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Tagesbericht

7. Oktober 1953
Informationsdienst Nr. 1087 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

a) Industrie und Verkehr

Die Diskussionen über die neue Note der Sowjetregierung1 ergibt nach wie vor das gleiche Bild: Dort, wo die Parteiorganisationen offensiv die Diskussionen entfalten, ist das Echo der Note bei den Arbeitern positiv. Im VEB Feinmechanik Sonneberg/Suhl begrüßen die meisten Arbeiter die erneute Initiative der Sowjetregierung und verdammen die Verzögerungstaktik der Westmächte. Dort aber, wo die Dinge dem Selbstlauf und damit in hohem Maße der RIAS-Propaganda überlassen sind, ist es meist ruhig oder negative Stimmen herrschen vor. Im VEB Minimax2 in Neuruppin/Potsdam sagen selbst Genossen: »Die vielen Noten wirken schon ermüdend; denn es sind schon viel zu viele gewechselt worden, und erreicht hat man dabei nichts.«

Ein Werkstattleiter, Aktivist, von der Neptunwerft Rostock sagt: »Unsere Zeitungen sind voller Lügen. Es ist nicht wahr, dass die Westmächte Verhandlungen ablehnen und die Einheit Deutschlands sabotieren. Sie haben vorgeschlagen, eine Konferenz durchzuführen, und das wurde von der SU abgelehnt. Die gesamte Antwortnote ist undurchsichtig.«

Aus den Bezirken Gera und Karl-Marx-Stadt wird übereinstimmend berichtet, große Teile der Arbeiter seien an den Vorbereitungen und den Veranstaltungen des 7. Oktober3 wenig interessiert.

Im VEB Büromaschinenwerk Karl-Marx-Stadt nahmen an einer Festveranstaltung außerhalb der Arbeitszeit von 1 350 Belegschaftsmitgliedern nur 450 teil. Davon waren 200 Lehrlinge, die beschlossen hatten geschlossen daran teilzunehmen. Bezeichnend dafür ist folgende Meinung eines Arbeiters aus dem VEB BLEMA Zeulenroda/Gera, der sagte: »Morgen haben wir Gott sei Dank wieder einmal einen Feiertag. Da kann ich mich mal richtig ausschlafen.« Als er von einem anderen Arbeiter auf die Veranstaltungen des Tages der Republik hingewiesen wurde, meinte er: »Ohne mich. Daran habe ich kein Interesse. Die sollen mich nur in Ruhe lassen.«

Dagegen haben in mehreren Betrieben des Bezirkes Dresden Arbeiter Selbstverpflichtungen übernommen. Zwei Arbeiter aus dem Phänomenwerk Zittau erhöhten ihre Norm um 30 %. Ein anderer Arbeiter des Werkes ging von der Zweimaschinen- zur Dreimaschinenbedienung über.4 Diese positiven Momente haben ihre Ursachen in einer guten Agitationsarbeit der Parteiorganisation, durch die auch nach der Entlarvung von Provokateuren die Beitragszahlung der Gewerkschaft wieder auf 98 % stieg. Auch in der Grube Finkenherd/Frankfurt haben drei Kumpel ihre Norm um 10 % erhöht.

Die Diskussionen über die Rückführung der verurteilten Kriegsgefangenen5 werden umfangreicher. Bezeichnend ist, dass entgegen den damaligen eindeutigen Veröffentlichungen der Sowjetregierung in der Presse häufig die Meinung vertreten wird, die Sowjetregierung habe immer behauptet, in der SU seien keine deutschen Kriegsgefangenen mehr. Nun wundern sich diese RIAS-Hörer, dass die verurteilten Kriegsgefangenen zurückkommen und zweifeln an der Ehrlichkeit der sowjetischen Politik. Davon ausgehend, glauben dann viele die RIAS-Lügen, dass die SU noch Tausende Kriegsgefangene festhalte.

Im Eisenhüttenkombinat »Stalin« (auch in anderen Betrieben) äußern viele Arbeiter den Wunsch, die SU möge die Namen derer veröffentlichen, die ihre Strafe noch verbüßen müssen.

Oft wird auch die Diskussion der Arbeiter von den Erzählungen der Kriegsgefangenen selbst bestimmt. So hielt z. B. kurz vor Guben ein Transport, der auf der Fahrt nach Westdeutschland war, auf freier Strecke. Dort beschäftigte Bauarbeiter unterhielten sich mit den Rückkehrern. Diese gaben für ihre Verurteilungen belanglose Gründe an, sagten, sie wären ohne die Lebensmittelpakete aus Westdeutschland verhungert und schenkten den Arbeitern mitgebrachte Wäschestücke mit dem Bemerken: »Von Adenauer bekommen wir neue Sachen.«

Im VEB Gaselan Fürstenwalde/Frankfurt wird wiederum positiv diskutiert, weil die Arbeiter durch die vielen Sachen, die die Rückkehrer mitbrachten, beeindruckt waren und sich vor allem mit denen unterhielten, die in der DDR bleiben und in der Regel eine bessere und weniger voreingenommene Einstellung besitzen als die, die nach Westdeutschland fahren.

Ernste Mängel in der Bereitstellung von Transportraum durch die Reichsbahn werden wiederum aus den Bezirken Dresden und Cottbus signalisiert. Im Braunkohlenwerk »Glückauf« im Kreis Hoyerswerda/Cottbus lagern große Mengen Braunkohlenbriketts, die der Gefahr der Verwitterung und Selbstentzündung ausgesetzt sind, weil Waggons zum Abtransport fehlen. Ähnliche Beispiele gibt es noch mehr.

In einer Besprechung der Kreistransportsachbearbeiter im Bereich des Reichsbahnamtes Bautzen wurde festgestellt, dass eine der Ursachen dieser ernsten Mängel der häufige Wagengegenlauf ist. So wird z. B. Kohle aus der Grube Olbersdorf nach Hagenwerder und Görlitz transportiert, während die Grube bei Hagenwerder die Kohle nach Olbersdorf und Zittau liefert. Auch hierfür gibt es vielfältige Beispiele.

Der kaufmännische Leiter der Hauptverwaltung für Lok- und Wagenbau erklärte, dass der Umzug des Institutes für Lokbau6 von Wildau nach [Berlin-]Adlershof 340 000 DM gekostet habe. Wäre das Institut an seinem ursprünglichen Ort geblieben, so hätte ein Anbau für 100 000 DM genügt. Der Umzug geschah auf Anordnung des Ministers Ziller.7

b) Handel und Versorgung

Von Wirtschaftsfunktionären aus Cottbus wird zum Ausdruck gebracht, dass das Versorgungssystem einer Überarbeitung bedürfe und die Versorgung oft nur durch schematische Freigabe erfolgt. Dazu wird als Beispiel angeführt, dass die HO im Kreis Cottbus vier Fünftel ihrer Verkaufsstellen in der Stadt, während der Konsum das Verkaufsnetz fast gleichmäßig auf die Stadt- und Landbevölkerung verteilt. Bekommen jetzt beide Handelsorgane eine gleiche Menge irgendeiner Ware, so wird stets die Landbevölkerung benachteiligt, da diese Menge entsprechend der Verkaufsstellen aufgeschlüsselt werden muss. Die Landbevölkerung ist also gezwungen in der Stadt zu kaufen, wodurch unnötig Missstimmung erzeugt wird.

Aus Neubrandenburg wird gemeldet, dass im Kreis Pasewalk für die Bevölkerung keine Kartoffeln zu kaufen sind, auf Einkellerung werden aber ebenfalls noch keine Kartoffeln angeliefert.

c) Landwirtschaft

Werktätige Bauern der Gemeinde Gnevesow8/Neubrandenburg verpflichten sich, ihr Kartoffelsoll 100%ig zum 4. Jahrestag der Gründung der DDR zu erfüllen [und] weiterhin 100 Schweine und 20 000 kg Milch bis Jahresende dem freien Aufkauf zur Verfügung zu stellen.

In der LPG »21. Dezember« in St. Michaelis/Karl-Marx-Stadt gibt es laufend Schwierigkeiten in der ordnungsmäßigen Einhaltung der Arbeitszeit. Persönliche Meinungsverschiedenheiten führten zu Streitigkeiten, die sich nachteilig auf die Arbeitsmoral auswirkten. In der LPG »Karl Marx« in Langenau/Karl-Marx-Stadt wurde das feindliche Verhalten zweier Mitglieder entlarvt. Da beide eine Woche lang ihre Arbeit verweigerten, wurden sie aus der LPG ausgeschlossen. Von der MTS Kyritz/Potsdam werden in Verbindung mit der Partei und Vertretern des Kreisrates Versammlungen in den LPG durchgeführt, wodurch es bereits möglich war, die LPG Lettin, wo Auflösungserscheinungen vorhanden waren, zu festigen.

Vom Vorstand der LPG Tannenwald/Potsdam wurde ein Mitglied beauftragt für 500 DM Koppeldraht in Westberlin zu kaufen. Der Auftrag wurde ausgeführt.

Aus Potsdam wird berichtet, dass der größte Teil der Bauern, die aus der LPG ausgetreten oder ausgeschlossen wurden, versuchen, durch negative Diskussionen die LPG zu zersetzen. In verschiedenen Fällen bleiben diese Bauern absichtlich in ihrer Milchablieferung zurück, da sie angeblich das schlechteste Vieh zurückerhalten haben.

Aus den Bezirken Rostock und Potsdam werden Materialschwierigkeiten in fast allen MTS gemeldet.

In einer Bauernversammlung in Commichau/Leipzig sprach ein Vertreter der VEAB über das Ablieferungssoll. In erregten Diskussionen wurde u. a. von einem Mittelbauern geäußert: »Der Staat saugt uns bis aufs Letzte aus. Ich kann doch bloß das abgeben, was ich habe. Man müsste den ganzen Krempel hinhauen. Sollen sie uns doch die Ställe leer machen, dann stehen wir eben ohne Vieh und Getreide da.«

Ein Großbauer aus Witteritz9/Leipzig äußerte: »Man hat mir ein Schwein mit 80 kg aus dem Stall geholt. Obwohl ich es noch eine zeitlang füttern wollte, um mein Soll besser erfüllen zu können. Ich sehe in dieser Maßnahme keine Änderung im alten Kurs.«

Stimmung der übrigen Bevölkerung

In den Bezirken Rostock, Suhl, Gera und Potsdam wird gegenwärtig stark über die Entlassung ehemaliger verurteilter Kriegsgefangener gesprochen. Dafür sind nachfolgend aufgeführte Beispiele charakteristisch:

Ein Entlassener aus Langewiesen/Suhl: »In den Jahren nach 1949 habe ich mich nicht mehr als Gefangener gefühlt. Die Verpflegung war gut, wir konnten Sportveranstaltungen und dgl. besuchen. In der SU wurde soviel gebaut, dass man vieles nicht wieder erkennt.« Ein Arbeiter, dessen Sohn zurückkehrte: »Ich habe nie geglaubt, dass die Gefangenen in der SU so gut behandelt werden.«

Eine Frau aus Gera: »Warum gibt man nicht die Namen derjenigen bekannt, die noch in der SU leben, und warum lässt man nicht die Gefangenen selbst schreiben. Wenn sie bestraft wurden, ist der Zeitpunkt ihrer Entlassung bekannt und [man] kann sich danach richten.«

Ein Angestellter aus Potsdam: »Bisher hat man immer gesagt, dass es in der SU keinen Kriegsgefangenen mehr gäbe, jetzt auf einmal werden so viele entlassen.«

Ein Krankenhelfer aus Hirschfeld/Rostock: »Auf Druck der Westmächte waren die Russen gezwungen, die Gefangenen freizulassen. Der Russe kann auch nicht machen was er will.«

In einer Handwerkerversammlung in Gadebusch/Schwerin erklärte ein Handwerker, der auf Interzonenpass in Westdeutschland gewesen war: »Mir sind die Augen über die wahren Verhältnisse in Westdeutschland aufgegangen. Ich würde mit keinem Handwerker in Westdeutschland tauschen, denn dort ist der Konkurrenzkampf vorherrschend und den kleinen Handwerksbetrieben wird der Hals abgeschnitten.«

In den Kreisen Auerbach und Plauen/Karl-Marx-Stadt werden unter der Bevölkerung verschiedentlich negative Diskussionen über die Deutsch-Sowjetische Freundschaft geführt. Ursachen sind Vorfälle, die durch Angehörige der Sowjetarmee hervorgerufen wurden. So wurden z. B. am 26.9.1953 in Auerbach Straßenpassanten von zwei angetrunkenen Angehörigen der Sowjetarmee von einem Lkw aus mit Ziegelsteinen beworfen. Aufgrund solcher Vorkommnisse zahlen im Kreis Auerbach ca. 50 % der Mitglieder der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft keine Beiträge mehr.

Einwohner der Gemeinde Falkensee/Potsdam beschweren sich, dass durch die Schießübungen der Grenzpolizei die umliegenden Grundstücke gefährdet sind (Querschläger).

Organisierte Feindtätigkeit

Vereinzelte Flugblatttätigkeit in den Bezirken Cottbus, Dresden, Halle, Potsdam, Gera und in Berlin (überwiegend NTS).

In Welzow, [Kreis] Spremberg, [Bezirk] Cottbus, klebten feindliche Elemente an den Wohnungen eines Mitarbeiters der Staatssicherheit, eines Volkspolizisten, des Bürgermeisters und eines Lehrers Zettel an, die offene Morddrohungen enthielten.

Auf der Straße unweit von Prenzlau wurde die 3. Sekretärin der dortigen Kreisleitung der FDJ von zwei Banditen niedergeschlagen und beraubt.

Einschätzung der Situation

Bei guter Agitation unter den Werktätigen zeigt sich unter den Arbeitern und Bauern Zustimmung und Unterstützung für die Politik der SU und der Regierung der DDR. Dies beweisen Selbstverpflichtungen, Normenerhöhungen und Produktionserhöhungen zu Ehren des 4. Jahrestages der Deutschen Demokratischen Republik. Demgegenüber steht immer noch ein großer Teil Werktätiger abwartend beiseite. Dies kommt besonders wieder in der Interesselosigkeit vieler Arbeiter zu den Vorbereitungen und Veranstaltungen anlässlich des 7. Oktober zum Ausdruck. Die in vielen Kreisen noch ungenügende Aufklärung durch Partei und Massenorganisationen muss schnellstens verbessert werden.

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    Informationsdienst Nr. 1088 zur Beurteilung der Situation

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    [Ohne Datum]
    Analyse vom 16. bis 30. September 1953 [Nr. 2/53]