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Reaktionen auf Briefwechsel Honecker– Bischof Gienke

14. August 1989
Information Nr. 381/89 über erste Reaktionen aus kirchlichen Bereichen auf den Briefwechsel zwischen dem Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genossen Erich Honecker, und dem Bischof der Evangelischen Landeskirche Greifswald, Gienke

Internen Hinweisen zufolge hat der Briefwechsel zwischen dem Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genossen Erich Honecker,1 und dem Bischof der Evangelischen Landeskirche Greifswald, Gienke,2 sowie die Publizierung der Briefe am 17. Juli 1989 unter kirchenleitenden Kräften und Amtsträgern starke Diskussionen mit zum Teil kontroversen Standpunkten ausgelöst.3 Sie reichen von Zustimmung bis zur Ablehnung der Handlungsweise von Bischof Gienke.

Diese unterschiedlichen Positionen sind Ausdruck eines sich weiter vertiefenden innerkirchlichen Differenzierungsprozesses in den evangelischen Kirchen in der DDR.

Realistische Kräfte unter den kirchlichen Amtsträgern, vorwiegend der mittleren und unteren Ebene der evangelischen Landeskirchen in der DDR, beurteilen den Briefwechsel positiv, werten ihn als Ausdruck eines vernünftigen, normalen Staat – Kirche-Verhältnisses, betrachten ihn als Beitrag für einen fruchtbaren Dialog zwischen Staat und Kirche in der DDR und charakterisieren ihn als deutliches Zeichen des Staates, am Weg des 6. März 1978 festzuhalten.4

Eine Vielzahl kirchlicher Amtsträger aller Ebenen solidarisierte sich mit der von Bischof Gienke zum Ausdruck gebrachten Grundhaltung, brachte ihre Befürwortung in persönlichen Briefen an ihn zum Ausdruck und gab ihre Zustimmung zur Veröffentlichung ihrer Meinungsäußerungen in Presseorganen der DDR.

Von Führungskräften des »Weißenseer Arbeitskreises«5 wird die Veröffentlichung des Briefwechsels als großer kirchenpolitischer Erfolg eingeschätzt. Der Brief Gienkes zeige, dass er unbeeindruckt sei »von den Schlägen aus den eigenen Reihen« und die Position des Miteinanders Staat – Kirche beibehalten habe. Hoch anzurechnen sei Bischof Gienke seine offene Haltung gegen die unkorrekte Berichterstattung in den Kirchenzeitungen der DDR.6

Ein großer Teil der im Bezirk Erfurt wohnhaften Superintendenten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen wertet den Briefwechsel ebenfalls als ein positives Ereignis mit großer kirchenpolitischer Bedeutung. Einige Superintendenten äußerten, in früherer Zeit hätten die Bischöfe der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen ähnliche Haltungen wie Bischof Gienke eingenommen; gegenwärtig hätten sie den Eindruck, dass die jetzige Kirchenleitung der Landeskirche Thüringen über den Briefwechsel frustriert sei. Laiensynodalen der gleichen Landeskirche waren der Meinung, Bischof Gienke habe der Landeskirche in Thüringen und dem einstigen »Thüringer Weg«7 den Rang abgelaufen.8

Propst Jäger,9 Nordhausen (Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen), der seine Zustimmung zum Briefwechsel bekundete, betonte, Bischof Gienke habe offen auf bestehende Widersprüchlichkeiten in der kirchenpolitischen Entwicklung verwiesen.

Mehrfach wird auf mittlerer und unterer kirchlicher Leitungsebene die Ansicht vertreten, die Veröffentlichung des Briefwechsels und die eindeutigen Formulierungen im Brief des Vorsitzenden des Staatsrates ließen keinen Zweifel an der Fortführung des Weges vom 6. März 1978 aufkommen. Damit würden auch laut gewordene Bedenken zerstreut, dass mit der Bildung des Freidenkerverbandes in der DDR10 von dieser bewährten Linie abgegangen werde.

Demgegenüber versuchte eine Vielzahl kirchlicher Amtsträger den Briefwechsel und die Haltung von Bischof Gienke zum Anlass zu nehmen, um sich erneut gegen die Politik von Partei und Regierung der DDR in Kirchenfragen zu artikulieren und das Verhältnis Staat – Kirche zu verschärfen.11

In allen Meinungen – auch in positiv zu wertenden Zuschriften an Bischof Gienke – wurde die Hoffnung – bis hin zur Forderung – auf Fortführung der zeitweilig unterbrochenen Sachgespräche zwischen Staat und Kirche zum Ausdruck gebracht.

Verbreitet wurde die Frage nach Hintergründen der Veröffentlichung des Briefwechsels zum jetzigen Zeitpunkt gestellt. Von kirchenleitenden Kräften mehrerer Landeskirchen ist der Vorgang als ein Versuch des Staates zur »Aufspaltung« der evangelischen Kirchen in der DDR interpretiert worden.

Gleichzeitig würde der Staat damit seine Ablehnung gegen Positionen der Bischöfe Forck12 und Leich13 signalisieren, die sich in der Vergangenheit differenziert gegen gesellschaftliche Bereiche des Staates bzw. Entscheidungen staatlicher Stellen zum Teil öffentlichkeitswirksam geäußert hätten. Ausgehend von derartigen Überlegungen äußern sie starke Bedenken bezüglich der Richtigkeit des Vorgehens Bischof Gienkes bzw. lehnen sie dieses Vorgehen völlig ab.14

Die Distanzierung von seiner Haltung resultiere insbesondere aus dem »Alleingang Gienkes im Wiederholungsfalle«. Aus der kirchlicherseits an ihm geübten Kritik hinsichtlich einer Nichtabstimmung in der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR (KKL) im Zusammenhang mit der Teilnahme des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR an der Domweihe in Greifswald habe Gienke keine Schlussfolgerungen gezogen.15 Stattdessen habe er wenige Tage danach diesen Brief geschrieben. Er habe damit früher getroffene Vereinbarungen der KKL, in Grundsatzfragen gemeinschaftlich und abgestimmt vorzugehen, ignoriert und unterlaufen.

Gienke habe anmaßend Befugnisse überschritten und sich zum Wortführer von Angelegenheiten gemacht, die in die Kompetenz des Vorsitzenden der KKL bzw. der kirchenleitenden Gremien gehörten.

Heftige Vorwürfe und teilweise offenes Missfallen gegenüber Bischof Gienke habe unter vorgenannten Personenkreisen auch die Tatsache ausgelöst, dass er in seinem Brief die Berichterstattung in den Kirchenzeitungen der DDR praktisch als unkorrekt und unsachlich bewertet habe.

Internen Hinweisen zufolge hätten sich unabhängig voneinander die Bischöfe Leich (Eisenach) und Stier16 (Schwerin) über den Alleingang und die Haltung von Bischof Gienke sehr verärgert und anfänglich sogar ratlos gezeigt. Ihm – Gienke – hätte bewusst sein müssen, dass der eigentliche Partner für den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR der Vorsitzende der KKL, Bischof Leich, sei, und Leich durch diesen Vorgang »ins Abseits« gestellt werde.

Bischof Demke17 (Magdeburg) habe seine ursprüngliche Absicht, Bischof Leich den Vorschlag zu unterbreiten, ebenfalls einen persönlichen Brief an den Vorsitzenden des Staatsrates zu schreiben, um sich »dort wieder stärker ins Blickfeld zu setzen«, fallen gelassen, nachdem beide Bischöfe in einem Gespräch Übereinstimmung erzielt hätten, von Bischof Gienke eine Erklärung zu seiner »unangebrachten Handlungsweise« abzuwarten.

Bischof Leich erklärte intern gegenüber anderen Gesprächspartnern, er begrüße das für den 12. September 1989 vom Staatssekretär für Kirchenfragen, Genossen Löffler, angekündigte Sachgespräch, aber für ihn würden alle weiteren anstehenden aktuellen Fragen im Verhältnis Staat – Kirche weiterhin bestehen bleiben und als ungeklärt gelten.

In einer Sitzung des Landeskirchenrates der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen (24. Juli 1989) distanzierte sich Leich mit Unterstützung weiterer Amtsträger vom Brief Gienkes und informierte, dass er in einem an ihn gerichteten Schreiben seine Verwunderung über den Inhalt des Briefes und den Alleingang des Bischofs zum Ausdruck gebracht habe. Leich vertrat in der Sitzung des Landeskirchenrates die Meinung, dass die Kirche mit dem Staat im Gespräch bleiben müsse und führte beispielhaft an, er – Leich – habe den Staatssekretär für Kirchenfragen in einem Gespräch über die Stimmung der Bevölkerung der DDR informiert, die vergleichbar sei mit der Zeit von 1953 und 1961, u. a. auch bezogen auf das Ausmaß der Antragsteller auf ständige Ausreise in die BRD,18 mit der Bitte, dies der Regierung der DDR zu übermitteln.19 (Hinweisen zufolge hat Leich diese Probleme beim Staatssekretär für Kirchenfragen nicht angesprochen.)20 Er – Leich – habe in gleicher Angelegenheit beim Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Erfurt für Inneres vorgesprochen und diesem Beispiele für »problemhafte Erscheinungen« in Betrieben des Bezirkes bzw. zur Wirtschaftspolitik der DDR aufgezeigt.

Bischof Forck (Berlin) erklärte intern, er habe die Vorgänge um die Domeinweihung in Greifswald, soweit sie seine Person betrafen (Nichteinladung zur Begegnung des Vorsitzenden des Staatsrates mit kirchlichen Würdenträgern im Rathaus Greifswald), sowie den Briefwechsel Gienke – Honecker inzwischen verkraftet, sodass es zu keinen nachhaltigen Missklängen zwischen ihm und Gienke mehr kommen könne. Die Meinungsverschiedenheiten in kirchenleitenden Kreisen zur »Attacke« von Gienke gegen die Kirchenzeitungen in der DDR seien jedoch nicht behoben; es sei aber erforderlich, sie innerkirchlich und nicht öffentlich auszutragen.

In individuellen Gesprächen zwischen Chefredakteuren von Kirchenzeitungen der DDR wurde hervorgehoben, die Briefinhalte spiegelten nicht die Realität des Staat – Kirche-Verhältnisses wider und bedeuteten einen Schritt hinter den 6. März 1978 zurück; sie stünden im Gegensatz zu den in der KKL vertretenen Auffassungen. Es müsse damit gerechnet werden, dass vor und während der Synode des BEK massive Auseinandersetzungen dazu geführt würden.

Pfarrer Beste21 (Schwerin), Chefredakteur der »Mecklenburgischen Kirchenzeitung«, fühle sich durch die Kritik Gienkes an der Presseberichterstattung in kirchlichen Zeitungen persönlich angegriffen, warf Gienke Unaufrichtigkeit vor und betonte, der Brief zeichne ein unreales Bild, insbesondere zum Verhältnis Staat – Kirche sowie zur Lage der Bevölkerung in der DDR.

Pfarrer Thomas22 (Berlin), Chefredakteur der kirchlichen Wochenzeitung »Die Kirche«, äußerte die Vermutung, dass Bischof Gienke nicht mit einer Veröffentlichung des Briefes gerechnet habe. Auseinandersetzungen mit Gienke seien unumgänglich, da der Briefwechsel ein verzerrtes Bild über das tatsächliche Verhältnis Staat – Kirche zum Ausdruck bringe.

Ihre Positionen legten Beste und Thomas unabhängig voneinander in Bischof Gienke diffamierenden Artikeln in der »Mecklenburgischen Kirchenzeitung« vom 16. Juli 1989 (»Greifswalder Nachwehen«) und in »Die Kirche« vom 6. August 1989 (»Sackgasse«) dar.23

Die Reaktionen unter kirchlichen Amtsträgern der Evangelischen Landeskirche Greifswald und der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs auf den Briefwechsel sind als überwiegend zustimmend einzuschätzen, weisen jedoch auch auf differenzierte Haltungen hin.

Namentlich bekannte kirchliche Amtsträger, feindliche, oppositionelle Kräfte aus sogenannten kirchlichen Basisgruppen24 der genannten beiden Landeskirchen ließen offen ihre Ablehnung erkennen. In einer Sitzung des Pfarrkonvents Greifswald-Stadt distanzierten sich die Teilnehmer von den Aussagen im Brief Bischof Gienkes. Sie erklärten, Wert auf die Feststellung zu legen, dass der Bischof die Formulierungen hinsichtlich der Berichterstattung in Kirchenzeitungen in der DDR persönlich zu verantworten habe. Diesem Votum schloss sich auch die Mehrheit der Kirchenleitung der Evangelischen Landeskirche Greifswald an. (Darüber wurde umgehend in westlichen Massenmedien berichtet.)

Eine Reihe Amtsträger der Evangelischen Landeskirche Greifswald vertritt den Standpunkt, dass sich Bischof Gienke wegen des Briefinhalts (u. a. wegen der Nichtnennung bestehender Probleme und der darin enthaltenen Aussagen über die Kirchenzeitungen) auf der Herbstsynode der Evangelischen Landeskirche Greifswald bzw. der Synode des Bundes verantworten müsse.25

Streng intern wurde bekannt, dass seitens kirchlicher Amtsträger kritische Äußerungen oftmals zwar öffentlich artikuliert werden, aber bei innerkirchlichen Zusammenkünften – z. B. Gienke mit Forck – keine Rolle spielen oder abgeschwächt vorgebracht werden. In kirchenleitenden Gremien und unter kirchlichen Würdenträgern würden die kirchlichen Beziehungen »im üblichen Rahmen« verlaufen.

Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.

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