Nach übereinstimmenden Meldungen und Informationen hat sich die Lage in der VR Polen am 26. Juni 1976 weitgehend beruhigt. Die Arbeiter in den Betrieben sollen – nach dem Bericht eines ADN-Korrespondenten in Warschau – am 26. Juni 1976 normal zur Arbeit gegangen sein, auch in Ursus. Die Geschäfte in Warschau öffneten am 26. Juni 1976 zur üblichen Zeit und boten ein volles Warenangebot. Zum Teil war das Angebot reichhaltiger als in den vorausgegangenen Tagen.

  1. Zum nächsten Dokument Kirchentag der Evangelischen Landeskirche Mecklenburg in Rostock

    28. Juni 1976
    Information Nr. 465/76 über den Landeskirchentag der Evangelischen Landeskirche Mecklenburg (Schwerin) vom 11. bis 13. Juni 1976 in Rostock

  2. Zum vorherigen Dokument Statistik Einnahmen Mindestumtausch 14.6.–20.6.1976

    23. Juni 1976
    Information Nr. 463/76 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 14. Juni 1976 bis 20. Juni 1976