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Bevölkerungsreaktionen zur Lage in der VR Polen (3)

17. Dezember 1981
2. Bericht zur Reaktion der Bevölkerung der DDR auf die Vorgänge in der Volksrepublik Polen [Bericht O/101c]

Die Ereignisse in der VR Polen haben unter allen Bevölkerungsgruppen der DDR ein außerordentlich großes Interesse ausgelöst.1

Aus allen Bezirken liegen Hinweise vor, dass die Entwicklung mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wird und über die bekannt werdenden Informationen individuell und in den Arbeitskollektiven ein reger Meinungsaustausch erfolgt.

Genugtuung besteht über die Ausführlichkeit in der Berichterstattung der Kommunikationsmittel der DDR. Mehrfach wurde betont, die Informationstätigkeit der DDR zur Situation in der VR Polen befände sich im Gegensatz zur Berichterstattung der Westmedien in der Offensive und würde selbst das Fernsehen der BRD veranlassen, auf Meldungen der DDR zurückzugreifen.

Der Grundtenor der in allen Bevölkerungsgruppen überwiegend zustimmenden Äußerungen zum jetzigen Verlauf der Ereignisse in der VR Polen lässt sich im Wesentlichen in folgenden Aussagen zusammenfassen:

  • vielfache Übereinstimmung in der Meinung, die vom Militärrat für die nationale Rettung der VR Polen eingeleiteten Maßnahmen seien gerechtfertigt; sie würden die Gewehr dafür bieten, die Konterrevolution zu zerschlagen und die sozialistische Ordnung zu festigen;

  • die Verhängung des Ausnahmezustandes sei die einzige Alternative gewesen, der konterrevolutionären Entwicklung Einhalt zu gebieten; mit »weicheren Methoden«, z. B. mittels Verhandlungen sei die konterrevolutionäre Entwicklung nicht mehr zu stoppen gewesen;

  • die erst jetzt eingeleiteten Maßnahmen seien schon längst fällig und das lange Zögern wäre für viele unverständlich gewesen; dadurch habe sich die Lage weiter kompliziert;

  • endlich habe sich die PVAP ihrer Verantwortung besonnen und aus der Situation die richtigen Schlussfolgerungen gezogen.

Weiterhin liegt die Betonung darauf, der Zeitpunkt der Einleitung der Maßnahmen sei als günstig anzusehen, da in Europa eine »gewisse Entspannung« eingetreten sei und der Ausnahmezustand zu Beginn eines Wochenendes eingeleitet worden wäre, an dem sich der größte Teil der Arbeiter sowieso nicht in den Betrieben befand.

In großem Umfang besteht Zustimmung, dass die eingeleiteten Maßnahmen in der VR Polen aus eigener Kraft realisiert werden und keine militärische Hilfeleistung der sozialistischen Nachbarländer, insbesondere der Sowjetunion, erfolgt. Es wird die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass der Militärrat in der VR Polen die Maßnahmen auch konsequent weiterführt, da – so wird häufig betont – eine militärische Hilfe von außen die gegenwärtigen Anstrengungen zur Fortsetzung der Politik der Entspannung in Europa zunichte machen und die internationalen Spannungen weiter verschärfen könnte.

Große Achtung wird der strikten Geheimhaltung der Vorbereitung der Maßnahmen entgegengebracht, die gewährleistet habe, dass die Konterrevolutionäre völlig überrascht worden seien.

Teilweise wird, darunter auch von Mitgliedern der SED, betont, Jaruzelski2 sei eine solch konsequente Haltung, wie sie jetzt sichtbar werde, nicht zugetraut worden. Es habe sich im Gegenteil in den vergangenen Monaten Enttäuschung darüber gezeigt, dass die von ihm schon länger erhofften offensiven Maßnahmen nicht eingeleitet worden seien.

In weiteren Diskussionen wird hervorgehoben, bei den Maßnahmen handele es sich um eine »taktische Meisterleistung«, mit der möglicherweise ein Bürgerkrieg und ein »Blutbad« verhindert werden.

In vielen Diskussionen wird die konterrevolutionäre Grundposition der Führungskräfte von »Solidarność« betont, die das Land zum Ruin geführt und in absehbarer Zeit die völlige Macht übernommen hätten.

Mehrfach wird von einem »Abenteurertum« von Wałęsa3 und seinen »Beratern« gesprochen. In allen Bevölkerungsgruppen sind in diesem Zusammenhang Bedenken zu erkennen, ob die Maßnahmen des Militärrates »noch zur rechten Zeit« gekommen seien, da der Anhang von »Solidarność« bereits einen solchen Einfluss erlangt habe, dass es schwer werde, in Kürze einen politischen Umschwung in der Haltung der Mehrheit der Bevölkerung der VR Polen zu erreichen.

In den Meinungsäußerungen besteht Übereinstimmung, dass die Zeitspanne bis zur völligen Wiederherstellung von Ruhe, Ordnung und Arbeitsdisziplin und damit der Rückkehr zum normalen Funktionieren aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, insbesondere in der Volkswirtschaft, lang sein werde.

In diesem Zusammenhang wurde von Arbeitskollektiven und Einzelpersonen mehrfach Bereitschaft geäußert, unter den gegenwärtigen Bedingungen die Solidarität mit dem polnischen Volk wieder zu verstärken, da diese Mittel jetzt »in die richtigen Hände« gelangen könnten.

Andererseits wurden in geringerem Umfang Ansichten geäußert, Solidarität in Form von materiellen Gütern für die VR Polen sei derzeitig noch abzulehnen; damit würden moralisch die Kräfte unterstützt, die für die Weiterführung von Streiks und Widerstandshandlungen gegen die eingeleiteten Maßnahmen eintreten. Es wäre richtiger, das polnische Volk zunächst eigenverantwortlich für seine lebenswichtigen Versorgungsgüter sorgen zu lassen, um die Position zu stärken, dass man nur von dem leben könne, was man selbst erarbeite. (In diesem Zusammenhang wurden vielfach Äußerungen bekannt, wonach ein Teil der polnischen Arbeiter nicht aus politischen Gründen, sondern aus Unlust an der Arbeit gestreikt habe und nur durch strenge Maßnahmen diszipliniert werden könne.)

Ein Teil der Bürger – u. a. Beschäftigte des Handels und Arbeiter verschiedener Betriebe – verspricht sich von der Normalisierung der Lage in der VR Polen positive Auswirkungen auf die Versorgungs- und Rohstofflage in der DDR. (Wiederaufnahme der Lieferungen, z. B. durch »HORTEX«4, volle Lieferung bereits früher vereinbarter Importe von Steinkohle u. a.)5

Mehrfach wird die Meinung zum Ausdruck gebracht, dass in absehbarer Zeit Wege in der polnischen Landwirtschaftspolitik eingeleitet werden müssten, die in Zukunft eine bessere Versorgung der polnischen Bürger garantierten und die VR Polen von Solidaritätsgütern in Form von landwirtschaftlichen Produkten weitgehend unabhängig mache.

In allen Bevölkerungsgruppen sind eine Reihe abwartender Haltungen bekannt geworden.

Sie beziehen sich vor allem darauf, die Vorgänge müssten in nächster Zeit genau verfolgt werden, um einordnen zu können, ob die eingeleiteten Maßnahmen auch zum Erfolg führen. Es müsse davon ausgegangen werden, dass sich weitere »Solidarność«-Leute formieren und zum »Gegenschlag« ansetzen könnten. Falls dies eintrete, werde sich erweisen, auf welcher Seite die Mehrheit der Bevölkerung stehe und wie sie reagieren werde.

In diesem Zusammenhang werden Meldungen westlicher Agenturen verbreitet, wonach es in zahlreichen Orten der VR Polen zu aktiven Widerstandshandlungen gegen den Ausnahmezustand gekommen sei.

Eine abwartende Haltung wird von vielen Bürgern auch dahingehend eingenommen, welche Haltung die katholische Kirche in Polen zur weiteren Lage einnehmen könnte. Die Tatsache, dass der Tätigkeit der Kirche keinerlei Beschränkungen auferlegt würden, könne dazu beitragen, dass sie sich zum Zufluchtsort reaktionärer Kräfte und somit zum Herd konterrevolutionärer Untergrundarbeit entwickelt.6

Fragen und Unklarheiten, die bis zur Besorgnis reichen, sind mehrfach Inhalt von Meinungsäußerungen. Sie beziehen sich u. a. darauf,

  • inwieweit die polnische Armee in ihrer Gesamtheit tatsächlich hinter den eingeleiteten Maßnahmen stehe,

  • ob die in der Armee befindlichen »Solidarność«-Anhänger isoliert oder »bekehrt« worden wären,

  • ob in der Armee »Meutereien« oder »stiller Widerstand« aufgetreten seien und welche Maßnahmen die Armeeführung dazu getroffen habe.

Gleichzeitig werden Fragen gestellt nach

  • der Härte angewandter Strafmaßnahmen,

  • konkreten Schritten gegen Streikbeteiligung und Ungehorsamkeit,

  • möglichen Auswirkungen auf Disziplinlosigkeiten von Arbeitern in solchen Betrieben, die unter Militärkontrolle gestellt wurden.

In allen Bezirken werden Fragen nach den Ursachen der Internierung ehemaliger leitender Partei- und Staatsfunktionäre der VR Polen gestellt.7 Teilweise wird vermutet, dies sei lediglich eine Vorsichtsmaßnahme oder eine Frage der Taktik; in einigen Meinungen wird die Vermutung geäußert, dass diese Funktionäre gegen die jetzige Regierung konspiriert hätten.

Weitere Äußerungen beinhalten die Meinung, mit diesen Internierungen würden die ehemaligen Funktionäre auf eine Stufe mit den Konterrevolutionären gestellt.

Fragen gibt es weiter »zum Verbleib« von Wałęsa. Es wird vermutet, dass Wałęsa ebenfalls interniert sei, dies aber aus taktischen Erwägungen heraus gegenüber der Bevölkerung verschwiegen werde.8

Dabei wird diese »Methode« mehrfach als richtig und der polnischen Bevölkerung gegenüber als »diplomatisch« bewertet, da man dadurch keinen Anlass für Aktionen zugunsten Wałęsas gebe. Gleichzeitig gibt es Fragen dahingehend, ob und wie sich Wałęsa in absehbarer Zeit öffentlich äußern werde.

Angehörige der Organe der Landesverteidigung der DDR begrüßen fast ausnahmslos und uneingeschränkt die Maßnahmen des polnischen Militärrates.

Es wird die Erwartung ausgesprochen, dass die eingeleiteten Maßnahmen dazu angetan seien, zielgerichtet gegen die Feinde des Sozialismus vorzugehen. Sorge wird geäußert über das mögliche Verhalten der konterrevolutionären Kräfte, insbesondere nach Überwindung des Überraschungsmomentes. Es wird damit gerechnet, dass erneut konterrevolutionäre und andere Aktionen inszeniert werden.

Verständnis finden auch die eingeleiteten Maßnahmen zur verstärkten Sicherung der Staatsgrenze der DDR bei den Angehörigen der Grenztruppen der DDR.9

Spekulationen und Gerüchte gibt es dahingehend,

  • es sei mit einer Einschränkung des Festtagsurlaubs zu rechnen (besonders auch bei Familienangehörigen);

  • die Einberufung von Reservisten zur NVA solle aktiviert und die Entlassungstermine für Reservisten verlegt werden.

Jugendliche kalkulieren eine vorzeitige Einberufung ein.10

In dem Kreis der in Operativen Vorgängen bearbeiteten und unter OPK stehenden Personen dominieren – bisherigen Hinweisen zufolge – vorwiegend abwartende Haltungen. Ein Teil dieses Personenkreises äußert sich nicht. Andere vertreten im Kreise Gleichgesinnter die Meinung, es müsse Besonnenheit gewahrt werden und es wäre besser, die Ereignisse zunächst genau zu verfolgen.

In Einzelfällen werden von ihnen die Maßnahmen abgelehnt unter dem Gesichtspunkt, sie seien ein Eingriff in die durch die polnische Verfassung gewährten Menschenrechte, und den polnischen Bürgern dürfe keine »Militärdiktatur« aufgezwungen werden. Sie äußern sich dahingehend, Machtbefugnisse eines Militärrates seien in einem sozialistischen Staat abzulehnen und wären nicht in Übereinstimmung zu bringen mit der Theorie des Marxismus-Leninismus; so sehe die »wahre Demokratie« in einem sozialistischen Staat aus.11

  1. Zum nächsten Dokument Zum Verlauf der Berliner Begegnung zur Friedensförderung (3)

    21. Dezember 1981
    Information Nr. 662/81 über Aktivitäten von Havemann zur Popularisierung eines sogenannten Berliner Appells als »eigenständigen Beitrag« zur Friedensbewegung

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    16. Dezember 1981
    Information Nr. 653/81 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 7. Dezember 1981 bis 13. Dezember 1981