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Vorwort 1976

Vorwort 1976
Daniela Münkel
Die DDR im Blick der Stasi
Die geheimen Berichte an die SED-Führung 1953 bis 1989

Die geheimen Berichte, die die »Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe« (ZAIG) des Ministeriums für Staatssicherheit bzw. ihre Vorläufer zur Information der Partei- und Staatsführung der DDR seit dem Juniaufstand 1953 verfasst hat, sind eine zeitgeschichtliche Quelle von hohem historischen Wert. Es sind Berichte, die 36 Jahre lang in unterschiedlichen Formen und Frequenzen angefertigt wurden und den spezifischen Blick der Stasi auf und in die DDR offenbaren: Hinweise auf vermeintliches oder wirkliches oppositionelles Verhalten sind dort ebenso zu finden wie Problemlagen in Wirtschaft und Versorgung sowie Statistiken zu Devisenumtausch, Ausreise- und Fluchtfällen. Scheinbar Triviales steht hier neben den größeren und kleineren »Schwierigkeiten«, die sich bei der Etablierung und Aufrechterhaltung der SED-Herrschaft und dem Aufbau des »real existierenden Sozialismus« ergaben. Es entfaltet sich ein breitgefächertes Spektrum, eine Art Tiefenbohrung in die DDR-Gesellschaft, geprägt von der geheimdienstlichen Sicht, die vor allem darauf bedacht war, politisch abweichendes Verhalten und sicherheitsrelevante Probleme aufzudecken und zu neutralisieren. Darüber hinaus mussten die MfS-Verantwortlichen aber auch ihre besondere »Parteiergebenheit« und politisch-ideologische Festigkeit unter Beweis stellen, was ihren Blick systematisch trübte und sie daran hinderte, über politische Stimmungen und Missstände wirklich ungeschminkt zu informieren. Besonders Themen, bei denen Legitimationsprobleme des SED-Staates berührt waren, wurden fast grundsätzlich tendenziös behandelt und nicht selten auch mit Halbwahrheiten angereichert. Insofern sind diese Berichte oftmals auch als Zeugnisse einer politisch-ideologischen Selbstvergewisserung zu verstehen.

Der Wert der hier edierten Quelle ist ambivalent: In den unterschiedlichen Schwerpunkten, die die Stasi in ihrer Berichterstattung über die Jahrzehnte hinweg setzte, spiegeln sich in komprimierter Form objektive Problemlagen von Gesellschaft, Politik und Ökonomie. Gleichzeitig offenbaren sich der spezifische Tunnelblick und die ideologisch bedingten Wahrnehmungsverzerrungen der Staatssicherheit. All dies schmälert nicht den Wert der Berichte, muss aber bei ihrer Interpretation berücksichtigt werden.1

Bei den geheimen Berichten der Stasi an die SED-Führung handelt es sich nicht in erster Linie um allgemeine Stimmungs- und Lageberichte – diese sind zwar zu finden, aber selten in dichter Frequenz. Bei dem Gros der Texte handelt es sich um Meldungen von Einzelvorkommnissen und deren »Analyse«. Ein direkter Vergleich mit den vom Sicherheitsdienst der SS seit 1938 verfassten »Meldungen aus dem Reich« ist demzufolge nur bedingt möglich.2

Das Berichtswesen der DDR-Staatssicherheit an die SED-Führung unterlag zwischen 1953 und 1989 mannigfaltigen Veränderungen: Dies gilt für den Aufbau und den Charakter der Berichte genauso wie für den organisatorischen Rahmen ihrer Entstehung.3 Auch hier lässt sich wie insgesamt für das Ministerium für Staatssicherheit ein Ausbau- und Professionalisierungsprozess konstatieren.

Am Beginn der regelmäßigen Berichtsserie an die SED-Führung stand der Aufstand vom 17. Juni 1953 und die daraus resultierenden Reaktionen der Partei- und Staatsführung. Um in Zukunft zu gewährleisten, dass die Parteiführung rechtzeitig über »sicherheitsrelevante« Entwicklungen informiert werden konnte, installierte der neue Chef der Staatssicherheit, Ernst Wollweber, im August 1953 ein Informationssystem, welches hierarchisch von unten nach oben organisiert war: vom Kreis über den Bezirk bis hin zur Zentrale in Berlin. In der MfS-Zentrale und den Bezirksverwaltungen wurden Informationsgruppen gebildet, die aus einer Vielzahl von Einzelinformationen die zur »Lagebeurteilung« relevanten Sachverhalte auswählen sollten. So entstand ein »Informationsdienst zur Beurteilung der Situation« mit einem festen Gliederungsschema, der bis Ende 1954 täglich gefertigt wurde. Danach wurde die Berichtsfrequenz auf zweimal wöchentlich festgelegt und im November 1955 auf einmal alle zwei Wochen reduziert.

Im Jahr 1957 geriet die Informationstätigkeit der Stasi in den Strudel der Auseinandersetzungen zwischen Ernst Wollweber und Walter Ulbricht.4 Letzterer war insbesondere über die Stimmungsberichte erbost, die er als »Schädigung der Partei« und Instrument, welches die »Hetze des Feindes legal« verbreite, bezeichnete.5 Der »Informationsdienst« wurde zum Ende des Jahres 1957 eingestellt, das Stimmungs- und Lageberichtswesen der Staatssicherheit stark eingeschränkt. Die Schwerpunkte der Berichterstattung wurden nunmehr auf die sogenannte »Feindtätigkeit« und das Abstellen von Mängeln in der Produktion gelegt.

Zu einer Neuorganisation und Systematisierung des MfS-Berichtswesens kam es dann in den Jahren 1959/60: Die »Zentrale Informationsgruppe« (ZIG) war nun die zuständige Instanz für das gesamte Informationswesen der Staatssicherheit inklusive der HV A (Hauptverwaltung A – Aufklärung). Im Dezember 1960 erließ Erich Mielke, der seit November 1957 an der Spitze des Ministeriums für Staatssicherheit stand, den Befehl 584/60, mit dem die Informationstätigkeit des Ministeriums auf eine neue Grundlage gestellt wurde. Die »Informationsarbeit« wurde wieder als eine Kernaufgabe des MfS festgeschrieben. Hieraus resultierte auch eine quantitative personelle Expansion der ZIG. Die Berichte, die jetzt wieder Bevölkerungsstimmungen enthalten sollten, befassten sich darüber hinaus vor allem mit den Themen »Feindtätigkeit«, »Republikflucht« sowie Missständen aller Art in der DDR-Ökonomie. Im Unterschied zur Anfangszeit des Stasi-Berichtswesens kam der »Analyse« jetzt ein stärkeres Gewicht im Rahmen der »Informationstätigkeit« zu.6 Mit diesen Umstrukturierungen ging eine besonders strenge Handhabung des Geheimschutzes der Berichterstattung einher –, das heißt, die Berichte durften nur dem jeweiligen Empfänger oder seinem engsten Mitarbeiter ausgehändigt und mussten nach Kenntnisnahme zurückgegeben werden. Außerhalb der Führungshierarchie des MfS bekamen in der Regel Mitglieder des Politbüros, des Sekretariats des ZK der SED sowie des Ministerrates die Informationen zugestellt. Ein analoges Informationswesen bestand in den Bezirken und Kreisen.

Die nächste wichtige Veränderung folgte im Jahr 1965: Mit der Einrichtung eines einheitlichen Auswertungs- und Informationssystems im MfS wurde die ZIG in die »Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe« (ZAIG) umgebildet, was für die Diensteinheit einen bedeutenden Kompetenzzuwachs und längerfristig auch einen Expansionsschub zur Folge hatte. Neu war nun vor allem, dass die Bewertung und Zuordnung von Informationen einen zentralen Stellenwert erhielten und die Informationsflüsse innerhalb des Stasi-Apparates präzise geregelt wurden. Einen weiteren Einschnitt bildete die Zeit von 1969 bis 1974: Die ZAIG expandierte erneut und wurde nun endgültig zu einem »Funktionalorgan des Ministers« ausgebaut. Der Einsatz der EDV professionalisierte das Informations- und Auswertungswesen des MfS in den folgenden Jahren weiter. Im Jahr 1972 wurde das Aufgabenprofil der ZAIG dann nochmals neu konturiert: Zentral blieben die permanente Analyse der »politisch-operativen Lage« sowie die Informationstätigkeit für die Partei- und Staatsführung. Diese Aufgaben wurden im Bereich 1 der ZAIG thematisch spezialisierten Arbeitsgruppen zugeordnet, zu denen im Jahr 1981 noch eine weitere hinzukam, die sich überwiegend um die Themen Kirche, Kultur und politische Dissidenz kümmerte.7 Nun hatte sich für das Informations- und Auswertungswesen der Stasi eine Struktur herausgebildet, die bis zu ihrer Auflösung Ende 1989 Bestand haben sollte.

Was die Form der Berichte betrifft, so unterlagen auch diese deutlichen Veränderungen. Ab Juni 1956 bildeten die Einzelinformationen eine durchnummerierte Reihe mit lückenlos überlieferten Verteilern, die erkennen lassen, dass der überwiegende Teil dieser Berichte neben den internen Empfängern auch an Vertreter der politischen Führung gegangen ist. Aus dieser Berichtsreihe entwickelten sich dann Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre drei nicht scharf voneinander abzugrenzende Serien: die Serie »Informationen«, die für die politische Führung bestimmt war, sowie die Serien »K« (Informationen, ab 1969) und »O« (Reaktionen der Bevölkerung, ab 1972), in die hochrangige Berichte aufgenommen wurden. Die Reihen erschienen in unregelmäßigen Abständen mit einem Gesamtumfang von ca. 350 Berichten pro Jahr.

Die »Informationen« waren die zentrale Berichtsreihe des MfS, mit der vor allem die Mitglieder des SED-Politbüros über einzelne sicherheitspolitische Ereignisse und Vorgänge in Kenntnis gesetzt wurden. Die O-Reihe entstand möglicherweise deshalb, weil die Berichterstattung über die Bevölkerungsstimmung auch unter Erich Honecker eine heikle Angelegenheit blieb.8 Das MfS fertigte primär zur Information seiner eigenen Leiter Berichte mit einem internen Verteiler über die Reaktionen der DDR-Bevölkerung auf bestimmte Ereignisse an. Dennoch sind einige dieser Dokumente auch an Erich Honecker und andere hochrangige Vertreter der politischen Führung gegangen. Die Berichte, die nach der Prüfung durch die Verantwortlichen des MfS nicht als »Information« klassifiziert und ausgefertigt worden sind, wurden in der ZAIG-Mappe K zur Ablage gebracht. Trotzdem gingen sie in Einzelfällen ebenfalls an hohe Parteifunktionäre wie Erich Honecker oder Egon Krenz. Die übrigen Adressaten waren im Regelfall die Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit sowie andere hochrangige Leiter von MfS-Diensteinheiten.

Um bereits zum Start der Edition einen möglichst umfassenden Eindruck von der Quellengattung und deren Wert für die wissenschaftliche Forschung zu gewährleisten, erscheint zunächst aus jedem der vier Jahrzehnte des Bestehens der DDR ein Jahrgang: Dies sind die Jahre 1976, 1988, 1960 und 1953. Nach Abschluss dieser Pilotphase werden die übrigen Jahrgänge schrittweise veröffentlicht.

Die Berichtsreihen, die sich auf das DDR-Inland beziehen, werden vollständig ediert. Nicht erfasst werden die Berichte, die sich mit dem Ausland, in der Regel dem westlichen Ausland – mit einem Schwerpunkt auf der Bundesrepublik – befassen und von der HV A erstellt wurden. Die Edition wird in zwei unterschiedlichen Publikationsformen zugänglich gemacht: einer Buchversion, die im Dokumententeil eine Auswahl, ein »Best of«, des jeweiligen Gesamtjahrganges präsentiert, und einer CD-ROM, auf der der komplette Jahrgang in Form einer Datenbank hinterlegt ist und komfortable Recherchemöglichkeiten bietet.

Bei den Bänden 1976 und 1988 fungiert Jens Gieseke, der in der frühen Planungsphase das Projekt betreut hat und danach ausgeschieden ist, als Mitherausgeber der Reihe. Mein Dank gilt im ganz besonderen Maße meinen Kollegen Roger Engelmann und Frank Joestel, die an der Gesamtkonzeption der Reihe maßgeblich beteiligt waren. Für die Hilfe bei formalen und technischen Fragen sei Jörg Hallepape gedankt. Darüber hinaus danke ich neben dem Bearbeiter des Bandes 1976, Siegfried Suckut, allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen für ihre Unterstützung des Projektes.

Berlin, im August 2009

Daniela Münkel