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Tagesbericht

28. September 1953
Information Nr. 1079

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

a) Industrie und Verkehr

Bei den Diskussionen über die 16. Tagung des ZK stehen meistens wirtschaftliche Fragen im Mittelpunkt. Stimmen, die auch die politischen Probleme beachten, sind weniger verbreitet. Sie tauchen naturgemäß dort auf, wo die Parteiorganisationen eine gute Aufklärungsarbeit leisten. So ist es z. B. im Teerverarbeitungswerk Rositz/Leipzig. Ein Arbeiter sagte: »Aus den Ausführungen des Genossen Walter Ulbricht erkennen wir, dass der neue Kurs der richtige Weg ist, um die Einheit Deutschlands wieder herzustellen und unser Volk zu Frieden und Wohlstand zu bringen. Ich werde meine ganze Kraft einsetzen, um dieses Ziel verwirklichen zu helfen.«

Im Zusammenhang mit der 16. ZK Tagung wird meist über die Aufhebung der Rationierung im Sommer 1954 diskutiert.1 In einer Parteiversammlung des August-Bebel-Werkes in Zwickau sprachen die meisten Diskussionsredner nur über die Stromversorgung. Charakteristisch dafür ist folgende Äußerung: »Die Regierung hat versprochen, dass es keine Stromsperren mehr geben soll.2 Aber fast alle Tage ist in den Abendstunden kein Strom da. Walter Ulbricht hat auch gesagt, dass im Sommer 1954 die Lebensmittelkarten abgeschafft werden. Kann man das glauben? Das sind alles nur leere Versprechungen.«

Ein Wismut-Kumpel aus Annaberg sagte: »Man hat schon viel versprochen. Wir müssen erst mal abwarten, wie sich das 1954 auswirkt. Ich lasse mich jedenfalls überraschen.« Ein anderer Wismut-Kumpel ist besorgt und meint, mit der Aufhebung der Rationierung käme auch eine Währungsreform und seine Ersparnisse verfielen damit.

Im Kunstseidenwerk Premnitz/Potsdam belebten sich die Diskussionen über das 16. Plenum erst nach einer öffentlichen Parteiversammlung. Viele Arbeiter verstehen nicht, warum eine allgemeine Preissenkung erst im Sommer 1954 erfolgen kann. Sie meinen, durch die Streichung der Reparationsverpflichtungen müsse das schon Anfang des Jahres möglich sein. Im VEB Zeiss Jena wollen deshalb einige Jugendliche aus der FDJ austreten.

Die Bauarbeiter der Bau-Union Brandenburg beurteilen diese Dinge einseitig. Sie sagen, in Kürze würden die Normen wieder erhöht werden, weil Walter Ulbricht in seiner Rede von der Notwendigkeit, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, sprach.

Wenn vielerorts Missstimmungen entstanden, weil Personen, die in Westdeutschland waren, die dortigen Verhältnisse verherrlichten, so sind die Arbeiter der Leipziger Kugellagerfabrik eines Besseren belehrt worden. Nach einem Besuch westdeutscher Arbeiter sind sie in der Mehrzahl überzeugt, dass der Arbeiter in der Regel in der DDR doch besser lebt wie in Westdeutschland.

Die Stimmung bei der Entlarvung von Provokateuren ist, bedingt durch die gute oder schlechte Überzeugungsarbeit der betrieblichen Parteiorganisationen, noch immer unterschiedlich. Im VEB Drahtwerk Finsterwalde/Cottbus wurden drei Agenten durch fast einmütigen Beschluss der Belegschaft aus dem Werk entfernt.

In der Leipziger Kugellagerfabrik wurden einige leitende Wirtschaftsfunktionäre aus der Partei ausgeschlossen. Dadurch hat sich die Parteiorganisation gefestigt, und das Vertrauensverhältnis der Parteilosen zur Partei ist besser geworden.

Bei Zeiss in Jena verteidigen viele Arbeiter die Provokateure, von denen erst kürzlich auf einer Gewerkschaftsaktivtagung einige entlarvt und entlassen wurden. Charakteristisch ist folgende Meinungsäußerung eines Gewerkschaftsgruppenorganisators: »Die Gewerkschaftsaktivtagung hatte den Charakter einer Geheimkonferenz, denn es nahmen nur ausgewählte Kollegen daran teil. Ich bin der Meinung, das geht noch eine kurze Zeit, und dann wird die Bombe wieder platzen.«

Folgendes Beispiel zeigt, wie durch ungeschickte Agitation viel verdorben werden kann. Im HF [Berlin-]Oberschöneweide referierte ein Genosse in einer Abteilungsversammlung und sagte gerade heraus: »Jeder Paketabholer3 wird als Kriegsverbrecher angesehen und als solcher behandelt.« Durch diese übertrieben scharfen Worte waren die Kollegen schockiert und diskutierten nicht mehr. Eine Kollegin sagte nach der Versammlung: »Ich werde mich schwer hüten, etwas zu sagen, damit ich eine Stunde später verhaftet bin.«

Häufig treten in Betrieben Diskussionen über Lohnfragen auf. Auf der Baustelle der Molkerei in Heldrungen/Halle legten am 26.9.1953 35 Bauarbeiter der Kreisbaubetriebe Sömmerda wegen Differenzen in der Dekadenlohnzahlung die Arbeit nieder. Die Kraftwerker des Kombinates »Otto Grotewohl« in Böhlen sind unzufrieden, weil sie künftig nach dem Energietarif entlohnt werden sollen, der niedriger als der Kohlentarif liegt, der bisher für sie gültig war. Im Werk existieren sechs verschiedene Lohntarife.

Auf dem Bahnhof Bad Schandau/Dresden kündigen Angestellte und Verladearbeiter der Güterabfertigung und suchen beim dortigen Zentralen Versorgungslager der VP um Arbeit nach, weil dort höhere Löhne gezahlt werden. Dadurch ist [sic!] der Entladebetrieb und der Wettbewerb mit der ČSR stark gefährdet. In mehreren holzverarbeitenden Privatbetrieben des Kreises Marienberg/Karl-Marx-Stadt treten Missstimmungen auf, weil FDGB-Funktionäre Lohnerhöhungen versprachen und nicht hielten.

Über den Steinkohleprozess wird im Sächsischen Steinkohlerevier allgemein positiv diskutiert. Im Karl-Liebknecht-Werk in Zwickau bemängeln die Arbeiter die ungenügende Berichterstattung der Presse über diesen Prozess.4

In Sonneberger Betrieben (Bezirk Suhl) kursiert das Gerücht, ab 1.10.1953 würden die Interzonenpässe wegfallen.

b) Handel und Versorgung

In den Bezirken Gera, Cottbus und Karl-Marx-Stadt meinen Teile der Bevölkerung, dass es bei einer so guten Ernte mehr Einkellerungskartoffeln geben müsse. Oft ist die Belieferung mit Kartoffeln mangelhaft. In Reichenbach/Karl-Marx-Stadt sind zzt. überhaupt keine Kartoffeln vorhanden. In Nossen/Potsdam5 lagern 300 t für Reichenbach. Die Reichsbahn stellt aber keine Waggons zur Verfügung.

Über örtlich mangelnde Versorgung mit Textilien, besonders auf dem Lande, wird aus den Bezirken Neubrandenburg, Cottbus, Magdeburg, Frankfurt und Dresden berichtet. Im Kreis Neuruppin ist die Kohlenversorgung mangelhaft. Mehrere kleinere Gemeinden wurden noch gar nicht beliefert.

c) Landwirtschaft

Aus den Bezirken Halle, Leipzig, Dresden, Erfurt, Frankfurt, Schwerin und Potsdam wird bekannt, dass örtliche Bauern auftreten, die ihr Getreidesoll nicht erfüllen. Zum größten Teil begründen sie es damit, sie hätten keine Futtergrundlage für ihr Vieh im Winter und müssten erst dafür sorgen. Besonders großbäuerliche Elemente verweigern die Ablieferung und versuchen, andere Bauern dahingehend zu beeinflussen.

Einige Bauern in Cosa/Halle äußerten: »Wir sind mit der Sollfestsetzung nicht zufrieden. Entweder geben wir das ganze Getreide ab und das Vieh verhungert oder die Regierung beschafft Futtermittel.«

Ein Mittelbauer der Gemeinde Groß Rogahn/Schwerin erklärte: »Liefert nicht so schnell ab. Bis Dezember ist noch eine lange Zeit. Vielleicht fällt das Soll ganz weg. Die Einheit Deutschlands muss auch bald kommen, denn so kann es nicht bleiben. Die Regierung müsste so viel Ehrgefühl besitzen und zurücktreten.«

Es zeigt sich jedoch, dass dort, wo eine gute Parteiarbeit geleistet wird, positive Auswirkungen in Erscheinung treten. So haben sich durch gute Überzeugungsarbeit des Bürgermeisters in Genshagen/Potsdam die Bauern verpflichtet, »alle Forderungen der Regierung zu erfüllen«. Ein parteiloser Bauer in diesem Ort erfüllte sein Soll bereits am 20.9.1953 100%ig.

In den Bezirken Rostock und Neubrandenburg fehlen in einigen MTS Ersatzteile und Treibstoff. In einigen LPG der Bezirke Rostock und Potsdam sind Auflösungserscheinungen festzustellen, z. B. in Lubmin/Rostock und in den Kreisen Gransee und Kyritz/Potsdam. Ursachen: Uneinigkeit untereinander, Vorsitzende sind den Aufgaben nicht gewachsen, schlechte Einstellung zur Arbeit, aber auch mangelnde Unterstützung durch die Kreisverwaltungen.

Demgegenüber zeigt sich bei einer guten Unterstützung eine Festigung der LPG. So wurden der LPG Stendell/Frankfurt, die durch einen Brand geschädigt worden war, durch die Regierung 7 000 DM zur Verfügung gestellt. Auch der Rat des Kreises und andere LPG halfen. Daraufhin verpflichtete sich die LPG, bis zum 1.10.1953 ihre Kartoffeln 100%ig zu roden und abzuliefern und bis zum 5.10.1953 die Herbstaussaat zu beenden.

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Zur Diskussion stehen noch immer die Stromsperren. Im Kreis Stollberg/Karl-Marx-Stadt wurde in einzelnen Landgemeinden seit 14 Tagen täglich drei bis sechs Stunden und abends nochmals zwei Stunden der Strom abgeschaltet, selbst am Sonntag während der Filmvorführung. Ähnlich tritt das auch in anderen Kreisen auf. In Brandenburg kritisiert die Bevölkerung, dass die Betriebe die Spitzenzeiten nicht beachten; auch die Sowjet-Armee sei im Stromverbrauch kein Vorbild. Die Bevölkerung befürchtet nach dem richtigen Anlaufen der Produktion im Stahlwerk Brandenburg noch größere Abschaltungen.

In den Bezirken Frankfurt und Suhl kursieren noch immer Gerüchte über eine unmittelbar bevorstehende Preissenkung. In verschiedenen Kreisen des Bezirkes Halle, besonders in Gräfenhainichen und Bitterfeld, macht sich eine verschärfte Werbung der CDU und LDP bemerkbar.

Ereignisse von besonderer Bedeutung

Die in den letzten Tagen aus der SU zurückgekehrten Kriegsgefangenen diskutieren zum großen Teil negativ.6 Sie geben zwar zu, dass z. B. die aus Westdeutschland geschickten Spenden immer ausgehändigt worden sind, vor einer klaren Stellungnahme zur Politik der SU weichen sie jedoch zurück. Nicht wenige sagten, sie wüssten gar nicht, warum sie verurteilt worden wären. Ein Teil der Rückkehrer meinte, in unseren Zeitungen – im Lager gab es wöchentlich Zeitungen aus der DDR – stände nur Schwindel. Einige von denen, die nach Westdeutschland weiterfahren, versuchten, andere Rückkehrer, die in der DDR bleiben wollen, zur Weiterfahrt nach Westdeutschland zu bewegen.

Feindtätigkeit

Verstärkte Flugblatttätigkeit in den Bezirken Potsdam und Karl-Marx-Stadt, vorwiegend Flugblätter der NTS. Vereinzelt in den Bezirken Schwerin, Cottbus und Halle, Flugblätter der NTS,7 des SPD-Ostbüros8 und des Gewerkschaftlichen Aktionskomitees.9

In den letzten Tagen wurde in einem Schacht der Wismut AG bei Aue wiederholt die Luft- und Wasserleitung zum Schacht abgestellt.

Einschätzung der Situation

Den Erfolgen in der Aufklärungsarbeit in den Betrieben und in der Landwirtschaft stehen immer wieder Beispiele gegenüber, wo durch fehlende Parteiarbeit oder mangelnde Aufklärung die zweifelnde, abwartende Haltung vermehrt wird und in den Betrieben sowie in der Landwirtschaft negative und feindliche Meinungen verbreitet und auch geglaubt werden. Besondere Erfolge verspricht sich der Gegner von der feindlichen Propaganda auf dem Land und besonders dort, wo wir mit unserer Aufklärungsarbeit noch schwach sind. Zum Beispiel im Bezirk Neubrandenburg zeigt sich immer wieder, dass durch den RIAS negative Stimmungen unter die Landbevölkerung getragen werden, oder im Bezirk Erfurt, wo die feindliche beeinflusste Stimmung in der Forderung nach »freier Wirtschaft« gipfelt. Im Bezirk Halle, wo bei guten Ablieferungsergebnissen die feindliche Propaganda immer wieder versucht, die Bauern zur Verzögerung der Ablieferung zu bewegen. Ähnliche Absichten zeigt der Gegner, besonders durch großbäuerliche Elemente vertreten, im Bezirk Leipzig, wo er immer offener auftritt. Die Verbesserung der Aufklärungsarbeit auf dem Lande ist deshalb eine notwendige Aufgabe.

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