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Tagesbericht

22. September 1953
Information Nr. 1074

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

a) Industrie und Verkehr

Im Allgemeinen zeigt sich in den Betrieben bei Diskussionen, besonders in politischen Fragen, eine abwartende Haltung. Die verschiedentlich vorhandene politische Interesselosigkeit äußert sich z. B. im KWO Kabelwerk Berlin-Oberspree so, indem zu einer politischen Lektion von der Belegschaft nur sechs Teilnehmer erschienen.

Die Einwirkung der feindlichen Propaganda findet in den Betrieben besonders in der Methode des »langsam Arbeitens« ihren Ausdruck, so z. B. im VEB Greiz/Gera, Greika,1 Werk 1. Hier äußerte bei einer Abteilungsleiterbesprechung eine Kollegin: »In der Weberei ist seit dem 17.6.1953 die Qualitätserfüllung von 81 % auf 73 % zurückgegangen.« Ein anderer Kollege äußerte dazu: »Täglich werden 29 000 Rohquadratmeter gefertigt, während das Soll bei 38 000 Rohquadratmetern liegt. Demnach liegen [wir] am Jahresende 379 000 Rohquadratmeter Wolle und 345 000 Rohquadratmeter Zellwolle zurück. Dazu kommen noch größere Mengen aus der Ausnäherei und Färberei.«

Durch das Zurückhalten von FDGB-Beiträgen versucht man verschiedene Forderungen durchzudrücken (Belieferung von Arbeitskleidung, Regelung gewisser Lohnfragen, Entlassung verhafteter Provokateure, Senkung der HO-Preise usw.). In der Lederfabrik Hirschberg/Gera weigert sich ein Teil von SED-Mitgliedern seine Beiträge zu zahlen.

Im Allgemeinen werden in den Betrieben wirtschaftliche Fragen diskutiert. Dabei steht fast überall die Forderung einer baldigen HO-Preissenkung in dem Vordergrund. So werden z. B. im VEB EKM Maschinenbau Görlitz/Dresden Diskussionen über eine bevorstehende Preissenkung geführt. Dabei äußert man: »Wir Arbeiter sind doch immer die Leidtragenden. Man wird zwar die Preise in der HO senken und dabei einen Teil der Lebensmittelmarken abschaffen, diese Waren jedoch teurer wie bisher verkaufen. Dies nennt man dann Angleichung der Preise.«

In verschiedenen Betrieben werden in der Lohnfrage Diskussionen geführt, so z. B. im EKM Apparate und Kesselbau Berlin-Pankow, wo seit drei Monaten Lohnforderungen gestellt werden. Der Staatssekretär im Ministerium für Schwermaschinenbau hat davon Kenntnis und versprochen, diese Angelegenheit dem Ministerrat zu unterbreiten und eine Lösung zu schaffen. Seitdem hat sich nichts geändert. Dadurch ist die Stimmung unter den Arbeitern schlecht. Es werden keine Versammlungen besucht, es wird langsam gearbeitet, und sie gehen Diskussionen aus dem Weg.

Im Kreisbauhof Suhl entstehen durch unterschiedliche Bezahlung (verschiedene Ortsklassen) gegenüber der Bau-Union Erfurt-Nord, die auf dem gleichen Gelände baut, negative Diskussionen. Gleichzeitig wandern verschiedene Arbeiter zur Bau-Union über und gefährden dadurch die Fertigstellung der Investbauten des Kreisbaubetriebes.

Negative Diskussionen infolge von Produktions- bzw. Materialschwierigkeiten traten nur gering auf. So treten z. B. im VEB Kaliwerk »Marx Engels« in Unterbreizbach/Suhl Mängel in der Wagenbereitstellung für die einzelnen Reviere auf, dadurch müssen die Kumpel zwei bis drei Stunden auf die Wagen warten, wodurch auch der Wettbewerb leidet.

Im VEB Sachsenwerk Radeberg/Dresden gibt es Schwierigkeiten in der Televisorenproduktion, da die benötigten Bildröhren starken Ausfällen unterliegen. In dieser Abteilung herrscht eine gedrückte Stimmung, da ca. 1 000 Beschäftigte hierdurch zuviel vorhanden sind. Man spricht von Entlassungen.

Im VEB Maxhütte, Unterwellenborn/Gera, wird im gesamten Betrieb von den Kumpels negativ zu der Verteilung von Ami-Zigaretten durch die Betriebsleitung an die Intelligenz gesprochen.

Durch gute politische Arbeit wurden in den letzten Tagen im »Karl Liebknecht«2 und »Deutschland-Schacht«3 das Tagessoll ständig mit 100 % erfüllt. Gleichfalls ist die Stimmung in der Karbidfabrik G 32 der chemischen Werke »Buna« besser geworden. Ursache ist die Erhöhung der Erschwerniszulage und die durchgeführte Lohngruppierung.

In der Großkokerei »Mathias Rakosi« Lauchhammer/Cottbus wurden drei Provokateure nach einstimmigem Beschluss der Belegschaft den Organen der Staatssicherheit übergeben. Im Kraftwerk Finkenherd/Frankfurt/Oder wurden in der Auswertung der 15. Tagung des ZK einige parteifeindliche Elemente entlarvt. Im Betrieb wurde dies durch die Parteilosen begrüßt. Diese Auflebung [sic!] der Parteiarbeit stößt auf harten Widerstand der negativen Elemente im Betrieb und Ort.

b) Handel und Versorgung

In fast allen Bezirken tritt ein verstärkter Kartoffelankauf in Erscheinung, wodurch teilweise die Kartoffelversorgung gefährdet wird, so z. B. wurde am 17.9.1953 der südliche Teil des Kreises Hildburghausen/Suhl mit 300 t Kartoffeln beliefert. Da die Kartoffeln zentnerweise an den Verbraucher abgegeben werden, waren bereits am 21.9. die 300 t ausverkauft.

Die zum Teil noch schlechte Warenstreuung auf dem Lande, die auf mangelnde Transportmittel zurückzuführen ist, gibt Anlass zu negativen Diskussionen. So gibt es z. B. in der Gemeinde Halbe/Potsdam seit ca. vier Wochen kein Gemüse, wogegen die Bauern in Waßmannsdorf/Potsdam Gemüse verschieben, da die VEAB dasselbe nicht abnimmt.

Schwierigkeiten in der Fleischversorgung treten im Bezirk Karl-Marx-Stadt und Gera in Erscheinung. Rindfleischversorgung ist in allen Bezirken mangelhaft, was sich z. T. auf die Wurstverarbeitung auswirkt.

Täglich sind in den Berichten Beispiele angeführt, wo über die Rückvergütung der Konsum-Genossenschaft negative Diskussionen geführt werden. Es wird vermutet, dass die zzt. noch vereinzelt in Erscheinung tretenden Austritte sich verstärken werden.

Ein Umsatzrückgang, besonders in HO-Textilwaren, ist in fast allen Bezirken zu verzeichnen. So wird z. B. aus Halle berichtet, dass im Kreis Quedlinburg die Geschäfte der HO-Industriewaren in den letzten Wochen eine Umsatzminderung von 20 % zu verzeichnen hatten. Markenfreier Zucker ist noch immer in allen Bezirken stark gefragt. Desgleichen wird bessere Versorgung mit Arbeitskleidung von den Arbeitern aller Berufszweige gefordert.

c) Landwirtschaft

Im Vordergrund der Diskussionen auf dem Lande steht noch immer die Sollablieferung. Die Argumente in den einzelnen Bezirken sind verschieden. So wird z. B. aus Leipzig bekannt, dass sich Einzelbauern über den Unterschied im Soll zwischen LPG und Einzelbauern beschweren.4 Bauern, die ihr Soll angeblich nicht erfüllen können, befürchten Zwangsmaßnahmen. Erfurt berichtet, dass Bauern mit der sofortigen Erfassung nicht einverstanden sind. Weiterhin wird zum Ausdruck gebracht, dass das Ablieferungssoll mit dem Viehhalteplan nicht in Einklang zu bringen ist.

Bauern von Eßleben5 und Teutleben6/Erfurt sind der Meinung, dass man jetzt die Ablieferung von Fleisch etwas einschränken soll, da sie in 3 bis 4 Wochen in der Lage wären, größere Mengen und vollwertiges Fleisch zu liefern. Aus Neubrandenburg wird berichtet, dass bei einigen Bauern die Meinung vorhanden ist, freie Spitzen7 abzuliefern, auch wenn das Soll noch nicht erfüllt ist. Im Kreis Bitterfeld/Halle wurden in Bauernversammlungen folgende Forderungen gestellt wie: Herabsetzung des Getreidesolls, Erhöhung der Futtermittelbelieferung, Erhöhung der Düngerzuweisung, die Bezahlung der bäuerlichen Produkte muss den Preisen der Gebrauchsgüter angeglichen werden.

Ebenfalls wird aus dem Bezirk Erfurt8 bekannt, dass in mehreren Ortschaften die Parteiarbeit vollkommen erlahmt ist, was z. T. in der schlechten Stimmung der Genossen und im Versammlungsbesuch seinen Ausdruck findet. So waren z. B. bei einer Versammlung der Ortsgruppe Buttelstedt von 45 Mitgliedern drei anwesend, in Großobringen ähnlich. Im Kreis Weimar ist in 35 Gemeinden von einer Arbeit der Ortsgruppen der Partei nichts festzustellen. Ähnlich verhält es sich mit den Massenorganisationen.

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Unter der Bevölkerung halten die Diskussionen über wirtschaftliche Fragen weiterhin an. Negative Diskussionen werden besonders stark durch die ungenügende Kohlenversorgung ausgelöst. So äußern sich z. B. Frauen in Bitterfeld/Halle: »Wir wollen unsere Kohlen haben, es ist ja schlechter geworden als 1948, wir haben kaum noch Kohle, um unser Essen zu kochen.«

Die wesentlich verbesserte Warenbereitstellung in den Geschäften wird allgemein begrüßt und anerkannt. In diesem Zusammenhang verweist man jedoch auf die zu hohen Preise der Waren. So wird z. B. aus Schwerin berichtet, dass das Gespräch über eine enorme Preissenkung im Oktober sehr stark verbreitet ist.

Aus Aschersleben/Halle wird gemeldet, dass am 21.9.1953 an sämtlichen HO- und Konsumgeschäften Schlangen von Menschen standen, um Einkäufe zu tätigen. Grund dafür ist das Gerücht, dass in der DDR in den nächsten Tagen eine Währungsreform durchgeführt werden soll.

Halle berichtet, dass in drei durchgeführten Mitgliederversammlungen der LDP eine gute Stimmung geherrscht habe. Handwerker und Geschäftsleute brachten dort ihre Zufriedenheit über den neuen Kurs zum Ausdruck.

Organisierte Feindtätigkeit

Gestützt auf die Anweisung des Ministeriums der Finanzen vom 27.8.19539 verbreitet der RIAS, dass alle republikflüchtigen Bauern, die in die DDR zurückkehren und ihre Höfe wieder übernehmen, alle Steuerschulden, die vor dem Verlassen des Hofes entstanden sind, nachträglich begleichen müssen.

Verstärkte Flugblatttätigkeit war in den Bezirken Schwerin, Neubrandenburg, Potsdam und Gera zu verzeichnen, weniger stark in den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Halle und Berlin. Es handelt sich vorwiegend um Flugblätter der NTS,10 KgU,11 SPD-Ostbüro12 und FDP13 mit dem schon bekannten Inhalt.

Das Messgerätewerk Quedlinburg/Halle erhielt ein Schreiben, in dem man die Forderung stellt, einen Provokateur bis zum 13.10.1953 freizulassen, Unterschrift: »SS-Gruppe«.

Stimmen aus Westberlin und Westdeutschland

In einer Versammlung der FDP in Berlin-Tegel am 17.9.1953 sagte der Referent Dr. Henn,14 Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin, die FDP stehe nicht in Opposition zur CDU, sondern ginge mit ihr. Man müsse aber Unstimmigkeiten der CDU für die FDP ausnutzen. Die CSU operiere als zweite selbstständige Partei und wolle die FDP auf den 3. Platz abschieben.

Ein ehemaliger Leutnant der faschistischen Wehrmacht, der, aus Westdeutschland kommend, die DDR um Asyl bat, berichtete, ihm sei aus Bonn ein Schreiben zugestellt worden, indem man ihn aufforderte, sich für die Europaarmee15 bereitzuhalten.

Einschätzung der Situation

Wesentliche Veränderungen in der Lage sind noch nicht eingetreten. Da das Ergebnis der 16. Tagung des ZK der SED16 in der Bevölkerung noch nicht oder zum Teil noch ungenügend bekannt ist, liegen darüber noch keine Meinungsäußerungen vor.

Große Teile der Bevölkerung erwarten immer noch in der nächsten Zeit eine HO-Preissenkung.

Besonders beachtet werden muss die vielfach schlechte Stimmung unter den Arbeitern in den Berliner Betrieben. Am Beispiel des EKM Apparate und Kesselbau Berlin-Pankow zeigt sich, wenn Versprechungen gemacht werden, Mängel zu beseitigen (unterschiedliche Bezahlungen für gleiche Leistungen), und nichts ändert sich, dass nicht nur das Vertrauen zu den Verwaltungen und zur Regierung schwindet, sondern der Gegner findet günstigen Boden für seine Wühlarbeit.

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