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Lesung des Schriftstellers Klaus Schlesinger in der ESG Berlin (3)

14. Oktober 1977
Information Nr. 633/77 über eine von der Evangelischen Studentengemeinde (ESG) Berlin für den 6.10.1977 vorgesehene Veranstaltung mit dem Schriftsteller Klaus Schlesinger

Dem MfS wurde bekannt, dass die Evangelische Studentengemeinde Berlin für den 6.10.1977, 19.30 Uhr, eine Veranstaltung in den kircheneigenen Räumen der Elias-Gemeinde, Berlin-Mitte, Invalidenstraße 4, geplant hatte, in der Schriftsteller Klaus Schlesinger mit einer Lesung aus seinem in der DDR zur Veröffentlichung abgelehnten Buch »Berliner Traum«1 öffentlich auftreten sollte.

Da es sich aufgrund des Auftretens Schlesingers in dieser ESG-Veranstaltung nicht mehr um eine von der Anmelde- und Genehmigungspflicht ausgenommene Veranstaltung in kirchlich genutzten Räumen gehandelt hätte, eine Anmeldung auch nicht erfolgt war, wurde diese Veranstaltung gemäß der »Verordnung über die Durchführung von Veranstaltungen« vom 26.11.1970 (GBl. II 1971, Nr. 10, S. 69)2 untersagt und durch entsprechende Maßnahmen verhindert.

Im Zusammenhang mit der von der ESG vorgesehenen Veranstaltung ist Folgendes von Bedeutung:

Der Studentenpfarrer Schreiber, Hans Peter, hatte mit dem Schriftsteller Schlesinger einen Vertrag abgeschlossen, eine Lesung aus dem in der DDR zur Veröffentlichung abgelehnten Buch »Berliner Traum« am 6.10.1977 vor der ESG durchzuführen.

Ursprünglich war im Rahmen der ESG-Veranstaltung am 6.10.1977 ein Vortrag eines gewissen Milbradt zum Thema »Einflüsse indischer Frömmigkeit auf das abendländische Denken« vorgesehen gewesen. Aufgrund einer kurzfristig erfolgten Absage des Milbradt hatte sich Schlesinger auf Initiative des Studentenpfarrers der ESG, Schreiber, zu dieser Buchlesung bereit erklärt.

Pfarrer Schreiber gab in einer Veranstaltung der ESG am 29.9.1977 das Auftreten Schlesingers bekannt. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass er für den 12.1.1978 den Schriftsteller Gerhard Wolf zum Thema »Hölderlin« und für den 26.1.1978 den Schriftsteller Franz Fühmann zum Thema »Von der Wahrheit des Mythos« gewonnen hätte. Das Auftreten Schlesingers in der Veranstaltung der ESG wurde außerdem durch Veränderung der ursprünglich ausgehängten Plakate (Marienkirche, Dorotheenstädtischer Friedhof, Elias-Gemeinde) bekannt gegeben.

Am 6.10.1977, gegen 18.50 Uhr, wurde Studentenpfarrer Schreiber in den Räumen des Magistrats von Berlin durch den Leiter des Referates für Kirchenfragen unterrichtet, dass die Lesung Schlesingers nicht erfolgen kann, da die Veranstaltung nicht polizeilich angemeldet und genehmigt sei und es als Verstoß gegen die »Verordnung über die Durchführung von Veranstaltungen« gewertet werden müsse, wenn sie stattfinde.

Schreiber gab vor, während der ESG-Veranstaltung ein Gespräch »über die Beziehungen zu Gott« durchführen zu wollen; er habe keine Lesung, sondern nur eine nicht anmelde- und genehmigungspflichtige Aussprache mit Schlesinger vorgesehen. Er erklärte sich nicht bereit, Schlesinger von der Nichtgenehmigung der Lesung zu verständigen und verwies darauf, in einem solchen Falle müsse er sich erst mit der ESG beraten.

Schreiber informierte jedoch nicht zu Beginn der Veranstaltung die ca. 80 anwesenden Mitglieder der ESG, sondern erwartete mit mehreren »Vertrauensstudenten« vor dem Gebäude Schlesinger. Der Verlauf der ESG-Veranstaltung zeigte deutlich, dass entgegen der Behauptung Schreibers, die Veranstaltung diene lediglich einem Gespräch »über die Beziehungen zu Gott«, als einziger Tagesordnungspunkt die Schriftstellerlesung durchgeführt werden sollte.

Nach dem vorgesehenen Zeitpunkt des Beginns der Veranstaltung wurde zunächst das übliche Abendbrot gereicht, um die Zeit zu überbrücken. Gegen 20.00 Uhr erklärte Pfarrer Schreiber den Anwesenden: »Es hat einige Komplikationen gegeben, deshalb müssen wir etwas später anfangen. Unser Gast wird erwartet, wird auch kommen, aber hat häusliche Pflichten und kommt etwas später.« Er schlug dann vor, die Wartezeit mit dem Absingen religiöser Lieder zu überbrücken.

Schlesinger fuhr ca. eine Stunde nach dem ursprünglich angegebenen Veranstaltungsbeginn mit einem Taxi vor, wurde jedoch von eingesetzten Sicherungskräften gehindert, dass Gebäude zu betreten. Pfarrer Schreiber, der sich mit fünf »Vertrauensstudenten« vor dem Gebäude befand und dem Gespräch gefolgt war, mischte sich daraufhin ein und betonte nochmals, es sei lediglich mit Schlesinger ein Gespräch »über die Beziehungen zu Gott« geplant und forderte, Schlesinger selbst solle den Versammelten mitteilen, dass die Veranstaltung polizeilich verboten worden sei.

Nach Abweisung des Schlesinger durch die Sicherungskräfte begab sich Schreiber in den Veranstaltungsraum und erklärte den Anwesenden: »Ich habe eine Mitteilung zu machen. Soeben haben Beamte der Volkspolizei Herrn Schlesinger aufgefordert, nicht hier hereinzukommen und abzusagen mit der Begründung, es sei nicht genehmigt … Was wir vor hatten war ein Gemeindeabend, wo wir ins Gespräch kommen wollten mit Zeitgenossen, die die Gabe haben, unsere Wirklichkeit hier zu vergegenwärtigen und die Perspektiven zu dieser Wirklichkeit zu formulieren …«

Die Mitteilung Schreibers wurde z. T. missmutig aufgenommen. Nach Aufforderung Schreibers, diejenigen, die nur wegen der Lesung Schlesingers gekommen seien, könnten den Raum verlassen, verließen ca. 50 % der Anwesenden das Gebäude. Nach einer Pause wurde von den verbliebenen Anwesenden gemeinsam mit Pfarrer Schreiber über den Sinn des Lebens diskutiert, ohne nochmals auf die abgesagte Lesung des Schlesinger zurückzukommen.

Ausgehend von den vorgenannten Aktivitäten des Studentenpfarrers Schreiber wird vorgeschlagen, Bischof Schönherr durch den Staatssekretär für Kirchenfragen, Genossen Seigewasser, in einem Gespräch darüber zu unterrichten, dass dieser Missbrauch klerikaler Einrichtungen und die dabei von kirchlichen Amtsträgern gewährte Unterstützung geeignet ist, die Beziehungen zwischen Staat und Kirche zu belasten.

Bischof Schönherr sollte aufgefordert werden, dafür Sorge zu tragen, dass derartige rechtswidrige Initiativen seitens kirchlicher Amtsträger unter Ignorierung der »Verordnung über die Durchführung von Veranstaltungen« vom 26.11.1970 zukünftig unterbleiben sollten.

Analog sollte mit dem unmittelbaren Vorgesetzten des Studentenpfarrers Schreiber, Generalsuperintendent Grünbaum, ein Gespräch seitens des Verantwortlichen des Magistrats der Hauptstadt der DDR, Berlin, geführt werden.

Die Information ist nicht für eine öffentliche Auswertung geeignet.

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