Direkt zum Seiteninhalt springen

Einleitung 1988

Einleitung 1988
Frank Joestel

Zur Jahreswende 1987/1988 hatte sich in der DDR eine beachtliche innenpolitische Unruhe entwickelt. Die SED-Führung hatte es mit einer zunehmend schwieriger werdenden politischen Konstellation zu tun, in der mehrere Komponenten eine Rolle spielten: Zunächst musste sie sich mit der politischen Öffnung in einigen verbündeten Staaten Osteuropas, nicht zuletzt in der Sowjetunion selbst, und deren Rückwirkung auf die eigene Bevölkerung auseinandersetzen. Hinzu kam die erhebliche, vor allem ökonomische Abhängigkeit von der Bundesrepublik, die den innenpolitischen Spielraum begrenzte und sie zu immer weiteren Zugeständnissen in Menschenrechtsfragen zwang. Schließlich waren da die vielfältigen inneren Schwierigkeiten, angefangen bei der Wirtschaft, die fast nur von der Substanz lebte, das Aufbegehren systemkritischer Kräfte inner- und außerhalb der evangelischen Kirche sowie das nicht mehr einzudämmende Problem der Ausreisewilligen. Selbst unter den Genossen der Staatspartei wuchs die Unzufriedenheit, sofern sie sich nicht in Resignation geflüchtet hatten.1

Im Vorfeld des Besuchs von Erich Honecker in der Bundesrepublik im September 1987 hatte die DDR-Führung auch innenpolitisch besonders vorsichtig agiert, um dieses Vorhaben nicht zu gefährden. Danach sah sie sich offenbar allzu sehr in der Defensive, denn in den letzten Monaten des Jahres versuchte sie, einen deutlich härteren Kurs zu fahren: Sie erteilte Glasnost und Perestroika à la Gorbatschow eine Absage, rückte schrittweise vom SPDSED-Papier ab und verschärfte ihre Positionen in den Gesprächen mit den Kirchen sowie bei der Bekämpfung der Opposition, was sich beim Vorgehen gegen die Berliner Umweltbibliothek wie auch gegenüber den Ausreiseaktivisten zeigte. Diese härtere Gangart wurde politisch auf dem Dezember-Plenum der SED und mit der Rede des Generalsekretärs vor den Kreissekretären seiner Partei Anfang 1988 besiegelt.

In dieser Phase starker gesellschaftlicher Spannungen und erhöhten politischen Handlungswillens spielte die Einschätzung der inneren Lage eine besondere Rolle. Diese wurde in unterschiedlichen, ressortspezifischen Ausformungen von den unterschiedlichsten Institutionen und Organisationen vorgenommen: den verschiedenen Fachministerien, wirtschaftsleitenden Organen, Massenorganisationen und nicht zuletzt von der Partei selbst. Das MfS war somit keineswegs die einzige Einrichtung, die Lageberichte verfasste, aber aufgrund seiner Rolle als verdeckt arbeitendes Kontrollorgan war seine Berichterstattung besonders aussagekräftig im Hinblick auf den Gesamtzustand DDR und (zumindest potenziell) von besonderer Bedeutung für die Entscheidungen der politischen Führung.

Die Berichte zeigen, wie die DDR-Geheimpolizei Parteiführung und Regierung über Gefahren für die innere Sicherheitslage und destabilisierende Erscheinungen in der Gesellschaft schriftlich in Kenntnis setzte. Was darüber hinaus mündlich durch Erich Mielke in den wöchentlichen Sitzungen des Politbüros oder den Vier-Augen-Gesprächen mit Honecker übermittelt wurde, liegt weitgehend im Dunkeln. Das Gleiche gilt für die Kommunikation über die abhörsicheren WTsch-Telefonkanäle zwischen den fachlich zuständigen Stellen in den zentralen Apparaten von SED, Regierung und MfS, die sich nur sehr selten in schriftlichen Quellen niedergeschlagen hat.

In die Edition wurden 279 Inlandsberichte aufgenommen, die nachweislich an Adressaten im SED- oder Staatsapparat weitergeleitet wurden oder dafür vorgesehen waren. Die Kommentierung in Einleitung, Dokumentenapparaten und Fußnoten thematisiert in besonderem Maße quellenkundliche und quellenkritische Aspekte. Damit soll eine Hilfestellung für die Einordnung dieser Berichterstattung im Verhältnis von MfS und politischer Führung geboten werden.2

1. Der Informationsauftrag

Der Leiter der Zentralen Auswertungs – und Informationsgruppe (ZAIG), Generalleutnant Werner Irmler, befahl für den 3. Dezember 1987 die Leiter der ihm fachlich unterstellten Auswertungs- und Kontrollgruppen (AKG) der Bezirksverwaltungen sowie der Haupt- und selbstständigen Abteilungen der Zentrale, insgesamt etwa 40 Genossen, nach Berlin-Lichtenberg zu einer Tagung, auf der die Planorientierung für 1988 besprochen werden sollte. Irmler, der als ein besonderer Vertrauter Mielkes galt, setzte damit eine seit Anfang der achtziger Jahre bestehende Tradition fort, zum Jahresende mit den Verantwortlichen der sogenannten »Funktionalorgane« Bilanz zu ziehen und sie mit den Aufgaben für das neue Jahr vertraut zu machen. Seine umfangreiche Rede berührte alle Aspekte des Arbeitsbereichs: interne und externe Information, Anleitung und Kontrolle der operativen Diensteinheiten, Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen, Einsatz der Datenverarbeitung sowie Öffentlichkeits- und Traditionsarbeit.3 Hier sind lediglich seine Ausführungen zum Informationswesen von Interesse.

Wie üblich leitete er die aktuellen Anforderungen aus den Vorgaben des Ministers und der Parteiführung ab.4 Irmler bezog sich, was Organisation und Schwerpunkte des internen Informationswesens betraf, auf eine Reihe von innerdienstlichen Anweisungen, in denen genau festgelegt war, welche Fakten in welcher Form an welche Adressaten zu melden waren. Zum System der externen Berichterstattung an die Partei- und Staatsfunktionäre machte er keine Angaben. Das ist umso bemerkenswerter, als es eine entsprechende Melde- oder Berichtsordnung zu dieser Zeit nicht gab. Der einschlägige Befehl 584/60 zur Informationsarbeit von Dezember 1960 war im Dezember 1980 eingezogen worden, ohne dass eine Nachfolgebestimmung herausgegeben worden wäre.5 Die zentralen Planvorgaben bezüglich der externen Informationstätigkeit haben so weniger den Charakter von administrativen als von politischen Wegweisungen, die die jeweiligen Leiter mit konkreten Inhalten zu füllen hatten. Sie dürften letztlich vom Leiter des Bereichs 1 (Auswertung und Information) der ZAIG, Oberst Rudi Taube, zusammengestellt worden sein.

Obwohl Irmler von den »teilweise neuen und außerordentlich komplizierten Aufgaben […] aufgrund der veränderten äußeren und inneren Lage«6 sprach, waren die allgemeinen Vorgaben für das MfS-Informationswesen – trotz einzelner Akzentverschiebungen entsprechend der jeweiligen aktuellen Situation – seit Mitte der siebziger Jahre in den inhaltlichen Schwerpunkten im Wesentlichen gleich geblieben: Berichterstattung über politisch nichtkonforme Aktivitäten, über Bedingungen, die die Durchsetzung der SED-Politik in Staat und Wirtschaft erschwerten sowie über Bevölkerungsstimmungen.7

Für 1988 bedeutete dies primär die Bereitstellung von Informationen zur Entwicklung der internationalen Lage und zu den DDR-internen Problemen auf politischem, ideologischem und ökonomischem Gebiet unter Beachtung der vom Westen ausgehenden Einflüsse. Dabei wurden differenzierte Betrachtungsweisen eingefordert, denn diese waren die Voraussetzung für ebensolche Reaktionen, die in der gegebenen Situation als erforderlich angesehen wurden.

Einige Hinweise Irmlers zu den vordringlichen operativen Aufgaben sind auch im Hinblick auf die Informationstätigkeit von Bedeutung: Das Aufgabenfeld der Sicherung der Volkswirtschaft stand in seinen Ausführungen im Vordergrund. Im Hinblick auf die Eindämmung politisch abweichenden Verhaltens verlangte er, solche Mittel anzuwenden, die den aktuellen Bedingungen und der Generallinie der SED gerecht werden. Ziel sei es, alle Maßnahmen so zu gestalten, »dass sie dem Schutz und der Durchsetzung der Politik der Partei maximal dienen, dass alles zu unterlassen ist, was zu unnötigen Belastungen oder gar politischen Schäden führen kann«.8

Die Vorgaben des Leiters der ZAIG zur Informationstätigkeit betrafen nur die Berichterstattung aus dem sogenannten Abwehrbereich. Die Berichte der Auslandsspionage (»Aufklärung«) spielten an dieser Stelle keine Rolle; sie lagen ausschließlich in der Verantwortung der Hauptverwaltung A. Auch richteten sich die Anweisungen hauptsächlich an die Bezirksverwaltungen und ihre Kreisdienststellen, die sowohl die entsprechenden territorialen SED-Leitungen als auch die MfS-Zentrale mit Informationen zu versorgen hatten. Diese inhaltlichen Prinzipien galten aber ebenso für die Zentrale selbst, ohne dass dies besonders betont worden ist.

1.1 Vorgaben zur Information über innenpolitische Probleme

Der Leiter der ZAIG ermahnte die AKG-Leiter auf der Grundlage einer Analyse der sogenannten Parteiinformationen des Jahres 1987 auf Bezirks- und Kreisebene, künftig für eine komplexere Berichterstattung zu sorgen und sich stärker an den vorgegebenen inhaltlichen Schwerpunkten zu orientieren. Mielke hatte die Themen in seiner Planvorgabe für 1988 genannt: Wirtschaft, Forschung, Landwirtschaft, Verkehr, Zusammenarbeit im RGW, Politische Untergrundtätigkeit, Beziehungen Staat–Kirche, Reiseverkehr in die BRD (einschließlich der Nichtrückkehr in die DDR), Rückbeziehungen der »Verbleiber« und Übersiedelten sowie die Ausreisebewegung, außerdem die Bevölkerungsstimmung.9

Als positiv hervorgehoben, aber dennoch verbesserungswürdig wurden die Bemühungen zur sogenannten vorbeugenden schadensabwendenden Arbeit bezeichnet. Es gehe – auch durch eine entsprechende Berichterstattung – darum, »begünstigende Bedingungen für das Eintreten von Schadensfällen, für das Wirksamwerden feindlich-negativer Kräfte, für das Entstehen von Unruhe und Unzufriedenheit unter der Bevölkerung mittels Vorschlägen und Empfehlungen weiter einzuschränken«.10 Nicht zuletzt sollte intensiver über die Missachtung berechtigter Kritik von Werktätigen an den Arbeits- und Lebensbedingungen sowie über Verantwortungslosigkeit, Zurückweichen und Gleichgültigkeit bestimmter Funktionäre berichtet werden. Auf Mielke berief sich Irmler, als er seinen Mitarbeitern ans Herz legte, »bis zum Eintreten sichtbarer Veränderungen beharrlich dranzubleiben, also unter Umständen auch mehrmalig darüber zu informieren und weitere Möglichkeiten zu erschließen, den Prozess der Veränderungen zu unterstützen und zu kontrollieren«.11 Dies solle jedoch nicht durch eine wesentliche Erhöhung der Gesamtzahl der Informationen geschehen.

Bei den Berichtsschwerpunkten Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, Untergrund, Kirche, Westeinflüsse und Übersiedlung machte Irmler aber auch deutlich, wo die Grenzen einer verallgemeinernden Bewertung durch das MfS lagen. Das MfS dürfe sich trotz der notwendigen Einschätzungen zur Effektivität anderer staatlicher Organe nicht anmaßen, weitreichende Analysen zu erstellen, zu denen allein die Partei befugt sei. Bezüglich der Informationen zur Übersiedlung bedeute dies etwa, auf Gesamteinschätzungen und sogar auf Gesamtstatistiken zu verzichten. So befand sich jeder MfS-Offizier, der mit der Fertigung von Berichten beschäftigt war, die für externe Adressaten vorgesehen waren, in einem Dilemma: »Einerseits sollte er die Informationen analytisch aufbereiten, andererseits aber durfte er der SED nicht in die Quere kommen.«12

1.2 Anweisungen zur Berichterstattung über die Stimmungslage

Während das inhaltliche und funktionale Profil der Informationen zu einzelnen Ereignissen oder Sachverhalten bereits in den sechziger Jahren relativ weit ausgebildet war, festigte sich dies bei den Stimmungsberichten erst Ende der siebziger Jahre. Im Zusammenhang mit dem KSZE-Prozess wurde der Bevölkerungsstimmung zunächst vor allem in der innerdienstlichen Lageeinschätzung für die Leiter der Bezirksverwaltungen eine größere Bedeutung beigemessen. Sie lief hier unter der Rubrik »Reaktion der Bevölkerung«, worunter die Staatssicherheit »das Verhalten der Bevölkerung oder von Teilen der Bevölkerung, das durch Beschlüsse und Maßnahmen der Partei, des Staates oder gesellschaftlicher Organisationen, durch innen- und außenpolitische, durch regional begrenzte andere Ereignisse, Vorkommnisse und Verhältnisse sowie durch gegnerische Einwirkungen unmittelbar veranlasst wurde und das die politisch-operative Lage mitbestimmt«, verstand.13 Die Bezeichnung »Stimmung der Bevölkerung« wurde in den Führungsdokumenten nur sehr selten verwendet.

Bereits 1980 wurden auf diesem Feld die für die gesamten achtziger Jahre gültigen Festlegungen getroffen: die schwerpunktmäßige Orientierung auf die Arbeiter in Großbetrieben und der Landwirtschaft, die werktätige Intelligenz und die Jugend, die »Objektivität« in der Berichterstattung, die Konkretheit in der Darlegung sowie die Beachtung der Komplexität der Informationen.

Für das Jahr 1988 wurde den Stimmungsberichten eine zunehmende Bedeutung zugewiesen. Inhaltlich sollten sie sich auf solche Aspekte wie die Kritik gegenüber Parteibeschlüssen und deren Umsetzung, resignative Erscheinungen unter Funktionären der SED und des Staatsapparates, Reaktionen auf Mängel in Produktion und Versorgung, das Verhältnis zur Bundesrepublik, Haltungen zu den Wiener KSZE-Verhandlungen sowie zu den Reformen in den sozialistischen Partnerstaaten konzentrieren.14

Besonders eindringlich machte Werner Irmler auf die Möglichkeiten und Grenzen dieser Berichterstattung aufmerksam: »Grundsätzlich muss es auch weiterhin um eine objektive und reale, eine ausgewogene Darstellung des Stimmungsbildes gehen. Wir schätzen die Reaktion der Bevölkerung [jedoch] ausschließlich unter sicherheitspolitischen Aspekten ein und dürfen nicht für uns in Anspruch nehmen, die politisch-ideologische Situation im gesamten Verantwortungsbereich einschätzen zu wollen. Stets muss deutlich werden, dass wir über die Reaktion der Bevölkerung informieren und keine eigenständige Wertung vornehmen.«15 Besonderen Wert legte er auch auf die Beschreibung von Ursachen und Anlässen für Äußerungen, die politische Unzufriedenheit zeigen, und darauf, inwieweit sich diese auf westliche Einflüsse zurückführen lassen.

Diese Grundsätze wurden im Juni 1988 in einem Erfahrungsaustausch unter denjenigen Mitarbeitern der ZAIG und der AKG bekräftigt, die für die Berichterstattung über die »Reaktion der Bevölkerung« unmittelbar zuständig waren.16 Die zunehmende Bedeutung einer kontinuierlichen Bewertung der Bevölkerungsstimmung wurde hier mit der veränderten internationalen Lage, den gravierenden Wirtschaftsproblemen und der Forcierung der ideologischen Unterminierungsversuche durch den Westen begründet. Die Aktivitäten des Westens wurden als eine ernstzunehmende Gefahr angesehen. Dem Gegner gehe es um eine langfristige ideologische Aufweichung und Zersetzung sowie letztlich um eine Destabilisierung der Gesellschaftsordnung. Angegriffen werde die sozialistische Ordnung als solche, die führende Rolle der Partei und der Marxismus/Leninismus.

2. Herstellung und Verteilung der Berichte

2.1 Zentrale Informationsstrukturen

Für Erstellung und Versendung der Berichte war der Bereich 1 der ZAIG zuständig, der seit Mitte der siebziger Jahre – bis auf wenige Wechsel in der Zuordnung und Benennung von Aufgabenbereichen – kaum verändert worden war. Auch beim leitenden Personal herrschte weitgehend Kontinuität und selbst in der Mitarbeiterschaft hielt sich die Fluktuation in Grenzen. Die wichtigste strukturelle Veränderung war 1981 die Gründung der Arbeitsgruppe 6, die für die Berichterstattung zu Kirche, Kultur, politisch abweichenden Aktivitäten und der Bevölkerungsstimmung zuständig war. Dieser Arbeitsbereich war bis dahin in der Arbeitsgruppe 2 integriert gewesen, die darüber hinaus auch noch für westliche Spionage, Wirtschaft und die Staatsorgane verantwortlich gewesen war. Seine Ausgliederung dokumentiert den Bedeutungszuwachs des betreffenden Aufgabenbereichs.17

In der ZAIG/1 waren es besonders die dem Stellvertreter Günter Hackenberg zugeordneten Arbeitsgruppen 2, 3 und 6, zusammen 16 Mitarbeiter, die für das Verfassen und Zusammenstellen von Berichten verantwortlich waren. Die Arbeitsgruppen 4 (Auswertung der Westmedien)18 und 5 (Speicher zu gegnerischen Personen und Stellen)19 hatten in erster Linie Servicefunktionen. Eine überwiegend verwaltende Funktion für die Informationen, die die Auslandsspionage (HV A) zu Papier brachte, hatte die Arbeitsgruppe 1 inne, zusätzlich zur Fertigung der Berichte über die Lage in den sozialistischen Staaten.

Der Dienstsitz der ZAIG befand sich im Haus 4 des Hauptkomplexes des MfS in Berlin-Lichtenberg.20 Benachbart waren der Zentrale Operativstab und die Archiv- und Registraturabteilung, beides Strukturen, die ebenfalls mit Informationsaufnahme, -auswertung und -weitergabe befasst waren. Auch die Hauptabteilung XX, die für die Überwachung der Kirchen und Kultureinrichtungen und von Teilen des Staatsapparates sowie die Bekämpfung oppositioneller Gruppierungen zuständig war, hatte ihre Auswertungs- und Kontrollgruppe in unmittelbarer Nähe, sodass die mündliche Kommunikation nicht nur leicht möglich war, sondern auch davon ausgegangen werden kann, dass sie häufig praktiziert wurde. Der Bereich 1 stand, wie auch andere Bereiche der ZAIG in dem Ruf, besonders arbeitsintensiv und effektiv zu sein. Das lag wohl an der Vielzahl besonders qualifizierter und motivierter Mitarbeiter, die Irmler über die Jahre in seinem Verantwortungsbereich konzentriert hatte.

Der Bereich 1 der ZAIG im Dezember 198821

Über solche Arbeitsbereiche – allerdings ohne die Servicestrukturen – verfügten auch die Hauptabteilungen und selbstständigen Abteilungen der Berliner MfS-Zentrale. Sie waren dort Bestandteil der Ende der siebziger Jahre installierten Auswertungs- und Kontrollgruppen (AKG) und somit fachlich der ZAIG und dienstlich dem Leiter der operativen Diensteinheit unterstellt. In diesem Bereich »Auswertung 1« arbeiteten z. B. in der Hauptabteilung XX (Staatsapparat, Kirche, Kultur, »Untergrund«) sieben Mitarbeiter.22 Ähnliche Dimensionen hatte dieser Bereich auch in den anderen AKG. Eine Ebene weiter unten, in den unselbstständigen Abteilungen der Hauptabteilungen, gab es zudem auch noch Referate für Auswertung und Information, die gleichsam die Basis des Informationssystems darstellten, allerdings mit nur wenigen Mitarbeitern besetzt waren. Analoge Strukturen gab es auch auf der Ebene der Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen.

2.2 Das Verfassen von Berichten

Die Entscheidung zur Anfertigung eines Berichtes zu einem bestimmten Inhalt erfolgte wohl in der Regel durch direkte mündliche Absprachen innerhalb der ZAIG. Auch für die periodische Berichterstattung, etwa zu Reisen, Zwangsumtausch und den westlichen Militärmissionen, wurden bisher keine Weisungen gefunden. Die Berichte wurden meistens von vornherein so verfasst, dass sie auch an Adressaten außerhalb des MfS weitergegeben werden konnten. Der Leser brauchte für die Lektüre keinerlei Spezialkenntnisse.

Die Berichte enthalten möglichst wenig Angaben, die zur Enttarnung von Quellen führen konnten oder sonstige Rückschlüsse auf geheimdienstliche Prozesse ermöglichen würden. Aber natürlich waren nicht alle indirekten Hinweise auf die Quellen zu vermeiden, und so tragen rund ein Drittel der Berichte des Jahrgangs 1988 den Vermerk, dass die Informationen wegen »Quellengefährdung« nur zur »persönlichen Kenntnisnahme« bestimmt seien. Mielke schärfte seinen Mitarbeitern die Bedeutung der Informationen, »die unmittelbar aus unserer spezifischen tschekistischen Arbeit resultieren« immer wieder ein,23 da sie den spezifischen Wert der MfS-Berichte ausmachten.

Die Berichte zur Bevölkerungsstimmung fertigte die Arbeitsgruppe 6 und stützte sich dabei vor allem auf bereits verdichtete Informationen aus dem Anleitungsbereich des Ministerstellvertreters Rudi Mittig, zu dem u. a. die operativen Hauptabteilungen XVIII (Volkswirtschaft), XIX (Verkehr) und XX (Staatsapparat, Kultur, Kirche) also jene Bereiche gehörten, die die Hauptrolle bei der Überwachung der DDR-Gesellschaft spielten.

Unterschiedlicher Herkunft waren die Berichte, die über sicherheitsrelevante Ereignisse oder Entwicklungen Auskunft gaben. Die Arbeitsgruppen 2, 3 und 6 griffen dabei auf verschiedene Materialien zurück: auf Informationen der operativen Hauptabteilungen und des für strafrechtliche Ermittlungen zuständigen zentralen Untersuchungsorgans (HA IX), auf Meldungen des Zentralen Operativstabes (Lagezentrum des MfS), auf dienstliche Gespräche, Fernschreiben und Telefonate sowie auf die Berichte, die ihnen von den Auswertungs- und Informationsorganen der Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen zugeleitet wurden. Eine erhebliche Rolle spielten auch Informationen, die bei der Auswertung westlicher Medien angefallen waren.

Als Basis für die Berichte an die politische Führung hatten die innerdienstlichen Berichtsreihen der AKG der operativen Hauptabteilungen größte Bedeutung. Im Jahr 1988 erstellten die Hauptabteilungen XVIII, XIX und XX jeweils mehrere hundert solcher Papiere. Für ihre Ausfertigung wurden Formblätter und Registraturnummern verwendet. (z. B. die Information Nr. 24/88 der HA XX, siehe Faksimile). Wichtig waren auch die Ausarbeitungen der AKG der Hauptabteilung VI (Passkontrolle, Tourismus), die über Reiseverkehr und Zwangsumtausch Auskunft geben. Die AKG der Hauptabteilungen wiederum speisten ihre innerdienstlichen Berichte aus einer Vielzahl von Informationen, Einschätzungen, Berichten, Hinweisen, die aus den Auswertungs- und Informationsorganen der nachgeordneten Diensteinheiten stammten. Die Grundlagen der Berichterstattung bildeten Informationen aus der unmittelbaren »operativen Arbeit«, also Berichte von inoffiziellen Mitarbeitern oder hauptamtlichen Ermittlern sowie – sehr viel seltener – Informationen aus elektronischen Überwachungsmaßnahmen und der Postkontrolle, aber auch Informationen, die aus den offiziellen Beziehungen von MfS-Offizieren zu anderen staatlichen Stellen herrührten.

Spätestens bei den Berichten der AKG, meist sogar schon bei den Dokumenten der nachgeordneten Strukturen, fehlt der Hinweis auf die Quelle der Information, sodass sich die Informationskette von den operativen Informationen bis hin zum Bericht der ZAIG nur in Einzelfällen nachvollziehen lässt. Auch die Vernichtung einzelner wichtiger IM-Vorgänge, insbesondere im Bereich der Kirche, erschwert die Identifizierung des Ursprungs von Informationen. Dennoch ist es manchmal möglich, die Primärquellen nachzuweisen. Zum Beispiel basiert die Information 547/88 zum Treffen von bundesdeutschen FDP-Politikern aus Niedersachsen mit Rainer Eppelmann und anderen Oppositionellen am 11. und 12. Dezember 1988 nachweislich auf den Informationen des »Kirchenanwaltes« Wolfgang Schnur (IM »Torsten/Dr. Schirmer«).24

Die Fertigung der ZAIG-Berichte erfolgte auf unterschiedliche Art. Teilweise wurden Berichte aus den Hauptabteilungen lediglich redaktionell bearbeitet, das heißt meistens gekürzt und für die Adressaten außerhalb des MfS aufbereitet. Teilweise mussten Informationen mehrerer Diensteinheiten zu einem Gesamtbericht zusammengefügt werden. Ein beachtlicher Teil der Berichte des Jahres 1988 basierte auf Informationen aus der Hauptabteilung XX, bei der die Erkenntnisse zur Überwachung von Teilen des Staatsapparats (Ministerrat, Justiz, Kultur, Volksbildung, Wissenschaft), der Kirchen sowie der Opposition zusammenliefen. Zum Beispiel basierte die Information 458/88 vom 2. November 1988 zur Vorbereitung des Aktionstages zur Unterstützung der Bevölkerung Rumäniens auf der Information 612/88 der Hauptabteilung XX vom 14. Oktober 1988.25 Die ZAIG-Information ging inhaltlich nicht über den Gehalt der Vorlage hinaus, ist in der Darstellung aber kompakter, flüssiger geschrieben und enthält weniger Personendaten. Auch die beiden Anlagen, Papiere der oppositionellen Gruppe »Initiative Frieden und Menschenrechte«, wurden von den Mitarbeitern der ZAIG/1 vollständig übernommen.

Die in den Arbeitsgruppen verfassten Berichte gingen wohl in der Regel über den Bereichsleiter Rudi Taube oder seinen Stellvertreter Günter Hackenberg an den ZAIG-Chef Irmler, der mit einigen stilistisch begabten Mitarbeitern, offenbar hauptsächlich die für die Mielke-Reden zuständigen Klaus Labs und Reinhard Grimmer, die Endredaktion vornahm.

2.3 Klassifikation und Verteilung

Die Entscheidung darüber, ob ein Bericht Adressaten außerhalb des MfS zugeleitet werden oder nur der MfS-internen Kommunikation dienen sollte, wurde – ungeachtet von Vorentscheidungen auf der Arbeitsebene – im Einzelfall zunächst von Irmler und dann in letzter Instanz von Mielke getroffen. Dies fand seinen Ausdruck auch in der Art der Ausfertigung, von der in der ZAIG drei verschiedene Formen nachweisbar sind. War ein Bericht eindeutig für die politische Führung vorgesehen, so wurde das Formblatt mit dem Aufdruck »Information über …« verwendet (z. B. Information 82/88, siehe Faksimile). War es lediglich für die innerdienstliche Information vorgesehen, wurde ein übliches, zum Teil formloses Dokument mit Angaben zu Verfasser, Adressat und Datum angefertigt.

Eine dritte Form von Berichten findet sich, wenn die Entscheidung noch ausstand und am Ende von Mielke situativ getroffen wurde. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die Angabe der herausgebenden Diensteinheit ZAIG zumeist fehlt und das Dokument häufig den Vermerk »Streng geheim« trägt, der auch Bestandteil des gedruckten Formblatts für externe Informationen ist. Diese Berichtsform wurde zumeist mit dem Titel »Hinweise zu …« bezeichnet (z. B. Bericht K 3/88, siehe Faksimile). Sie hatten offensichtlich die Funktion, außerhalb der formellen Berichtswege schriftliche Informationen an auswärtige Stellen geben zu können. Einen Hinweis auf die mögliche externe Weitergabe enthalten die Verteiler dieser Dokumente manchmal insofern, als Mielke bzw. der Leiter seines Sekretariats, Hans Carlsohn, oder auch einer der stellvertretenden Minister mehr als ein Exemplar erhielten. Sie können als sogenannte »Non-Papers« oder »unfirmierte Dokumente« angesehen werden und sind kein Spezifikum des MfS. In der vorliegenden Edition sind diejenigen »Hinweise« enthalten, die den Sekretariatsablagen der ZAIG mit den Bezeichnungen »O« (»Reaktion der Bevölkerung«) und »K« (»Verschiedenes«) zugeordnet wurden.26

Mit der Festlegung des Berichtsstatus ging die Bestimmung des Verteilers einher. Die ZAIG-Verantwortlichen fertigten ein Blatt mit den vorgesehenen Adressaten an, das den Berichten vorgeheftet wurde. Bei den ausschließlich für MfS-interne Stellen vorgesehenen Berichten handelte es sich dabei schon um den endgültigen Verteiler, bei den Berichten der Serie »Informationen« musste Mielke noch zustimmen. Manchmal entschied er – im Widerspruch zum Verteilervorschlag – bestimmte Berichte doch nicht nach außen zu geben.

3. Die Berichte der Edition

Die Edition umfasst drei Berichtsserien, die aus den Ablagen des ZAIG-Sekretariats stammen. Es handelt sich um die Inlandsberichte der Hauptserie »Informationen«, die MfS-intern als Parteiinformationen bezeichnet wurde; außerdem um die Nebenserien »Reaktion der Bevölkerung« (Ablage O) und »Verschiedenes« (Ablage K). Alle drei Serien stammen aus dem Arbeitsprozess, in dem – zumindest potenziell – Berichte für die politische Führung gefertigt wurden.

Insgesamt handelt es sich um 279 Dokumente, davon 238 »Informationen«, 23 Berichte der Ablage O und 18 Berichte der Ablage K. Die Berichte der Serie »Informationen« gingen in der Regel auch an externe Adressaten. Im Gegensatz dazu ist die Verteilung der meist »Hinweise« genannten Berichte der Serien O und K an auswärtige Empfänger nur in wenigen Fällen nachweisbar.

In der Regel sind die Berichte monothematisch und stark ereignisbezogen. Mit Ausnahme der Stimmungsberichte enthalten sie häufig Informationen zu identifizierbaren Personen. Bis auf die periodische Berichterstattung zu Zwangsumtausch, West–Ost-Reiseverkehr und Militärverbindungsmissionen gibt es zu dem jeweiligen Thema meist auch nur einen Bericht. Ausnahmen sind die Vorgänge um die Liebknecht–Luxemburg-Demonstration und die Relegierung von Schülern der Ostberliner Ossietzky-Schule, die Sicherung der Konferenz für kernwaffenfreie Zonen und die April-Demonstrationen Ausreisewilliger in Dresden, denen die Staatssicherheit wegen ihrer Bedeutung jeweils mehrere Berichte widmete.

3.1 Reihe »Informationen«

Die 238 Berichte der Serie »Informationen«27 bilden den größten Teil der in die Edition aufgenommenen Dokumente.28 Im Vergleich zu den Jahren zuvor sind es 1988 besonders viele. 1985 waren es 161, 1986 213 und 1987 nur 152.29 Der bereits erwähnte Deckblattvordruck für die »Informationen« enthielt die Angaben »Ministerium für Staatssicherheit«, »Information über …« und Zeilen für das Datum, die Blattzahl, die Registriernummer und die Nummer des Exemplars, zudem den aufgedruckten Vermerk »Streng geheim! Um Rückgabe wird gebeten« (z. B. Information 82/88, siehe Faksimile).

Die edierten Exemplare stammen aus der Ablage des ZAIG-Sekretariats. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie oftmals den Entstehungsprozess erkennen lassen. Meist stellten die Verfasser die »Informationen« her, indem sie die Urform und die korrigierten und neu geschriebenen bzw. neu hinzugefügten Abschnitte zusammenklebten und kopierten. Bei den Sekretariatsexemplaren handelt es sich häufig um diese Kopiervorlagen (z. B. Information 443/88, siehe Faksimile). Daneben wurden hier auch 26 Rücklauf-Exemplare Erich Honeckers abgelegt, um seine Vermerke und Anweisungen zu dokumentieren.

Die einzelnen »Informationen« haben im Original meist einen Umfang von zwei bis vier Blatt. Etliche Berichte verfügen auch über eine oder mehrere Anlagen, die zum Teil vom MfS selbst verfasst, aber zum Teil auch konspirativ beschafft und dann kopiert oder abgeschrieben wurden. Das können Papiere evangelischer Kirchenleitungen, Dokumente der Opposition oder auch Zeitungsartikel sein.

Unter den 238 »Informationen« finden sich auch periodische Berichte: 52 wöchentliche Meldungen zum Zwangsumtausch, 4 Quartalsberichte zu den Aktivitäten westalliierter Soldaten in Ostberlin sowie 20 Bilanzen zum grenzüberschreitenden Verkehr (Halbjahre, Quartale und Feiertage). Die Dokumente der jeweiligen periodischen »Unterreihen« ähneln sich in ihrem Aufbau stark. Seit Mitte der siebziger Jahre, als sie entstanden sind, haben sie sich in ihrer Struktur kaum verändert. Bei den Quartalsbilanzen zum Reiseverkehr, die das MfS dem Innenminister und dem Leiter der Statistischen Zentralverwaltung zukommen ließ, machten sie die Adressaten – neben dem »Streng geheim!« auf dem Formblatt – in den Schlussbemerkungen auf weitere Verwendungskonditionen aufmerksam: zum einen auf die ausschließlich interne Nutzung der Daten im Innenministerium und zum anderen auf die erforderliche Abstimmung zwischen MfS und Statistischer Zentralverwaltung bei einer eventuellen Veröffentlichung.

Die übrigen 162 »Informationen« haben überwiegend einzelne, für sicherheitsrelevant gehaltene Ereignisse und Sachverhalte zum Inhalt: westliche Einflussnahmen, Aktionen von Systemkritikern, kirchliche Angelegenheiten sowie Wirtschafts- und Versorgungsprobleme. Es handelt sich in der Regel um relativ detaillierte Berichte, in denen handelnde Personen im Vordergrund stehen, die vom MfS mit Attributen wie »feindlich negativ« oder »realistisch« versehen werden. Manchmal ist ein Akteur sogar Hauptgegenstand der Berichterstattung. Trotz einer durchgängigen Freund–Feind-Logik wirken die Darlegungen vordergründig nüchtern und wertungsarm. Nur in wenigen Fällen wurden die berichteten Ereignisse zum Anlass genommen, tiefer greifende Bewertungen vorzunehmen. Ein einheitlicher Aufbau der Berichte ist nicht festzustellen; er wird weitgehend von den jeweiligen Inhalten bestimmt.

Zu Meldungen über besonders heikle Themen gehören auch immer Angaben zum Grad der Öffentlichkeit des Geschehens (Anzahl der Beteiligten, Öffentlichkeit des Raums, Anwesenheit von Medienvertretern, Verteilung von Positionspapieren). Erwähnenswert ist auch, dass in etwa 30 Berichten vorab auf ein Ereignis und die in diesem Zusammenhang stehenden Probleme aufmerksam gemacht wird. In acht Fällen folgten zu den jeweiligen Ereignissen auch bilanzierende Berichte, die in der Regel das Vorgehen der Staatssicherheit im Zusammenwirken mit anderen staatlichen Stellen (Volkspolizei, Staatssekretariat für Kirchenfragen, Abteilungen Inneres der Räte) thematisierten.30

Für die Reihe »Informationen« war der administrative Umgang genau festgelegt.31 Da es sich um die einzige offizielle Berichtsserie des MfS an »die Partei- und Staatsführung« handelte, war im Detail fixiert, welche Nachweise über Herstellung und Versendung zu führen waren, wie mit den Formblättern umzugehen war, welche Dienstwege bis zur Unterschrift Mielkes beachtet werden mussten und welche Verfahren bei der Verteilung außerhalb des MfS zu beachten waren.

3.2 Reihe »Verschiedenes« (Ablage K)

Diese Reihe ist in der Edition mit 18 Dokumenten vertreten. Sie unterscheiden sich in Inhalt- und Textstruktur nicht von denen der Reihe »Informationen«, denn es handelt sich um diejenigen Papiere, die im Prinzip für die externe Berichterstattung verfasst, aber nicht als »Information« klassifiziert wurden. Die Unterschiede zur Hauptserie zeigen sich vor allem in der Form, d. h. in der Ausfertigung als »unfirmierte Dokumente«. Die Angaben zur herausgebenden Institution32 und ein genaues Datum fehlen in der Regel. Auch sind diese Berichte als »Hinweise« und nicht als »Information« gekennzeichnet. Die angehefteten Zettel (in den Dokumentenapparaten einheitlich als »Vorblatt« bezeichnet) weisen vorrangig interne Adressaten aus (z. B. Bericht K3/88, siehe Faksimile). Die Serie bestand im Prinzip seit den siebziger Jahren, war im Laufe der Zeit aber deutlich homogener geworden. Außerdem haben sich die Subserien K 1 (Diverse Probleme), K 2 (Bewaffnete Organe) und K 3 (Kultur, Medien, Opposition) herausgebildet. In den Verteilern finden sich zumeist diejenigen internen Stellen, die auch bei thematisch ähnlichen »Informationen« vorzufinden sind. Hervorzuheben sind in fünf Fällen Vermerke und Paraphen, aus denen eine Weitergabe des jeweiligen Berichts an Honecker bzw. Krenz zu ersehen ist, sowie in zwei Fällen der Vermerk »Genossen Minister persönlich«.

An Honecker gingen die Berichte über die Unruhen vor der Sophienkirche im März 1988 und eine mögliche Unterstützung des Liedermachers Karl-Heinz Bomberg durch den SPD-Politiker Oskar Lafontaine. Krenz erhielt die Berichte zu Inhaftierungen wegen Wehrdienstverweigerung, zu den Salmonellenfällen im Bezirk Neubrandenburg sowie zur Stornierung von Gruppenreisen aufgrund fehlender bzw. defekter Busse. Die letzten beiden Berichte wurden ihm laut Verteiler vom Mielke-Stellvertreter Rudi Mittig überreicht.

Die Berichte mit dem Vermerk »Genossen Minister persönlich!« handelten von Problemen mit dem Volkswirtschaftsplan 1989 und von der Absage eines Brandt-Besuchs in Ostberlin. Offenbar lag es hier in der Hand von Mielke, sie eventuell extern weiterzugeben. Allerdings wurden sie nur intern verteilt und in der K-Ablage archiviert. Der Bericht über die angespannte Wirtschaftslage erhielt sogar einen Sperrvermerk für die innerdienstlichen Einsichtnahmen.

3.3 Reihe »Reaktion der Bevölkerung« (Ablage O)

Etwa doppelt so lang wie die Berichte der Serien »Informationen« und »Verschiedenes« (Ablage K) sind die Dokumente der Ablage O, die in der ZAIG unter der Bezeichnung »Reaktion der Bevölkerung/Hausmitteilungen« firmierten. Aus dem Jahr 1988 sind 18 Ablageeinheiten mit den Bezeichnungen O/196 bis O/212 überliefert. Da von verschiedenen Dokumenten eine Lang- und eine Kurzfassung hergestellt wurden, beläuft sich die Anzahl der Berichte auf 23. Damit bewegt sich diese Reihe in der Dimension der vorhergehenden Jahre.

Die zentralen Stimmungsberichte tragen den im innerdienstlichen Verkehr üblichen Kopf »Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe« (z. B. der Bericht O/209 zu Tendenzen der Bevölkerungsstimmung vom 24.11.1988, siehe Faksimile). Einige weisen jedoch eine abweichende Ausgestaltung auf, die auf eine potenzielle externe Verwendung (als »Non-Papers«) verweist: fehlende Angabe der herausgebenden Diensteinheit, d. h. der ZAIG, Existenz einer Lang- und Kurzfassung, Vermerk »Streng geheim!«.

Oft beziehen sich diese Berichte auf wichtige Anlässe: SED-Tagungen, Leipziger Messen, die Allunionskonferenz der sowjetischen Kommunisten, das neue Modell des Pkw »Wartburg«, die Prozesse nach den Januar-Verhaftungen, das Sputnik-Verbot und Ähnliches. Nur wenige Dokumente beschreiben die Stimmung ohne einen solchen Bezug, so die drei Berichte über die allgemeine Stimmungslage und derjenige zur Bevölkerungsreaktion auf die Situation in Handel und Versorgung. Letztlich reflektieren aber auch die Berichte zu bestimmten Anlässen die allgemeine politische Stimmung der DDR-Bevölkerung. Das Themenprofil des Jahres 1988 entspricht im Wesentlichen dem der gesamten achtziger Jahre. Auffällig ist jedoch, dass es 1986 und 1987 keine Berichte zur allgemeinen Stimmungslage gegeben hat.

Die Zeitspanne von dem zugrunde liegenden Ereignis bis zur Herstellung bzw. Verteilung des entsprechenden Berichtes ist bei den »Reaktionen« durchschnittlich länger als bei den Reihen »Informationen« und »K«. Mindestens eine Woche dauerte es, bis das meist nur mit dem Monat datierte Dokument in die Verteilung ging; häufig waren es zwei bis vier Wochen.

Wie bei den anderen beiden Serien gibt es auch bei der Reihe »O« keinen einheitlichen Aufbau und keine Zwischenüberschriften, wohl aber einige prägende, immer wiederkehrende Elemente, die auf ein verbindliches Darstellungs- und Interpretationsraster verweisen. So wurden die Äußerungen verschiedener »Personenkreise« (Werktätige, Funktionäre, Arbeiter, Angestellte, »progressive Kräfte« u. a.) auch geographisch zugeordnet. Zudem wurden Art und Kontext der Äußerung (spontan, Diskussion, Pausengespräch, Eingabe) und etwaige Bezüge (Politik von SED und Staat, Reformen in der SU, Vergleich mit Westdeutschland, DDR- und Westmedien u. a.) benannt. Eine Gesamtbewertung wurde weitgehend vermieden. Diese Art der Darstellung entspricht den Vorgaben, die Mielke und Irmler Ende 1987 gegenüber Mitarbeitern der Arbeitsgruppe 6 der ZAIG/1 gemacht hatten.33

Auch wenn diese Berichterstattung für ostdeutsche Verhältnisse vergleichsweise offen mit den in der DDR-Bevölkerung vorhandenen Meinungen umging, so zeichnet sie letztlich doch ein nur begrenztes Bild der Realität. Sie sind »angesiedelt in dem Spannungsfeld zwischen offizieller Ideologie, die in solchen Berichten ›progressiven und gesellschaftlich engagierten Bürgern‹ in den Mund gelegt wird, und dem Bemühen des MfS, für das System politisch gefährliche Entwicklungen und Stimmungsverschiebungen frühzeitig zu erkennen«.34 Der Zwiespalt der Verfasser, die gehalten waren, »einerseits auf Gefahren früh und deutlich hinzuweisen, zugleich aber die Empfänger der Berichte nicht durch zu scharfe Formulierungen und Panikmache zu verärgern«35 ist in den Berichten durchgehend manifest.

Laut Verteilerangaben scheinen die O-Berichte des Jahres 1988 fast ausschließlich an interne Adressaten gegangen zu sein – in der Regel an Mielke, seine Stellvertreter und die operativen Diensteinheiten (vor allem HA XX und HA XVIII), aus denen die Informationen stammten, die in den Berichten verarbeitet wurden. An letzter Stelle des angehefteten Verteiler-Zettels steht oft die Arbeitsgruppe 6 der ZAIG/1, die die Ausfertigung der Dokumente besorgte. Im Unterschied zu den zentralen Stimmungsberichten wurden die der Bezirke und Kreise als Bestandteil der Reihe »Informationen« an die örtlichen SED-Funktionäre weitergeleitet. Nur einen Bericht dieser Serie hat nachweislich auch Honecker erhalten: »Einige bedeutsame Aspekte der Reaktion unter Mitgliedern befreundeter Parteien« von September 1988, denn er ist mit seiner Paraphe abgezeichnet. Entweder ist er ihm von Mielke persönlich vorgelegt oder mit der Dienstpost zugeleitet worden. Als Indizien für eine mögliche externe Verwendung weiterer Stimmungsberichte können neben der Ausfertigung als »Non Paper« auch Verteiler gelten, in denen Mielke oder andere MfS-Generäle mit mehr als einem Exemplar ausgewiesen sind. Die zusätzlichen Exemplare erhielten sie möglicherweise zur informellen Weitergabe. Auch die Anfertigung einer geglätteten, auf Politiker zugeschnittenen Kurzfassung deutet auf diese Möglichkeit hin.

4. Die Themenfelder

4.1 Berichtsinhalte und MfS-Aufgaben

Die Berichte beschäftigen sich mit Ereignissen, Sachverhalten und Entwicklungen, die das MfS im weitesten Sinn als sicherheitspolitisch relevant bewertete. Sie betrafen auch Probleme der Volkswirtschaft, Versorgung und des Gesundheitswesens, die im Hinblick auf die Stabilität der DDR bedeutsam waren. Im Zentrum der Berichterstattung stehen aber Themen, die mit den Kernkompetenzen des MfS im Zusammenhang stehen: die Bekämpfung politisch-ideologischer Einflüsse des Westens, politisch abweichendes Verhalten im Innern oder die Beobachtung der Kirchen. Eine lange Tradition hat auch die Berichterstattung über größere Unfälle, Brände und industrielle Störfälle, bei denen das MfS automatisch die Ermittlungen führte, da in der Frühzeit der DDR in diesen Fällen immer Sabotage vermutet wurde. Die periodische Berichterstattung zum grenzüberschreitenden Verkehr und zum Zwangsumtausch resultierte aus den Zuständigkeiten des MfS für die Grenzkontrollen.

In Berichten spielen auch Hinweise auf Westkontakte eine beachtliche Rolle. Verbindungen zu westlichen Medien, Politikern und Unterstützern wurden insbesondere dann argwöhnisch beobachtet, wenn sie DDR-Bürger betrafen, die sich politisch abweichend verhielten. Dies lag einerseits daran, dass das MfS dazu neigte, in solchen Fällen eine westliche Beeinflussung oder gar Lenkung zu vermuten. Andererseits war durch diese Westkontakte eine Art potenzielle deutsch-deutsche Öffentlichkeit hergestellt, die die Repressionsmöglichkeiten für das MfS begrenzten und die Notwendigkeit einer intensiven Information der politischen Führung erhöhten. Auch die Themen Opposition, Ausreise und Kirche durchmischen sich, da die meisten der systemkritischen Kräfte unter dem Dach der evangelischen Gemeinden agierten bzw. die Ausreisewilligen den Schutz der Kirchenleitungen suchten.

4.2 Gefahren aus West und Ost

Klassische geheimdienstliche Tätigkeiten zur äußeren Abwehr wie die der Spionageabwehr, die im operativen Geschäft des MfS eine erhebliche Rolle spielte, spiegeln sich in den Berichten nur in einem geringen Umfang wider. Eine Ausnahme bilden die Quartalsberichte über die Aktivitäten der westalliierten Militärverbindungsmissionen.36 Diese unternahmen regelmäßig Fahrten v. a. durch die DDR-Hauptstadt und erkundeten dabei vornehmlich militärische und geheimdienstliche Objekte. Aufgrund ihres Status durften sie nur von Angehörigen der sowjetischen Militärbehörden und nicht von DDR-Sicherheitsorganen kontrolliert werden. So blieb dem MfS nur, die Erkundungsfahrten penibel zu dokumentieren, beispielsweise in der 30 Blatt starken Information 380/88. Bezeichnenderweise wurden diese Berichte nur innerhalb des MfS und an den KGB verteilt. Ansonsten spielen Berichte zum Thema gegnerische Spionage oder Geheimnisverrat eine marginale Rolle.

Dafür wurde den innerdeutschen Kontakten große Beachtung geschenkt: Mehr als 50 Berichte beschäftigen sich damit. Oftmals handelt es sich um sogenannten »Polittourismus«. Besonders die als Privatbesuch eingestufte Reise Helmut Kohls erregte den Argwohn der Staatssicherheit. Sie verfasste dazu gleich drei Informationen, u. a. die Information 268/88 vom 28. Mai 1988. Weitere Berichte haben die Besuche Schmidts, Brandts, Raus, Diepgens u a. zu offiziellen Veranstaltungen zum Inhalt. Kontakte zu den Kirchen und zu Systemkritikern waren dabei naturgemäß von besonderem Interesse. Das MfS sah in diesen Aktivitäten eine gezielte westliche »Kontaktpolitik« mit dem Ziel der Unterminierung der DDR.

Von ähnlicher Bedeutung war für das MfS das Wirken westlicher Medien, das 1988 in mehr als zehn Berichten behandelt wird. Im Zentrum dieser Berichterstattung standen die Aktivitäten der in der DDR akkreditierten Korrespondenten, die nach Auffassung des MfS oftmals gegen die Verordnung zur Arbeit ausländischer Medien von 197337 verstießen. Beispielsweise listeten die MfS-Genossen in der Information 39/88 die »Verfehlungen« der westlichen Korrespondenten in der Liebknecht–Luxemburg-Affäre auf. Den Journalisten wurde auch sonst immer wieder vorgeworfen, über bestimmte Themen ohne Genehmigung recherchiert und das Geschehen »verzerrt« wiedergegeben zu haben. In einigen Fällen hätten sie ihre Beobachterrolle verlassen und zur Unterstützung von Oppositionellen aktiv ins Geschehen eingegriffen und die Staatsmacht im öffentlichen Raum behindert.

Die Staatssicherheit reagierte auch auf westliche Pressemeldungen, die für die DDR heikle Themen enthielten, auch wenn westliche Korrespondenten nicht im Spiel waren, z. B. im Zusammenhang mit einem BILD-Artikel über die Zurückweisung von Paketen, bei einem Beitrag in der dänischen »Aktuelt« über eine Zwangsadoption und bezüglich einer Meldung über die Flucht eines ehemaligen MfS-Mitarbeiters.

Die Ostblockländer spielten in der MfS-Berichterstattung an die politische Führung naturgemäß eine geringere Rolle. Denn auch wenn das MfS die dortige Entwicklung teilweise mit Sorge betrachtete, wurde hier aus bündnispolitischen Gründen Zurückhaltung geübt. Zwar fertigte die ZAIG periodische Berichte zu den Reformprozessen in den »Bruderstaaten«,38 diese verblieben jedoch im MfS. Da der Einfluss der Reformprozesse in den anderen sozialistischen Staaten auch Auswirkungen auf die Entwicklungen in der DDR hatte, fanden entsprechende Themen indirekt auch ihren Weg in die für die politische Führung bestimmte Berichtsserie. Das war z. B. der Fall bei Aktionen der DDR-Opposition zur Unterstützung der rumänischen Bevölkerung und bei Diskussionen über die sowjetische Geschichte in der Berliner Samaritergemeinde sowie im Falle von Stimmungsberichten zum Verbot des Magazins »Sputnik« (Bericht O/211 vom 30.11.1988) und zur Allunionskonferenz der KPdSU. Die Berichte wiesen zwar auf die Einflüsse hin, die von der Reformpraxis in Polen, Ungarn und der Sowjetunion auch auf die DDR ausgingen, eine dezidierte Bewertung dieser Entwicklungen unterblieb jedoch oder reproduzierte lediglich die Deutung der DDR-Führung.

4.3 Politische Opposition und Proteste

Opposition und politisch abweichende Aktivitäten spielten in der DDR der achtziger Jahre eine zunehmende Rolle. Diese von der Staatssicherheit unter dem Begriff »politische Untergrundtätigkeit« (PUT) zusammengefassten Handlungen wurden in der Berichterstattung an die politische Führung vielfach zum Thema gemacht. Dabei handelte es sich um recht unterschiedliche Dinge, hauptsächlich friedens- und umweltpolitische Initiativen, die in der Regel von unter dem Dach der Kirche agierenden offenen Basisgruppen getragen wurden, die zunehmend auch Menschenrechts- und Demokratiefragen thematisierten. Sie sind in Forschung und Publizistik nach 1990 ebenfalls stark beachtet worden.39

Die größte Aufmerksamkeit widmete die ZAIG den Ereignissen um die Liebknecht–Luxemburg-Demonstration und die Relegation von Schülern der Ostberliner Carl-von-Ossietzky-Schule. Allein neun Berichte vom Januar und Februar wie z. B. die Information 28/88 beziehen sich auf den Komplex Liebknecht–Luxemburg-Demonstration, bei der es zu einer brisanten Aktionseinheit von Bürgerrechtlern und Ausreisewilligen gekommen war, und auf die sogenannte Aktion »Störenfried«40. Diese basierten auf den Tagesberichten der federführend zuständigen Hauptabteilung XX zur Aktion »Störenfried«. Es handelt sich durchgängig um Berichte, die über den Umgang mit den Inhaftierten Auskunft geben. Anders als in ähnlich gelagerten Fällen ist über die Vorbereitung der oppositionellen Aktivitäten, über die das MfS genauestens Bescheid wusste, keine schriftliche Meldung an die politische Führung erfolgt. Dass Honecker, Krenz und Schabowski aber dennoch im Bilde waren, belegen andere Quellen.41

Vier Berichte wurden zu den Protesten gegen die Relegierung von Schülern der Ossietzky-Schule in Berlin-Pankow aufgrund pazifistischer Tendenzen gefertigt.42 Die Staatssicherheit war dabei über das Ausmaß der Reaktion so besorgt, dass sie wie in der Information 508/88 jeweils auf die angekündigten weiteren Protestaktionen hinwies. Über die Auseinandersetzungen, die sich Ordnungskräfte und Rockfans im Juni vor dem Brandenburger Tor lieferten, wurden ebenfalls vier Berichte verfasst.

Rechte Gewalt, deren Existenz spätestens seit dem Überfall auf die Zionskirche im Herbst 1987 nicht mehr zu leugnen war, wurde in der Reihe »Informationen« zwei Mal thematisiert. Die Information 25/88 berichtete im Januar mit einem hochrangigen Verteiler über die Randale von – sich rechtsradikal gebenden – Jugendlichen in der mecklenburgischen Provinz. Da es sich um einen eher marginalen Vorfall handelte, verweist dieser Bericht auf die Intention des MfS, seinem Dienstherrn auf diesem brisanten Feld äußerste Wachsamkeit zu signalisieren.

Der Bericht 162/88 von Ende März über den Prozess gegen Oranienburger Skinheads war von erheblich größerer Bedeutung. Er hat die Form eines Prozessvorschlages, wie er für die Hauptabteilung Untersuchung üblich war, offenbarte aber eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit neofaschistischen Tendenzen.43 In Anlehnung an Grundsätze, die in der Anweisung des Ministerstellvertreters Mittig vom Februar 1988 zu den »Gefährdungen der Ordnung und Sicherheit, die von kriminellen/rowdyhaften Jugendlichen ausgehen«44 niedergelegt sind, sollten die gewaltsamen Übergriffe in enger Verbindung mit rein kriminellen Handlungen wie Diebstahl und Körperverletzung verhandelt werden.

Bis auf wenige Berichte (über »Alternative Frauengruppen«, über den Versuch, einen Verband von Schwulen und Lesben zu schaffen sowie die beiden Bestandsaufnahmen zur Situation in Opposition und Kirche nach den Januar-Verhaftungen) gibt es in diesem Themenfeld kaum verallgemeinernde Analysen oder Entwicklungsbeschreibungen, obwohl entsprechende Ausarbeitungen im MfS durchaus vorhanden waren.

Einige herausgehobene Regimekritiker wurden von der ZAIG mit personenbezogenen Dossiers gewürdigt; so der Liedermacher Stephan Krawczyk, der Physiker Hans-Joachim Fischbeck (Information 101/88 vom 23.2.1988) und der Präses der Synode Berlin-Brandenburg Manfred Becker. Auch der Aktivistin der Schwulen- und Lesbenbewegung in der DDR Ursula Sillge sind mehrere Abschnitte im entsprechenden Bericht gewidmet.

4.4 Kirchenleitungen und Kirchenvolk

Die Kirchen waren aus der Sicht der SED-Machthaber in der DDR eine Art »Fremdkörper«, die einzige Institution, die von Partei und Staat unabhängig, also nicht in die üblichen Anleitungs- und Kontrollstrukturen eingebunden war. Aus diesem Umstand ergaben sich besondere Kompetenzen der Staatssicherheit. Sie hatte die Kirchen besonders intensiv zu überwachen und die staatliche Kirchenpolitik mit ihren »spezifischen« Mitteln zu unterstützen sowie die politische Führung über die innerkirchlichen Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Da ein beträchtlicher Teil der unabhängigen und oppositionellen Gruppierungen in den achtziger Jahren unter dem Schutzdach der protestantischen Kirche agierten, hatte dieses Aufgabenfeld eine ganz besondere staatssicherheitspolitische Brisanz.45 Die MfS-Berichte über die Kirchen fallen durch einen vergleichsweise hohen analytischen Gehalt auf, was einerseits am Gegenstand liegt, andererseits aber wiederum auf die besondere kirchenpolitische Kompetenz des MfS verweist.46

In seiner Berichterstattung an die politische Führung konzentrierte sich das MfS auf die Verhandlungen der evangelischen und katholischen Kirchenleitungen sowie auf die größeren Zusammenkünfte des Kirchenvolks.47 Die unterschiedliche Politisierung der beiden großen Gemeinschaften sowie die unterschiedlichen institutionellen Strukturen schlagen sich in Art und Anzahl der Berichte nieder. Zur katholischen Kirche wurden vier Informationen gefertigt, zu den evangelischen Kirchen dagegen etwa 40 Berichte, die systemkritischen Aktionen der Gemeinden und Basisgruppen noch nicht einmal mitgerechnet.

Hinzu kommen einige Berichte über die Ökumenischen Versammlungen der DDR-Christen in Dresden und Magdeburg wie z. B. die Information 102/88, über die Mormonen, über die Methodistische Kirche und über die Jüdische Gemeinde. Auch über das ökumenische Treffen Europäischer Kirchenleitungen in Erfurt berichtete das MfS.

Die vier Dokumente zu Vorgängen in der katholischen Kirche wie z. B. die Information 213/88 zur Tagung der Berliner Bischofskonferenz vom April 1988 geben detailliert Auskunft über Meinungsäußerungen von ostdeutschen Würdenträgern in internen Beratungen. Trotz vermehrter kritischer Äußerungen in den katholischen Gemeinden zum Zustand der Gesellschaft und der entsprechenden Positionierung der katholischen Bischofskonferenz in der »Verbalnote« vom 9. März 1988 an den Staatssekretär für Kirchenfragen, hielt sich die Kirchenführung um den Berliner Bischof Joachim Meisner – entsprechend der grundsätzlichen Haltung Roms – mit politischen Äußerungen und Aktivitäten in der Öffentlichkeit weitgehend zurück. Die MfS-Dokumente werfen so zwar aussagekräftige Schlaglichter auf einige zentrale innerkirchliche Vorgänge, sind aber weit davon entfernt, ein umfassendes Bild vom Katholizismus in der DDR zu liefern. Alle vier Berichte verweisen auf »äußerste Quellengefährdung« und darauf, dass »streng interne Hinweise« verarbeitet wurden. Diese besonders strengen Hinweise zum Informantenschutz sind nur bei wenigen der Dokumente zu den evangelischen Kirchen zu verzeichnen.

In der Berichterstattung über die evangelischen Kirchen spielen politische Vorgänge, die von SED und Staatssicherheit als politisch problematisch betrachtet wurden, eine deutlich größere Rolle. Es war hier von Bedeutung, dass sowohl an der Kirchenbasis als auch bei den Amtsträgern das Verhältnis zum Staat und insbesondere das Stillhalteabkommen zwischen Bischof Schönherr und Honecker vom 6. März 1978 zunehmend hinterfragt wurde. Eine Politisierung der Gemeinden durch Friedens-, Ökologie- und Menschenrechtsgruppen sowie auch durch Beistand suchende Übersiedlungswillige war im Gange. Auf der anderen Seite mahnten traditionelle Kräfte, die eigentlichen geistlichen Aufgaben nicht zu vernachlässigen. Gemeinden und Kirchenleitungen standen so in einem ausgeprägten Spannungsfeld, das nicht ohne Auswirkung auf ihre Außenbeziehungen zu den Vertretern des SED-Staates war. Diese Entwicklung war umso brisanter, als sie sich in einer – für DDR-Verhältnisse – weitgehenden Öffentlichkeit vollzog. Neben ohnehin nicht zensierbaren Äußerungen in kirchlichen Räumen sorgten innerkirchliche Publikationen dafür, dass systemkritische Stimmen verbreitet wurden. Die zahlreichen MfS-Berichte zeichnen in ihrer Gesamtheit ein umfassendes Bild der komplizierten Lage, in der sich Kirchenleitungen, Pfarrer, Kirchenvolk und offene Basisgruppen im Jahr 1988 befanden.

Von den Papieren heben sich drei Berichte ab: die Information 113/88, 411/88 und 487/88 zur Lage in den Evangelischen Landeskirchen. Die Information 113/88 wurde in Vorbereitung des Gesprächs Honecker – Leich am 3. März zusammengestellt, die beiden anderen Berichte haben die Lage vor und nach den Herbstsynoden zum Inhalt. Äußerte sich das MfS im Bericht vom September noch zurückhaltend optimistisch zum Einfluss der »realistischen Kräfte«, so mussten sie in der »Information« vom November zugestehen, dass die Kritik der evangelischen Kirchen am Kurs von Partei und Staat eher zu- als abgenommen hatte. In diesem Bericht bezeichnete die Staatssicherheit die beobachteten Tendenzen als eindeutig »gegen das politische System des Sozialismus« gerichtet und gab damit – entgegen den gängigen zurückhaltenden Berichtsusancen – eine klare politische Bewertung ab.

Ereignisbezogen, aber ebenfalls mit analytischem Gehalt sind die Berichte zu den Tagungen der Kirchenleitungen und Synoden. Sie bilden mit über 20 Berichten den größten Block innerhalb der Überlieferung zu den Kirchen. Zu fast allen Treffen des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) der DDR und den Synoden der Landeskirchen liegen Berichte für die politische Führung vor. Die Tagungen des BEL und die republikweite Synode im September (Information 438/88) bekamen eine besondere Aufmerksamkeit. Im Zentrum der Betrachtungen stand zumeist die Kirche in Berlin-Brandenburg, in der sich die gesellschaftlichen Spannungen besonders niederschlugen und die mit ihrem Bischof Gottfried Forck einen besonnenen, aber auch energischen Streiter für politische Reformen besaß.

Das MfS berichtete auch über die Großveranstaltungen, die maßgeblich von der Kirchenbasis initiiert und getragen wurden: das vom Erfurter Propst Heino Falcke inspirierte Treffen »Abgrenzung und Öffnung« (Information 53/88), das als feindlich angesehene Seminar »Frieden konkret« (Information 131/88) und die in der Verantwortung der Gemeinden liegende »Friedensdekade« im Herbst 1988 (Information 536/88). In den Augen der Staatssicherheit sammelte sich hier ein gefährliches Konfliktpotenzial, das sich nur noch mit großer Mühe einhegen ließ.

4.5 Die Stimmung im Lande

Wie in allen Staaten mit gelenkter Öffentlichkeit besaß die Geheimpolizei auch in der DDR bedeutende Kompetenzen bei der Erfassung der Bevölkerungsstimmung. Hierbei stand in der Berichterstattung des MfS vor allem die politisch weniger auffällige Bevölkerungsmehrheit im Vordergrund. Diese Trennung in eine vermeintlich systemloyale Mehrheitsbevölkerung und Bevölkerungsgruppen mit politisch abweichendem Verhalten, also in zwei Akteursgruppen,48 lässt sich auch 1988 durchgehend feststellen. So fanden z. B. die Ansichten der immerhin über 100 000 Antragsteller oder von Oppositionellen nur indirekt Eingang in die allgemeinen Stimmungsberichte.

Die in der Edition enthaltenen 24 Stimmungsberichte stammen bis auf einen über die Verhältnisse im Gesundheitswesen (Information 80/88) aus der dafür in der ZAIG eingerichteten Reihe O (»Bevölkerungsreaktionen«). Im Unterschied zur Praxis der MfS-Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen wurde diese Stimmungsberichterstattung in der MfS-Zentrale nicht in die Reihe »Informationen« integriert, d. h., sie wurde in der Regel der Berliner politischen Führung nicht zugänglich gemacht. Das bedeutete, dass sie sich nicht so streng an die Vorgaben bezüglich der analytischen Tiefe halten mussten, wie sie für die regionalen MfS-Stellen galten. Am deutlichsten zeigt sich dies in den allgemeinen Stimmungsberichten von Mai, Juni, August und November. Ohne sich auf einen Anlass oder einen bestimmten Bereich der Gesellschaft zu beziehen, zeichneten die Autoren ein umfassendes Bild der Reaktion der Bevölkerung auf die gesamte politische Lage.

Besonders der Bericht O/209 vom 24.11.1988 reflektiert die politische Stimmung der DDR-Bevölkerung in umfassender Art und Weise. Dieser Bericht spricht die innenpolitischen Probleme mit erstaunlicher Offenheit an: z. B. den immensen Vertrauensschwund bezüglich des SED-Führungskreises, den abhanden gekommenen Stolz auf das Erreichte, den Zweifel an der ökonomischen Strategie der Partei, die zuungunsten der DDR ausfallenden Vergleiche mit der Bundesrepublik und der Sowjetunion, die enttäuschten Hoffnungen auf gesellschaftliche Veränderungen. Der Bericht vermeidet jedoch, die sehr kritischen Auffassungen der Bevölkerung selbst zu zitieren und lässt stattdessen SED-Funktionäre zu Wort kommen, die die allgemeine Stimmungslage beschreiben und bewerten. Diese Darstellungsart findet man auch in anderen Texten, die die Unzufriedenheit und Resignation der DDR-Mehrheitsbevölkerung beschreiben. Damit erreichte die ZAIG einerseits die geforderte Realitätsnähe, geriet aber nicht mit der alleinigen Zuständigkeit der Partei für allgemeine politische Bewertungen in Konflikt.

Ebenso umfassend, aber wesentlich vorsichtiger formuliert sind die Berichte, in denen die ZAIG auf bedeutende Zusammenkünfte der SED-Führungsebene eingeht, etwa auf das Treffen Honeckers mit den SED-Kreischefs im Februar 1988 sowie auf das 6. und 7. Plenum des ZK der SED Mitte bzw. Ende des Jahres. Trotz der Hinweise auf eine gewisse Unzufriedenheit ist der Grundtenor hier positiv. Hervorgehoben werden der offenere Umgang mit den Problemen und das Bemühen, diese Probleme zu lösen. Offenbar wurde vermieden, kritische Bewertungen aus der Bevölkerung über Honecker oder das Politbüro wiederzugeben. Eher wurden Stimmen festgehalten, die die Frage nach der Informiertheit der SED-Führung stellten.

Zu den Berichten mit der größten Brisanz gehört ein »Hinweis« zu Problemen in Handel und Versorgung von Anfang 1988. Von der Analyse wurden zwei Fassungen gefertigt. Einschlägige Merkmale weisen die kürzere Fassung (Bericht O/196b) als Bericht aus, der für eine potenzielle Weitergabe an auswärtige Adressaten (»Non-Paper«) bestimmt war. Trotz einiger Glättungen, die u. a. die DDR-Medienpolitik, die Einschätzung der Arbeitsmoral, das Ansehen der SED betreffen, birgt auch diese Fassung noch immer genügend Sprengstoff. Das Dokument verdeutlicht, dass sich die mangelnden Konsummöglichkeiten zu einem zentralen Problem der politischen Legitimation entwickelt hatten. Selbst die Bereitstellung von höherwertigen Konsumgütern wurde nicht mehr als Gewinn, sondern mit Blick auf die Verhältnisse im anderen Teil Deutschlands und angesichts der allgegenwärtigen Engpässe als Mangel angesehen.

Aufschlussreich sind auch Stimmungsberichte mit einem speziellen Anlass, etwa die Dokumente zur Allunionskonferenz der KPdSU (Bericht O/205) und zum Verbot der sowjetischen Zeitschrift »Sputnik« in der DDR (Bericht O/211), die den Einfluss der Perestroika dokumentieren. Dazu zählen auch der Bericht über den Unmut, den die Begrenzung des Valutaumtauschs bei Reisen in die ČSSR und nach Ungarn auslöste, ebenso wie die Hinweise zu den Problemen bei der Abschiebung Oppositioneller.

Die Stimmungsberichte des Jahres 1988 weisen charakteristische thematische Schwerpunkte auf, etwa die Probleme bei Versorgung und Produktion, die Orientierung der Bevölkerung am Westen und die Unzufriedenheit mit den Reisemöglichkeiten, die Ausstrahlung der Reformpolitik in der Sowjetunion oder die wachsende Kluft zwischen der SED-Mitgliedschaft und ihrer Führung. Insofern zeigen sie – wie bereits für die MfS-Stimmungsberichterstattung der achtziger Jahre festgestellt worden ist – retrospektiv »die unterschwellige Virulenz dieser Existenzfragen der SED-Diktatur«.49

4.6 Sicherung von Großveranstaltungen

Das MfS war maßgeblich an großen Sicherungseinsätzen beteiligt, die in den Akten als »Aktionen« bezeichnet werden. Dies war in der Regel die Sicherung von Großveranstaltungen, die für die Selbstdarstellung und das Renommee des SED-Staates von erheblicher Bedeutung waren. Dabei ging es u. a. darum, »Störungen« zu verhindern, d. h. etwa Protestaktionen von Übersiedlungswilligen. Die Sicherungseinsätze erfolgten im »politisch-operativen Zusammenwirken« (POZW) mit der Volkspolizei und anderen staatlichen Organen sowie manchmal auch den Ordnungskräften von Organisationen wie z. B. der Freien Deutschen Jugend (FDJ).

Im Jahre 1988 wurden vom MfS folgende wichtige Sicherungseinsätze durchgeführt: Aktion »Nelke 88« (Feiertage 1. und 8. Mai), Aktion »Volkskunst 88« (22. Arbeiterfestspiele in Frankfurt/O.), Aktion »Sicherheit« (Jahreskonferenz des New Yorker Instituts für Ost–West-Sicherheitsstudien in Potsdam), Aktion »Progress 88« (Treffen für kernwaffenfreie Zonen), Aktion »Zukunft 88« (Pioniertreffen in Karl-Marx-Stadt) und die Aktionen »Gastfreundschaft« II–VII (ausländische Staatsbesuche).

Die Anweisungen für diese Einsätze gab Mielke in Form eines Befehls, in dem auch immer Vorgaben zum Melde- und Berichtswesen enthalten waren. An die ZAIG erging meist die Aufforderung, die Sicherheitslage einzuschätzen und die Westmedien auszuwerten. Nur in zwei Fällen, bei den Aktionen »Nelke 88« und »Progress 88«, führte dies zu Berichten, die an die politische Führung gingen.

Eine umfangreiche Benachrichtigung der SED erfolgte nur bei der für die DDR-Führung außenpolitisch außerordentlich bedeutsamen Konferenz für kernwaffenfreie Zonen in Ostberlin.50 Die Aktion »Progress 88« schloss jedoch auch Einsätze ein, die hiermit wenig zu tun hatten, etwa die vorbeugenden Maßnahmen zum Jahrestag des Juni-Aufstandes 1953, die Sicherung der FDJ-Friedenswoche und der Einsatz wegen eines vermeintlichen Rockkonzertes vor dem Reichstag. Hier trug Mielke die oberste Verantwortung für tausende Sicherheitskräfte von MfS, Volkspolizei und NVA, was die umfassende Berichterstattung erklärt. Mit zehn Einzelberichten, von denen außer einem Stimmungsbericht alle auch an Honecker gingen, stellen diese »Informationen« und »Hinweise« den größten, wenn auch heterogenen Berichtskomplex des Jahres 1988 dar. Hervorzuheben sind die Berichte über die Tumulte vor dem Brandenburger Tor (Information 313/88) und die Stellungnahmen von Westkorrespondenten zu dem damit verbundenen Polizeieinsatz (Information 320/88) sowie die Treffen der Teilnehmer an der Abrüstungskonferenz Petra Kelly und Gerd Bastian mit Ostberliner Oppositionellen (Information 322/88).

Die Berichterstattung zur Sicherung der Feierlichkeiten vom 1. und 8. Mai 1988 hat dagegen eher nachrangige Bedeutung. Im Vorfeld wurden Honecker und Krenz mit der Information 199/88 auf die Gefahren möglicher »Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte« eingestimmt. Ein Bericht vom 2. Mai bilanzierte dann, dass die »Vorbeugungsmaßnahmen«, zu denen auch Gespräche mit Ausreisewilligen und präventive Verhaftungen bzw. Zuführungen gehörten, weitgehend gegriffen hätten. Dieser Bericht wurde jedoch nicht an auswärtige Adressaten verschickt.

Anders gelagert waren die Vorgänge um die Aktion »Störenfried«. Sie basierte nicht auf einem zentralen Befehl zur Sicherung der Liebknecht–Luxemburg-Demonstration, sondern entwickelte sich aus dem Einsatz der Hauptabteilungen XX und IX gegen die Umweltbibliothek im November 1987. Diese Aktion »Falle« ging zur Jahreswende in die Aktion »Störenfried« über. Sie war ursprünglich Ausdruck des – auch in der Folgezeit konzeptionell fixierten51 – Vorgehens zur Eindämmung der organisierten politischen Opposition in Ostberlin. Mit den Ereignissen auf der Januar-Demonstration, den folgenden Strafprozessen, den unerwartet starken Protesten u. a. ostdeutscher Kirchenführer und der ausgiebigen, in die DDR zurückwirkende westliche Medienberichterstattung erhielt das Geschehen eine rasante Eigendynamik. Das MfS erweiterte diese Aktion daraufhin zu einem Bündel umfassender Sicherungsmaßnahmen im gesamten DDR-Territorium. Die im Zusammenhang mit der Aktion »Störenfried« stehenden Berichte betreffen daher den Gesamtkomplex der politischen Opposition einschließlich der politisch aktiven Ausreisewilligen.52

4.7 Reiseverkehr und Zwangsumtausch

Die in der Berichtsreihe »Informationen« enthaltenen Statistiken zum grenzüberschreitenden Reiseverkehr und zum Zwangsumtausch, der als »Mindestumtausch« bezeichnet wurde, resultierten aus der Zuständigkeit des MfS für die Sicherung der Grenzübergangsstellen.53 Die Pass- und Kontrolleinheiten (PKE) der Hauptabteilung VI des MfS nahmen diese Aufgaben, die eher in den Zuständigkeitsbereich von Polizei und Finanzbehörden gehörten, in vollem Umfang wahr. Aus diesem Umstand ergibt sich auch die umfassende Berichterstattung zu diesem Themenkomplex.

Die Berichte können als Unterserien der Reihe »Informationen« angesehen werden. Es handelt sich im Einzelnen um die wöchentlichen Berichte zum Zwangsumtausch (52 Informationen wie z. B. Information 11/88), Quartalsberichterstattung zum Personen- und Kfz-Grenzverkehr (8 Dokumente wie z. B. Information 460/88), Halbjahresinformationen zum Grenzverkehr mit Lkw und Reisebussen (2 Dokumente wie z. B. Information 379/88) sowie Prognosen und Berichte zum Reiseverkehr an Weihnachten/Silvester, Ostern und Pfingsten (10 Dokumente wie z. B. Information 553/88). Bis auf die Berichte über den Reiseverkehr zur Jahreswende und zu Ostern wurden sie mit normierten Tabellen hergestellt.

Die Erhebung des Zwangsumtauschs ging auf eine Anordnung aus dem Jahre 1980 zurück. Sie verfügte, dass Reisende aus westlichen Staaten »einen verbindlichen Mindestumtausch von Zahlungsmitteln fremder Währungen im Gegenwert von 25 Mark der DDR zu den in der DDR geltenden Umrechnungsverhältnissen« in einer konvertierbaren Währung vorzunehmen haben.54 Für erwachsene Westdeutsche und Westberliner bedeutete dies, für jeden Tag in der DDR 25 DM in 25 DDR-Mark umtauschen und ausgeben zu müssen, denn ein Rücktausch war nicht vorgesehen. Das MfS stellte die Einnahmen von »Valuta-Mark« wöchentlich zusammen und übersandte diese Zusammenstellungen an das Finanzministerium. Für das Jahr 1988 ist insgesamt eine Summe von etwa 75 Mio. »Valuta-Mark« dokumentiert, ein für die devisenschwache DDR beachtlicher Betrag.

Die Quartalsinformationen zum Ein- und Ausreiseverkehr wurden sowohl für das Innenministerium als auch für die Statistische Zentralverwaltung hergestellt. Obwohl sie auf den gleichen Erhebungen basieren, unterscheiden sie sich in ihrer Darstellung. Besonders auffällig ist, dass bei der Version für das Statistikamt die Einreisen mit dem Visum zum Tagesaufenthalt (VTA) nach Ostberlin und ins Grenzgebiet – im Gegensatz zu der Version für das Innenministerium – nicht berücksichtigt sind. So weist etwa der Bericht an das Statistikamt im II. Quartal etwa 20 Prozent weniger Einreisen von Bürgern westlicher Staaten aus als der Bericht für das Innenministerium. Die Beträge aus dem Mindestumtausch von etwa 427 000 Einreisenden wurden auf diese Weise verschleiert. Möglicherweise ist das der Grund für die Auflage an die Adressaten, die öffentliche Verwendung der Daten nur in Absprache mit dem MfS zu praktizieren bzw. die Daten nur intern im Innenministerium zu verwenden.

Die nüchternen Reisestatistiken deuten auch auf einen Sachverhalt hin, der in anderen Berichten immer wieder aufscheint und vom MfS unter der Bezeichnung »Kontaktpolitik/Kontakttätigkeit« als Gefährdung für die Sicherheit der DDR gehandelt wurde: die persönlichen Kontakte zwischen West- und Ostdeutschen. So wurden z. B. vom IV. Quartal 1987 bis zum III. Quartal 1988 etwa 8 Mio. Einreisende aus dem Westen und etwa 7 Mio. in den Westen ausreisende DDR-Bürger registriert. Dass diese zahllosen Kontakte politisch unliebsame Wirkungen entfalteten, wurde von der Staatssicherheit mit zunehmender Besorgnis registriert.

4.8 Flucht und Ausreise

Der Wunsch vieler Bürger, die DDR zu verlassen, war zu allen Zeiten ein zentrales politisches und gesellschaftliches Problem des SED-Staates. Auch und gerade in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre waren Flucht- und Ausreisewillige für das MfS mit Abstand die größte Problemgruppe. Unter den 3 668 Personen, die 1988 mit einem MfS-Ermittlungsverfahren verfolgt wurden, waren 1 291 (35 %), die einer Straftat im Zusammenhang mit dem »Erreichen der Übersiedlung« und 1 743 (48 %), die eines »gegen die Staatsgrenze gerichteten« Deliktes beschuldigt wurden. Hinzu kamen noch 2 887 Personen, die einer »Sachverhaltsüberprüfung«, d. h. einer Zuführung und Befragung nach § 95 StPO55 wegen solcher Verdachtsmomente unterzogen wurden, was 64 Prozent aller strafrechtlichen Vorermittlungen ausmachte.56 Jenseits dieser strafrechtlichen Aspekte waren die Ausreisewilligen ein Massenphänomen. Zum Jahresende gab es rund 113 500 Ausreiseantragsteller. Ihre Zahl war im Laufe des Jahres um 30 700 angewachsen; 25 300 Personen wurde in dieser Zeit die Ausreise gestattet. Die Zahlen wiesen in den letzten Jahren eine stark steigende Tendenz auf.57

Die Bekämpfung von Flucht und Ausreise wurde von der SED als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet.58 Dies kommt bezüglich der Übersiedlungswilligen auch im Beschluss des Politbüros vom 19. April 1988 zum Ausdruck,59 der neben den Parteileitungen in Staat und Wirtschaft auch andere Strukturen wie die Bereiche Inneres der örtlichen Räte, das Außenministerium, die Sicherheits- und Justizorgane sowie FDGB und FDJ verantwortlich machte. Die in diesem Umfeld entstandene MfS-Dienstanweisung 2/88 gab deshalb auch vor, diese Partner mit den Mitteln der Staatssicherheit »wirksam zu unterstützen«.60 Dabei nahm die Geheimpolizei im Rahmen des sogenannten politisch-operativen Zusammenwirkens u. a. Einfluss auf Entscheidungen der für die Bearbeitung der Ausreiseanträge zuständigen Abteilungen Inneres der örtlichen Räte, der Volkspolizei oder der Kaderabteilungen in Betrieben und Einrichtungen.

Obwohl bei der Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG) des MfS alle Informationen zu den Komplexen Flucht und Ausreise zusammenliefen und diese Diensteinheit auch entsprechende Überblicksdarstellungen fertigte,61 sind die über 30 ZAIG-Berichte des Jahres 1988 zu diesem Thema sehr ereignis- und einzelfallbezogen. Am analytischsten ist noch die Information 351/88 zu den gemeinsamen Aktionen von Antragstellern und Pfarrern. Die Verfasser konstatierten hier eine allgemeine Tendenz zur Nichtrespektierung staatlicher Entscheidungen und zur Ausdehnung öffentlicher Proteste.

Die meisten Berichte thematisieren Protestaktionen von Ausreiseantragstellern. Diese »provokativ-demonstrativen Handlungen« zogen sich durch das gesamte Jahr und wurden von der Staatssicherheit im Hinblick auf die politische Lage als besonders heikel angesehen. Im Fokus der Berichterstattung standen die Berliner Proteste vom Februar und März und die April-Demonstrationen in der Dresdner Innenstadt wie z. B. die Information 178/88 vom 11. April 1988. Den Ereignissen in der sächsischen Metropole widmete das MfS sogar vier Berichte. Damit reflektierte die MfS-Berichterstattung die Bedeutung Dresdens als »Metropole der Ausreisewilligen«.62

Eine ähnliche Zahl an Berichten fertigte die ZAIG über den Umgang von evangelischen Pfarrern und höheren kirchlichen Amtsträgern mit Übersiedlungswilligen. Einige Gemeinden waren mit ihren »Sonntagsgesprächen« und »Friedensgebeten« wiederholt Gegenstand der Berichterstattung, z. B. die Paul-Gerhardt-, die Sophien- und die Bekenntnis-Gemeinde in Berlin, die Dom-Gemeinde in Zwickau und die Nikolai-Gemeinde in Leipzig (Information 232/88). Das Thema Ausreise spielte zudem in den Berichten über die Besetzung der dänischen Botschaft und in Berichten über die Kontakte von NRW-Ministerpräsident Johannes Rau mit Ausreisewilligen eine Rolle. Die gesellschaftliche Dimension der Ausreisebewegung scheint am ehesten in den Berichten über den Umgang der evangelischen Kirchenleitungen mit den Antragstellern auf.

Auch das Fluchtgeschehen bildet sich in der ZAIG-Berichterstattung ab, allerdings geht es dabei ganz überwiegend um Einzelfälle: geglückte und verhinderte Fluchten von sogenannten »Sperrbrechern« und »Verbleibern«. Als Auswahlkriterium muss man insbesondere die potenzielle Öffentlichkeitswirksamkeit der Fälle annehmen, wenn also eine Behandlung durch westliche Medien wahrscheinlich erschien. So ging es u. a. um die spektakuläre Flucht von drei Männern über die Glienicker Brücke und die Nichtrückkehr von drei Kruzianern von einer Gastspielreise (Information 519/88). In anderen Fällen stand die Befürchtung im Vordergrund, dass die Geflohenen geheime Informationen preisgeben könnten. In den berichteten Fällen ging es etwa um Kenntnisse über Umweltprobleme, den DDR-Außenhandel und MfS-Interna. »Schleusungsversuche« sind 1988 nicht zum Gegenstand der Berichterstattung gemacht worden.

Lediglich zwei »Informationen« durchbrechen diese auf Einzelfälle ausgerichtete Berichterstattung: die Berichte über die Fluchten von Ärzten und medizinischem Personal (Information 323/88) sowie über die Fluchtbewegung von Ungarn nach Österreich. Mit dem ersten wollte das MfS primär auf die kritische Arbeitskräftesituation im Gesundheitswesen hinweisen. Die Ausarbeitung über die Fluchten über die ungarische Grenze war wohl als Hintergrundinformation für das Treffen Honeckers mit dem ungarischen Parteichef gedacht, wurde dem Generalsekretär aber letztlich nicht übergeben.

4.9 Wirtschaft, Versorgung und Gesundheitswesen

Ökonomische Probleme waren in der Geschichte der DDR zu allen Zeiten dominant und zehrten an den Legitimationsgrundlagen und der Stabilität des SED-Staates. Es war daher fast zwangsläufig, dass die Bekämpfung der allgegenwärtigen Schwierigkeiten in Produktion und Versorgung auch im Aufgabenspektrum des MfS eine große und in den achtziger Jahren zunehmende Rolle spielte63 – auch im Hinblick auf die Berichterstattung. In der zentralen Aufgabenplanung des MfS für das Jahr 1988 rangierte die »Sicherung der Volkswirtschaft« ganz vorn, und das betraf auch den speziellen Aufgabenbereich der Auswertung und Information.64 Dies zeigt sich ebenfalls an den thematischen Schwerpunkten der ZAIG-Tagungen, die der Anleitung der nachgeordneten Auswertungs- und Informationsorgane dienten. Dort standen wirtschaftliche Probleme wie Schadensfälle, Ordnung und Sicherheit, Arbeits- und Lebensbedingungen der »Werktätigen« sowie Wissenschaft und Technik ebenso wie auf der zentralen Ebene im Vordergrund.65

Der analytische Gehalt ist bei diesen Berichten im Vergleich zu anderen Themenfeldern wesentlich höher. Die größte Komplexität weisen die Berichte zur gesamtwirtschaftlichen Planung und Planerfüllung (K1/187), zur Versorgung mit Benzin und Diesel (Information 416/88), zum Bau von Atomkraftwerken (Information 440/88) und zum Schadensgeschehen in Wirtschaft und Verkehr (Information 493/88) auf. Während der letztgenannte Bericht aus der traditionellen MfS-Zuständigkeit für die Untersuchung von industriellen Störfällen (»Havarien«) und schweren Unfällen hervorging, resultierten die anderen aus der Überwachung wirtschaftslenkender »Organe«, die die eigentliche fachliche Kompetenz besaßen.

Das Dokument vom 7. Juni 1988 (Bericht K1/187) zur ökonomischen Entwicklung reflektierte die Kontroverse zwischen dem Leiter der Plankommission Gerhard Schürer und dem für Wirtschaftsfragen zuständigen Politbüromitglied Günter Mittag vom Frühjahr 198866. Im Kern ging es darum, ob das bisherige Konzept der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« modifiziert oder unverändert beibehalten wird. Das Politbüro entschied im Sinne von Mittag für ein »Weiter so!« und gegen die von Schürer vorgeschlagenen Reformen wie z. B. den Stopp von ineffizienten Investitionsprogrammen, etwa in der Mikroelektronik, den Ausbau von leistungsfähigeren Bereichen wie dem Maschinenbau mit den freiwerdenden Mitteln und die Einschränkung der Subventionen im Konsumsektor.67

Das von der ZAIG gefertigte Papier schildert sowohl die aktuelle ökonomische Situation als auch die Bedenken einer Reihe von Wirtschaftsfunktionären an der Machbarkeit der Planziele für 1989. Indirekt bezog der Bericht die kritische Position Schürers, wenn er davon spricht, dass »die intensiven Arbeiten auf verschiedenen Leitungsebenen zur Vorbereitung des Planes 1989 die Kompliziertheit der Durchsetzung der geforderten höheren Leistungsziele und deren praktische Realisierung« verdeutliche. Die Ausarbeitung wurde nur Mielke und seinem Stellvertreter Mittig zugeleitet, die es wohl für besser hielten, sich in dieser brisanten Angelegenheit gegenüber dem Politbüro nicht zu positionieren. Der als »Hinweis« ausgegebene Bericht landete schließlich mit einem Sperrvermerk in der Ablage des ZAIG-Leiters Irmler.

Mit ähnlicher Deutlichkeit meldete sich die ZAIG bei den substanziellen Problemen der Kraftstoff- und Energieversorgung zu Wort, so u. a. im Bericht 416/88 vom 24. September 1988. Sie befürchtete eine erhebliche Gefährdung grundlegender ökonomischer und sozialer Ziele und brachte in einen Bereich Vorschläge ein, in dem sie formal keine fachliche Zuständigkeit besaß. Einen eindrucksvollen Einblick in die desolate Situation von Produktionsanlagen und Wartungspraxis gibt auch der Bericht über die Untersuchung von Havarien und Bränden in den ersten drei Quartalen des Jahres 1988 (Information 493/88).

In den Berichten konstatiert das MfS zwar Defizite aller Art, aber kein direktes »feindliches« Einwirken. Die Missstände werden verantwortungslosem Handeln von Werktätigen und Leitern, schlecht gewarteten Anlagen, Planmanipulationen und Mängeln in der Materialwirtschaft und nicht zuletzt dem Abweichen von Parteibeschlüssen zugeschrieben. Grundsätzliche Zweifel an der Wirtschaftspolitik kommen nur ansatzweise im genannten Bericht über die Planung für 1989 zum Ausdruck, ansonsten nur in Zitaten von Stimmen aus der Bevölkerung.

Die Rolle des Beobachters verließ die ZAIG mit den Berichten über ein neues Verfahren zur Gardinenherstellung und über die technische Innovation bei Fräsmaschinen im Getriebewerk Brandenburg. Die Berichte rühmten hier die MfS-Mitarbeiter vor Ort, weil sie gestaltend in die Produktionsprozesse eingegriffen und sich – im Fall der Gardinenherstellung – sogar um die Patentierung gekümmert hatten.

Fragen der Ökologie und der Versorgung spiegeln sich in den MfS-Berichten nur indirekt. Umweltschutz war nur ein Thema, wenn sich Oppositionelle oder Westkorrespondenten mit ökologischen Defiziten beschäftigten. Versorgungsprobleme schlugen sich vor allem in den Berichten zur Bevölkerungsstimmung nieder.

Sehr aussagekräftig sind dagegen die Berichte zur Lage im Gesundheitswesen. Gerade in diesem Sektor, in dem der ostdeutsche Sozialismus seine gesellschaftlichen Vorzüge demonstrieren wollte, machte das MfS erhebliche Defizite aus. Die Berichte zur prekären Arbeitskräftesituation aufgrund von Fluchten und Ausreisen von März und Juli sowie zu dauerhaften Engpässen bei Medikamenten und Verbandstoffen vom November (Information 489/88) belegen dies ebenso wie die Information zu den skeptischen Äußerungen von jungen Medizinern zur SED-Politik (Bericht O/210). Insgesamt entsteht ein umfassendes Bild der dramatischen Probleme.

5. Rezeption der Berichte

Die Adressierung der Berichte an MfS-interne und -externe Empfänger ist gut nachvollziehbar; hingegen hat die Rezeption der Berichte im Staats- und Parteiapparat – wenn überhaupt – nur schwache Spuren hinterlassen. Das mag u. a. auch daran liegen, dass aufgrund der Brisanz der behandelten Gegenstände zwischen MfS- sowie Partei- und Staatsfunktionären vieles mündlich verhandelt wurde. Eine systematische Durchsicht der hier infrage kommenden Archivbestände konnte im Rahmen dieser Edition nicht geleistet werden. So lassen sich an dieser Stelle nur einige bruchstückhafte Befunde aufführen, ein auch nur annähernd komplettes Bild der Wirkung, die die MfS-Berichterstattung in der politischen Führung der DDR erzielt hat, kann nicht gezeichnet werden.

5.1 Adressaten der Dokumente

Neben der Festlegung, ob ein Berichtsinhalt als offizielle »Information«, Schreiben, Hinweis oder als mündliche Information weitergegeben werden sollte, trafen Irmler und Mielke auch die Entscheidung über die externen und internen Adressaten. Von den 279 hier edierten Dokumenten waren 238 sowohl für externe als auch für interne Empfänger bestimmt.68 In den Verteilern von 41 Berichten stehen dagegen ausschließlich Stellen innerhalb des MfS.

Der MfS-interne Verteiler hatte überwiegend administrative Bedeutung, denn er berücksichtigte vor allem diejenigen Diensteinheiten, die am Zustandekommen des Berichts beteiligt bzw. für ihren Inhalt verantwortlich waren. Das waren vor allem die Hauptabteilungen bzw. Abteilungen, aus denen die Ursprungsinformationen stammten und die für die Verdichtung der Inhalte zuständig waren, die für den Aufgabenbereich zuständigen Ministerstellvertreter sowie die Bearbeiter der Berichte aus der ZAIG. Hinzu kamen weitere MfS-Struktureinheiten, für die die betreffenden Inhalte von Interesse sein konnten. Mielkes Stellvertreter Rudi Mittig, der Leiter der Hauptabteilung XX und die ZAIG/1/6 dominieren die Verteiler des Jahrgangs 1988, was darauf verweist, dass ein großer inhaltlicher Schwerpunkt der Berichterstattung bei Themen lag, die im weitesten Sinn mit der Beobachtung von (potenziellem) politisch abweichendem Verhalten zu tun hatten.69

Die Berichte der formell für die externe Berichterstattung vorgesehenen Reihe »Informationen« gingen bis auf vier Ausnahmen alle tatsächlich an externe Partei- und Staatsfunktionäre. In weiteren vier Fällen wurden den externen Adressaten die Berichtsinhalte lediglich mittels Telefonat oder durch ein offizielles Schreiben mitgeteilt.

Bei den Serien O (»Bevölkerungsreaktion«) und K (»Verschiedenes«) zeigt sich das umgekehrte Bild. In der Regel verließen sie das MfS nicht. Nur bei 5 der 18 K-Berichte sind auswärtige Adressaten nachweisbar: zwei Mal Erich Honecker (Berichte K3/92, K3/96) und drei Mal Egon Krenz (Berichte K1/186, K1/190 und K1/191). Bei den Stimmungsberichten der Reihe O ist gar nur bei einem Dokument, das über die inneren Verhältnisse in den Blockparteien (Bericht O/208a) Auskunft gibt, ein externer Empfänger nachweisbar, nämlich Honecker, der mit seiner Paraphe »EH« die Kenntnisnahme dokumentierte. Man kann vermuten, dass Mielke ihm das Papier bei einem der dienstäglichen Vier-Augen-Gespräche überreicht hat.

Insgesamt sind 49 Stellen in der Staats- und Parteiführung nachweisbar, die MfS-Berichte erhielten. Wie aus der Übersicht zu den Adressaten (Anlage zur Einleitung) zu ersehen ist, gingen die meisten Dokumente an Honecker (84) sowie an die Politbüromitglieder Krenz (122), Jarowinsky (85), Schabowski (42), Hager (23) und Herrmann (33). Auch die im Partei- und Staatsapparat für Kirchenfragen Verantwortlichen Rudi Bellmann (68) und Peter Kraußer (6) sowie Klaus Gysi (36) und Kurt Löffler (34) erhielten zahlreiche Informationen. An Innenminister Dickel und Regierungschef Stoph, die aufgrund ihrer Funktion für Sicherheitsfragen zuständig waren, sind nur wenige Berichte adressiert gewesen. Von den befreundeten Geheimdiensten stand nur die Verbindungsstelle des KGB in Berlin-Karlshorst im Verteiler (13).

In den Berichten für Honecker dominieren erwartungsgemäß Themen, die für das außenpolitische Ansehen der DDR von Bedeutung sind: das Wirken der Westkorrespondenten, die Kontakte von bundesdeutschen Politikern zu DDR-Oppositionellen und kirchlichen Amtsträgern sowie Stellungnahmen der Kirchenleitungen zu inneren Problemen der DDR. Bei allen anderen Adressaten gibt es eine sehr enge Korrelation zwischen dem Inhalt der zugestellten Berichte und ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich.

5.2 Zum Umgang mit den MfS-Berichten

Die von der Staatssicherheit vorgegebene Behandlung der Berichte folgte vor allem Sicherheitskriterien. Auf den geheimschutzkonformen Umgang verwiesen die Vermerke im Dokumentenkopf »Streng geheim!« und »Um Rückgabe wird gebeten« sowie – im Text selbst – die Wendungen »streng intern wurde bekannt« oder etwaige Bemerkungen zum Quellenschutz am Ende des Textes. Um einer Dekonspiration der menschlichen Zuträger und der technischen Überwachung vorzubeugen, unterschied die ZAIG hier zwischen einfacher und besonderer Quellengefährdung. »Die Information ist wegen [bzw. wegen besonderer] Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt!«, ist in 86 Meldungen der Hauptserie »Informationen« zu lesen. Nach bisherigen Erkenntnissen wurden diese Vorgaben von den Adressaten auch eingehalten.

In der Regel wussten nur die höchstrangigen Adressaten, wer zusammen mit ihnen den entsprechenden Bericht erhalten hatte. Das galt für den Generalsekretär, den Regierungschef, den Außenminister und den Verteidigungsminister.70 Die niederrangigen Adressaten waren über den Verteiler des Berichtes nicht im Bilde. Honecker kannte grundsätzlich den Gesamtverteiler. (Honecker Exemplar: Information 438/88, siehe Faksimile). Eine analoge Verfahrenweise wurde bei den Empfängern der zweiten und dritten Hierarchieebene nicht praktiziert.

Zum »sicheren Umgang« hat auch das Verfahren beigetragen, die Meldungen nach Kenntnisnahme an das MfS zurückzusenden. Die ZAIG registrierte die Rückgaben penibel.71 Selbst der Generalsekretär hielt sich grundsätzlich an diese Regel. Nur in wenigen Fällen verzögerte er die Rückgabe wesentlich. Zum Beispiel sind die Berichte über den Besuch Helmut Kohls in der DDR in seinen dienstlichen Unterlagen im Bundesarchiv überliefert.72

Bis auf wenige Ausnahmen sind die Exemplare der externen Adressaten von der ZAIG nach der Rückgabe vernichtet worden. Nur wenn Honecker mehr oder minder umfangreiche Vermerke angebracht hatte, wurden seine Ausfertigungen zum Nachweis seiner Anmerkungen und Anweisungen archiviert und damit die eigentlichen Ablageexemplare ersetzt. Dies ist bei 28 Informationen der Fall. Meist hat der Generalsekretär die Berichte mit dem typischen »EH« abgezeichnet, bei einigen auch Anstreichungen vorgenommen. Nur in zwei Fällen fügte er der Paraphe sein »Einverstanden« hinzu. Sein Plazet gab er für die Vorschläge der Staatssicherheit zur Verhinderung der Zusammenkunft friedensbewegter Basisgruppen in Meißen (Information 441/88) und für die Veröffentlichung eines Presseartikels über die Flucht von drei jungen Sängern des Dresdener Kreuzchores (Information 519/88).

Die Auswirkungen der MfS-Berichterstattung sind schwer nachzuvollziehen und konnten im Rahmen dieser Edition auch nicht systematisch untersucht werden. In insgesamt 44 Berichten, also in etwa einem Viertel der versendeten Informationen zu bestimmten Ereignissen, d. h. der »Informationen« ohne die statistischen Berichte der periodischen Subserien zu Umtausch und Grenzverkehr, befindet sich am Ende der Dokumente ein Hinweis darauf, welchen Veränderungsbedarf das MfS sah. Das MfS bezeichnete diese Empfehlungen zumeist als Vorschläge. Die übergroße Zahl dieser Empfehlungen richtete sich an die für Kirchenfragen zuständigen Stellen wie das Staatssekretariat und die Bereiche Inneres der regionalen Räte. Zahlreiche Empfehlungen betrafen auch den Verantwortungsbereich des Außenministeriums.

Das MfS machte sich z. B. dafür stark, dass den Amtsträgern der evangelischen Kirchen die »staatlichen Erwartungshaltungen« intensiver nahegebracht würden. Auch die Disziplinierung von Korrespondenten westlicher Medien und einzelner politischer Opponenten wurde mehrfach angeraten. In anderen Fällen ging es um die Veröffentlichung von Pressemitteilungen. In etlichen Fällen sind Hinweise auf eine Umsetzung der MfS-Vorschläge vorhanden. In einem Fall gibt ein MfS-Bericht selbst darüber Auskunft. So beginnt die Information zur Absage des Treffens der friedensbewegten Basisgruppen in Meißen (Information 461/88) mit der Feststellung, dass »differenzierte Maßnahmen zur vorbeugenden Verhinderung der Zusammenkunft vorgeschlagen worden« seien, »denen zentral zugestimmt wurde«. Bei der Wendung »zentral zugestimmt« bzw. »zentrale Entscheidung«, die nicht nur in den ZAIG-Berichten, sondern auch im operativen Schriftgut des MfS nachzuweisen ist, handelte es sich um die Umschreibung der Tatsache, dass Honecker eine definitive Weisung erteilt hatte.

Grundsätzlicher Art sind die Vorschläge des MfS zum Umgang mit den evangelischen Kirchen (Information 411/88), mit denen die Staatssicherheit ein offensives Vorgehen durch die Mobilisierung von »gesellschaftlichen Kräften« vertrat. Diese Idee einer Flankierung repressiver Maßnahmen durch politische Mittel wurde nachweislich realisiert, wobei allerdings nicht ganz klar ist, ob dieses Vorgehen nicht auch auf gleichgerichtete Vorstellungen aus dem Staatssekretariat für Kirchenfragen zurückgeht.

In vier Fällen vermied es die Staatssicherheit, den Begriff »Vorschlag« zu verwenden, stattdessen legte sie ihren Adressaten die »Prüfung« eines bestimmten Vorgehens nahe. Das betraf ausnahmslos Aufgabenbereiche, in denen das MfS keinerlei fachliche Zuständigkeit besaß wie z. B. den Bau von Atomkraftwerken (Information 440/88). Diese Zurückhaltung war möglicherweise auch der Autorität des Empfängers Günter Mittag geschuldet, der im Politbüro für Wirtschaftsfragen zuständig war. Eine direkte Auswirkung kann hier nicht nachgewiesen werden.

Einige wenige Aufschlüsse auf die Wirkung der MfS-Berichterstattung geben auch die Sitzungsunterlagen des Politbüros. So tauchen in den Tagesordnungen des höchsten Parteigremiums etwa die Strafprozesse gegen Oppositionelle nach der Liebknecht–Luxemburg-Demonstration im Januar 198873, unterschiedliche Probleme und Ereignisse, die das Verhältnis Staat – Kirche berühren (Kirche und Antragsteller, Treffen Honecker – Leich, Bundessynode der evangelischen Kirchen, Geplanter Besuch des Papstes, Europäische Ökumenische Begegnung)74 sowie das Treffen für kernwaffenfreie Zonen in Ostberlin im Juni 1988 auf.75

Hervorzuheben ist die Thematisierung des Vorgehens der Staatsorgane im Zusammenhang mit der Liebknecht–Luxemburg-Demonstration. Am 26. Januar hatte Mielke im Politbüro Gelegenheit zu diesem Thema Bericht zu erstatten. Seinen mündlichen Ausführungen zu den Inhaftierungen einiger Oppositioneller, v. a. von Mitgliedern der »Initiative Frieden und Menschenrechte« wie Bärbel Bohley und Ralf Hirsch, war die Information 42/88 vom 25. Januar vorausgegangen. Ein Teil der Politbüromitglieder (Honecker, Krenz, Schabowski, Herrmann) war somit schon – wenn in diesem Falle auch nur telefonisch – vorab informiert. Der Minister dürfte aber noch zusätzliche Bewertungen und Fakten vorgetragen haben. Das Protokoll vermerkte: »Die [mündliche] Information wird zustimmend zur Kenntnis genommen.«76 Das Verkünden der weiteren Verfahrensweise ließ sich Honecker aber nicht nehmen. Über den strafrechtlichen Umgang mit den Inhaftierten setzte der Generalsekretär die anderen Politbüromitglieder am 2. Februar selbst in Kenntnis und holte dafür auch die erforderliche formale Zustimmung ein.77

6. Resümee

Für die Berichterstattung der Staatssicherheit an die politische Führung gab es in den achtziger Jahren keine präzisen Festlegungen im Sinne einer Melde- und Berichtsordnung. Sie orientierte sich an den relativ groben Planvorgaben des Ministers und des Leiters der ZAIG sowie an Grundsätzen und Routinen, die sich über Jahrzehnte herausgebildet und eingespielt hatten. Häufig wurde von Mielke und Irmler im Einzelfall entschieden, welche Themen behandelt werden sollten und wie mit den einzelnen Berichtsvorlagen aus dem Auswertungsbereich der ZAIG verfahren werden sollte. Die Entscheidungen waren stark von der jeweils aktuellen Situation geprägt und berücksichtigten sowohl die Erwartungshaltungen der politischen Ebene als auch die Interessen der eigenen Institution. Die Berichte waren Ausdruck von formellen und realen Zuständigkeiten und gaben daher nicht zuletzt auch Rechenschaft über die eigene Tätigkeit.

Die Staatssicherheit präsentierte sich in ihrer Berichterstattung als Institution, die mit geheimpolizeilichen Mitteln die Bekämpfung von gegnerischen Aktivitäten und die Beseitigung von sicherheitspolitisch bedeutsamen Gefahren besorgt und die führenden Funktionäre in Partei und Staat mit den Informationen versorgt, die für entsprechende politische Entscheidungen notwendig sind.

Gemäß der Prämisse, dass die Einschätzung der politischen Gesamtlage Sache der Partei war und sich das MfS daher nicht anmaßen konnte, umfassende politische Bewertungen abzugeben, sind die Papiere zumeist einzelfallbezogen und in der Regel eher wertungsarm. Ansonsten folgen Deutungen und Bewertungen streng den politisch-ideologischen Vorgaben der SED, was eine konkrete und realitätsnahe Berichterstattung über Sachverhalte, die für die Partei unangenehm waren, allerdings nicht ausschließt. Die Adressaten erhielten zumeist ein detailliertes Bild der Ereignisse und Akteure, das sie in die Lage versetzen sollte, auf die geschilderten Problemlagen reagieren zu können. Im Jahr 1988 ging es vor allem darum, die erstarkende Opposition zu schwächen und ein einheitliches Agieren von SED-Gegnern zu verhindern, wie es sich bei der Liebknecht–Luxemburg-Demonstration vom Januar im Zusammengehen mit den Ausreisewilligen angedeutet hatte.

Eine große Rolle in der Berichterstattung des MfS spielten Ereignisse und Vorgänge bei der das internationale Ansehen der DDR im Spiel war: Kontakte von bundesdeutschen Politikern mit Vertretern von Kirchen und Opposition, demonstrative Handlungen von Oppositionellen und Ausreisewilligen, das Bekanntwerden von geheimen Daten z. B. zur Umwelt- oder Wirtschaftslage, und überhaupt alles, was sich an Kritischem in der Berichterstattung der westlichen Medien niederschlug.

In der Regel orientierte sich das MfS bei seiner Berichterstattung an seinen formellen Zuständigkeiten. Wenn sie die Zuständigkeitsbereiche anderer Institutionen berührte, blieb sie zurückhaltend, obwohl sie in manchen dieser Bereiche, etwa bei der Bekämpfung von Flucht und Ausreise, faktisch federführend war. Von diesem Prinzip wich das MfS insbesondere bei den Meldungen zu wirtschaftlichen Problemen ab, weil sie hier Abweichungen vom Sollzustand ausmachte, die die Stabilität der DDR insgesamt gefährdeten. Ein Paradebeispiel hierfür ist der umfassende Bericht zu den katastrophalen Zuständen im Gesundheitswesen, der offenbar Honecker stark alarmierte.78

In der Regel vermied es das MfS allerdings, die Probleme zu schwarz zu zeichnen. Sie wurden zwangsläufig immer als entwicklungsbedingte Unzulänglichkeiten und nicht als Systemdefizite bewertet. Alles andere hätte in den Augen der Parteiführung die politisch-ideologische Standfestigkeit der Berichterstatter infrage gestellt. Hiermit hängt auch die große Zurückhaltung des MfS im Hinblick auf die externe Verteilung von Stimmungsberichten zusammen, die schon seit mindestens Ende der sechziger Jahre bestand. 1988 wurde die Stimmungsberichterstattung, die sich in der überwiegend intern gebliebenen Reihe O (»Bevölkerungsreaktion«) niederschlägt, angesichts des rasanten Niedergangs im »Vertrauensverhältnis zwischen Partei und Volk« endgültig zu einer politisch heiklen Angelegenheit.

Mit seiner Berichterstattung konnte das MfS Entscheidungen der politischen Führung beeinflussen, zumal es die Adressaten der jeweiligen Informationen bestimmte. Am deutlichsten wird die Gestaltungsabsicht bei den Berichten, die mit konkreten Vorschlägen versehen sind. Sie betrafen vor allem innerdeutsche, kirchenpolitische und im weitesten Sinn polizeiliche Fragen und wurden – soweit nachweisbar – in der Regel umgesetzt. Einflussnahme war darüber hinaus auch durch die Einschätzung von politischen Akteuren möglich, welche das MfS allerdings zumeist sehr behutsam vornahm.

Eine weitere Möglichkeit für die Beeinflussung von politischen Entscheidungen ergab sich durch die Art der Darstellung und die einfließenden Bewertungen. Indem das MfS besonders wirkungsvolle Methoden zur Bekämpfung von oppositionellem Verhalten in der Berichterstattung hervorhob, empfahl es indirekt ein bestimmtes Vorgehen. Anschaulich geschilderte Beispiele zum differenzierten Umgang mit Ausreiseaktivisten und zum Einsatz »gesellschaftlicher Kräfte« in der Auseinandersetzung mit regimekritischen Akteuren belegen dies. Sie können als versteckter Hinweis darauf gewertet werden, dass die Staatssicherheit angesichts der offensichtlich begrenzten Wirksamkeit polizeilicher und strafrechtlicher Mittel bei der Bekämpfung von oppositionellem und widerständigem Verhalten zunehmend auf ein politisches Vorgehen setzte.

Die unterschiedliche Komplexität der Berichterstattung macht sichtbar, in welchen Bereichen die Staatssicherheit im Rahmen ihrer eigenen zentralen Zuständigkeiten informierte und wo sie lediglich eine Teilverantwortung wahrnahm. Besonders deutlich wird das bei den zahllosen und umfangreichen Berichten über vermeintliche oder tatsächliche staatsgefährdende Einflüsse und Aktivitäten. Vorgänge, die evangelischen Kirchen, das oppositionelle Lager und die aktiven Ausreisewilligen betreffen, sind mit großer Genauigkeit wiedergegeben. In einigen Fällen lieferte die ZAIG auch Einschätzungen mit einer gewissen analytischen Tiefe. In dieser Hinsicht sticht die »Information« 487/88 über die Haltung der evangelischen Kirchen zu den innenpolitischen Problemen der DDR hervor, die eine umfassende Darstellung und Bewertung enthält.

Ähnlich detailliert, aber zumeist einzelfallbezogen und ohne vergleichbaren analytischen Gehalt sind die Berichte über unterschiedliche westliche Aktivitäten und Einflüsse. Hier dominieren Vorgänge, die vom MfS unter »Polittourismus« subsumiert wurden oder mit der Arbeit westlicher Korrespondenten zu tun hatten. Eine der klassischen Kernaufgaben des MfS, die Spionageabwehr, die in der operativen Tätigkeit des MfS eine herausragende Rolle spielte, kommt – außer in den Quartalsberichten zu den Aufklärungsfahrten der westalliierten Militärmissionen – kaum vor.

Wichtige Themen die mit dem Wirken der Staatssicherheit zusammenhingen, wurden im Politbüro – ausweislich seiner Tagesordnungen – offenbar nicht verhandelt. Das höchste Parteigremium scheint in dieser Hinsicht keine ausgeprägte reale Kompetenz gehabt zu haben. Die entscheidenden Fragen scheinen vielmehr nach den wöchentlichen Politbürositzungen bilateral in den Vier-Augen-Gesprächen zwischen Honecker und Mielke besprochen worden zu sein. Es ist davon auszugehen, dass der SED-Generalsekretär hier auch Einfluss auf Inhalte, Machart und Verteilung der MfS-Berichte genommen hat – und das nicht nur in grundsätzlicher Hinsicht, sondern auch im Einzelfall und im Detail. In manchem Bericht und manchem damit verbundenen Handlungsvorschlag könnte Honeckers Position auf diese Weise schon vorab eingeflossen sein.

Wenn man die Schwerpunkte der MfS-Berichterstattung des Jahres 1988 an die politische Führung Revue passieren lässt, fällt auf, dass die Geheimpolizei ihr besonderes Augenmerk auf jene Probleme richtete, die sich ein Jahr später für die DDR als letal herausstellen sollten: das Erstarken oppositioneller Kräfte, die Zunahme regimekritischer Tendenzen in den evangelischen Kirchen, das wachsende Selbstbewusstsein der Ausreisewilligen und nicht zuletzt die zentrale Rolle der westlichen Korrespondenten bei der Herstellung von Öffentlichkeit für alle diese unerwünschten Tendenzen. Auch die desolate Lage in Bereichen der Produktion und der Versorgung sowie im Gesundheitswesen ist umfassend thematisiert. Schließlich zeigt sich der massive Einbruch in der Bevölkerungsstimmung, der sich gerade auch in systemnahen Milieus vollzog. Hier blieb die Staatssicherheit bemerkenswert defensiv und akzeptierte die bestehenden politischen Tabus, die eine wirklich ungeschminkte Lagebeurteilung behinderten. Trotz dieser »weißen Flecken« erhielten die Funktionäre in Partei und Staat, die diese Tabus kannten und entsprechend »zwischen den Zeilen lesen« konnten, durch die MfS-Berichterstattung des Jahres 1988 genug Informationen, um über die prekäre politische und gesellschaftliche Situation der DDR im Bilde zu sein.

Anhang

Adressaten der Berichte außerhalb des MfS

Name, Vorname, Funktion

Information Nr.
(auch: Nr. des O- bzw. K-Berichtes)

Anzahl

Ahrendt, Lothar

(Stellvertreter des Innenministers, SED)

200, 216 (alle Informationen als Weitergabe von Innenminister Dickel)

2

Arndt, Otto

(Minister für Verkehrswesen, SED)

68, 159, 261, 379, 553

5

Axen, Hermann

(Mitglied des SED-Politbüros, ZK-Sekretär für Außenpolitik)

41, 77, 190, 202, 203, 218, 314, 322, 332, 359, 369, 401, 441, 461, 532, 534, 547, 555, 557

19

Bellmann, Rudi

(Leiter der Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim SED-ZK – ab Dez. 1988: Peter Kraußer)

14, 24, 37, 53, 69, 70, 71, 73, 74, 78, 81, 82, 101, 102, 113, 114, 117, 118, 119, 120, 131, 134, 143, 146, 172, 189, 213, 215, 219, 232, 241, 243, 260, 264, 266, 299, 314, 316, 319, 351, 352, 411, 415, 425, 429, 438, 441, 442, 444, 446, 456, 457, 458, 461, 462, 464, 465, 475, 476, 487, 488, 490, 491, 507, 508, 518, 519, 522

68

Böhme, Hans-Joachim

(Minister für Hoch- und Fachschulwesen, SED)

188

1

Dickel, Friedrich

(Minister des Innern, SED)

10, 25, 28, 55, 116, 121, 159, 173, 175, 178, 200, 216, 231, 261, 267, 310, 311, 313, 315, 318, 321, 332, 351, 358, 457, 460, 462, 553

28

Dohlus, Horst

(Mitglied des SED-Politbüros, Sekretär des SED-ZK für Parteiorgane)

25

1

Donda, Arno

(Leiter der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, SED)

56, 230, 357, 459

4

Feist, Manfred

(Leiter Abt. Auslandsinformation beim SED-ZK)

441, 461, 529

3

Felfe, Werner

(Mitglied des SED-Politbüros, ZK-Sekretär für Landwirtschaft – ab Okt. 1988: Werner Krolikowski)

267

1

Fischer, Oskar

(Minister für Auswärtige Angelegenheiten, SED)

39, 41, 51, 65, 79, 161, 267, 268, 269, 270, 297, 309, 320, 332, 355, 359, 369, 401, 413 (als Schreiben), 441, 457, 458, 461, 462, 478, 520, 521

27

Geggel, Heinz

(Leiter der Abt. Agitation beim SED-ZK)

148, 162, 359, 390

4

Gysi, Klaus

(Staatssekretär für Kirchenfragen im Ministerrat, SED – ab Juli 1988: Kurt Löffler)

14, 24, 37, 53, 69, 70, 74, 78, 81, 82, 102, 113, 114, 118, 119, 120, 131, 134, 143, 146, 172, 189, 213, 215, 219, 232, 241, 243, 260, 264, 266, 299, 314, 316, 319, 351

36

Hager, Kurt

(Mitglied des SED-Politbüros, Sekretär des SED-ZK für Wissenschaft, Bildung und Kultur)

72, 73, 75, 80, 101, 149, 177, 188, 219, 314, 323, 411, 415, 456, 465, 487, 489, 505, 508, 519, 522, 529, 557

23

Herrmann, Joachim

(Mitglied des SED-Politbüros, Sekretär des SED-ZK für Medien)

25, 28, 39, 40, 42 (Inhalt telefonisch), 51, 65, 79, 162, 297, 310, 311, 313, 314, 315, 318, 320, 321, 332, 359, 427, 438, 443, 444, 457, 462, 465, 487, 490, 508, 521, 522, 531

33

Hoffmann, Hans-Joachim

(Minister für Kultur, SED)

177, 219

2

Honecker, Erich

(SED-Generalsekretär)

12, 24, 25, 27, 28, 39, 41, 42 (Inhalt telefonisch), 51, 54, 65, 69, 77, 78, 81, 82, 102, 113 114, 116, 118, 119, 120, 121, 132 (als Schreiben), 189, 190, 199, 202, 203, 204, 213, 218, 241, 268, 269, 270, 288, 297, 298, 309, 310, 311, 313, 314, 315, 318, 320, 321, 322, 332, 359, 390, 401, 411, 415, 425, 427, 429, 438, 441, 444, 456, 457, 458, 461, 462, 465, 475, 478, 487, 488, 490, 491, 508, 519, 522, 535, 546, 555, 557,

Berichte K 3/92, K 3/96, O/208a

84

Honecker, Margot

(Ministerin für Volksbildung, SED)

508, 522, 557

3

Jarowinsky, Werner

(Mitglied des SED-Politbüros, Sekretär des SED-ZK für Kirchenfragen sowie Handel und Versorgung)

12, 14, 24, 37, 41, 53, 54, 66, 69, 70, 71, 73, 74, 77, 81, 82, 102, 113, 114, 117, 118, 119, 120, 131, 134, 143, 146, 172, 189, 203, 204, 213, 215, 218, 219, 232, 241, 243, 260, 264, 266, 299, 314, 316, 319, 322, 350, 351, 352, 369, 411, 415, 425, 429, 438, 441, 442, 444, 446, 456, 457, 458, 461, 462, 464, 465, 475, 476, 487, 488, 490, 491, 507, 508, 518, 519, 522, 524, 529, 533, 535, 536, 546, 547, 555

85

Kessler, Heinz

(Minister für Nationale Verteidigung, SED)

133, 310, 311, 313, 315, 318, 321, 332, 438

9

KGB Berlin-Karlshorst (»AG«) (Komitee für Staatssicherheit der Sowjetunion)

28, 92, 214, 268, 269, 270, 310, 313, 314, 315, 332, 380, 474

13

Kleiber, Günther

(Mitglied des SED-Politbüros, Stellv., ab Okt. 1988 1. stellv. Vorsitzender des Ministerrates/Wirtschaft und RGW)

489, 493, 494, 496, 531

5

König, Hertha

(Abteilungsleiterin im Ministerium für Finanzen, SED)

11, 26, 38, 52, 67, 76, 91, 103, 115, 130, 144, 150, 171, 176, 187, 201, 217, 229, 242, 263, 265, 278, 287, 300, 317, 331, 341, 353 (Weitergabe an Rau), 356, 368, 378, 381, 391, 400, 402, 412, 414, 426, 428, 439, 445, 455, 463, 477, 492, 506, 517, 523, 530, 537, 556, 562

52

Krack, Erhard

(Oberbürgermeister von Ostberlin, SED)

189

1

Kraußer, Peter

(Leiter der Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim SED-ZK – bis Nov. 1988: Rudi Bellmann)

524, 529, 533, 536, 546, 555

6

Krenz, Egon

(Mitglied des Politbüros, Sekretär des SED-ZK für Sicherheit, Staat/Recht und Jugend)

12, 24, 25, 27, 28, 39, 41, 42 (Inhalt telefonisch), 51, 54, 65, 66, 69, 70, 71, 77, 78, 81, 82, 101, 102, 113, 114, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 132 (als Schreiben), 133, 134, 143, 145, 146, 147, 148, 149, 159, 161, 162, 173, 177, 178, 188, 189, 190, 199, 200, 202, 203, 204, 213, 216, 218, 232, 241, 260, 267, 288, 297, 298, 309, 310, 311, 313, 314, 315, 318, 320, 321, 322, 323, 332, 350, 351, 352, 354, 355, 359, 369, 390, 411, 415, 427, 429, 438, 441, 443, 444, 446, 456, 457, 458, 461, 462, 465, 475, 476, 478, 487, 488, 490, 494, 505, 508, 519, 521, 522, 529, 531, 532, 533, 534, 535, 546, 547, 555, 557,

Berichte K 1/186, K 1/190, K 1/191

122

Krolikowski, Herbert

(1. Stellv. des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten, SED)

65, 79, 359, 369, 441, 443, 444 (außer den Informationen 443/88 und 444/88 als Weitergabe von Außenminister Fischer)

7

Krolikowski, Werner

(Mitglied des SED-Politbüros, ab Okt. 1988: Sekretär des SED-ZK für Landwirtschaft, vorher: 1. Stellv. Vorsitzende des Ministerrates/Wirtschaft)

13 (als Schreiben), 267, 416, 440

4

Lange, Ingeburg

(Leiterin der Abt. Frauen des SED-ZK)

220

1

Lietz, Bruno

(Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, SED)

493

1

Löffler, Kurt

(Staatssekretär für Kirchenfragen im Ministerrat, SED – bis Juli 1988: Klaus Gysi)

352, 369, 411, 415, 425, 429, 438, 441, 442, 444, 446, 456, 457, 458, 461, 462, 464, 465, 475, 476, 487, 488, 490, 491, 507, 508, 518, 519, 522, 524, 533, 536, 546, 555

34

Mahlow, Bruno

(Stellv. Leiter der Abt. Internationale Beziehungen beim ZK der SED)

532, 534 (alle Informationen als Weitergabe vom Leiter derAbt.Internationale Beziehungen Sieber)

2

Mecklinger, Ludwig

(Minister für Gesundheitswesen, SED)

80, 149, 188, 323, 489, 529

6

Mittag, Günter

(Mitglied des SED-Politbüros, Sekretär des SED-ZK für Wirtschaft)

13 (als Schreiben), 71, 411, 415, 416, 440, 478, 489, 493, 494, 496, 531

12

Mitzinger, Wolfgang

(Minister für Kohle und Energie, SED)

440, 493, 531

3

Modrow, Hans

(1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden)

81, 102

2

Müller, Helmut

(2. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin)

120, 241, 309, 310, 313, 315 (alle Informationen als Weitergabe vom 1.SED-Bezirkssekretär Schabowski)

6

Nier, Kurt

(Stellv. des Außenministers, SED)

161, 309 (alle Informationen als Weitergabe von Außenminister Fischer)

2

Ragwitz, Ursula

(Leiterin der Abt. Kultur beim SED-ZK)

72, 75, 177, 219, 505

5

Rauchfuß, Wolfgang

(Stellv. Vorsitzende des MR, Minister für Materialwirtschaft, Leiter der Energiekommission beim MR, SED)

440

1

Reichelt, Hans

(Stellv. Vorsitzende des MR, Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, DBD)

267

1

Schabowski, Günter
(Mitglied des SED-Politbüros, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin)

9, 24, 28, 42 (Inhalt telefonisch), 114, 120, 145, 160, 174, 188, 189, 203, 204, 241, 260, 262, 309, 310, 311, 313, 315, 318, 320, 321, 332, 369, 429, 444, 446, 457, 458, 462, 465, 475, 488, 490, 508, 522, 531, 535, 547, 554

42

Schürer, Gerhard

(Kandidat des SED-Politbüros, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission im Ministerrat, SED)

416, 440

2

Seidel, Karl

(Leiter Abt. Gesundheitspolitik beim ZK der SED)

80, 489, 529

3

Sieber, Günter

(Leiter der Abt. Internationale Beziehungen beim ZK der SED)

532, 534,

2

Stoph, Willi

(Mitglied des SED-Politbüros, Vorsitzender des Ministerrats)

13 (als Schreiben), 188, 314, 323, 359, 411, 415, 416, 438, 440, 487, 489, 490, 493, 494, 496, 508, 522

18

Tisch, Harry

(Mitglied des SED-Politbüros, Vorsitzender des FDGB)

202, 557

2

Wange, Udo-Dieter

(Minister für bezirksgeleitete Industrie und Lebensmittelindustrie, SED)

496

1

Wyschofsky, Günther

(Minister für chemische Industrie, SED)

416, 493, 496

3