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Tagesbericht

13. Oktober 1953
Informationsdienst Nr. 1092 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

a) Industrie und Verkehr

Diskussionen über die Neuwahl unseres Präsidenten Wilhelm Pieck1 halten in geringem Maße in den Betrieben weiterhin an. Änderungen in der Argumentation gegenüber den Vortagen sind nicht zu verzeichnen.

Aus den Bezirken Halle, Cottbus und Dresden werden positive Beispiele über Durchführung bzw. Vorbereitung von Wettbewerben für das IV. Quartal in den Betrieben berichtet. In der Farbenfabrik Wolfen/Halle wird z. B. ein Wettbewerb zur vorfristigen Erfüllung des Produktionsplanes im IV. Quartal von der BGL und BPO vorbereitet. Dazu erklärt der Meister der Elektrolyse, dass sich bereits 80 % der Kollegen seiner Abteilung für den Wettbewerb ausgesprochen haben. Ähnlich verhält es sich in den Werkstätten, wo bereits rege FDGB-Beiträge nachgezahlt werden.

In den Stahlwerken Riesa und Gröditz zeigt sich im Wettbewerb zur vorfristigen Erfüllung des Produktionsplanes eine gewisse Begeisterung, wobei sich die Auszahlung der Prämien für das III. Quartal positiv auswirkt.

Im Kirow-Werk (SAG) Leipzig wird voraussichtlich der Produktionsplan bis Mitte November mit 120 % übererfüllt. Negativ wirkt auf die Arbeiter, dass sich bereits jetzt ein Mangel an Aufträgen bemerkbar macht, wodurch befürchtet wird, dass im IV. Quartal nicht alle Belegschaftsangehörigen voll eingesetzt werden können. Stark verbreitet ist auch das Gerücht, dass bei Übernahme des Betriebes in deutsche Verwaltung viele Arbeiter entlassen werden.

Material- bzw. Ersatzteilschwierigkeiten, die sich teilweise auf die finanzielle Lage des Arbeiters auswirken und zur Verärgerung führen, werden aus Halle2 berichtet. So sind z. B. im Leunawerk »Walter Ulbricht«, Abteilung Waschmittelbetrieb, die Arbeiter verärgert, da nicht genügend Rohstoffe, besonders Schwefelsäure, geliefert wird [sic!], und der Betrieb nur zu 30 % ausgelastet ist. Die Arbeiter befürchten, dadurch nicht in den Genuss ihrer Prämie zu kommen.

Im VEB Nachterstedt/Halle fehlen Bremsklötze für E-Lok und Wagen. Da die ständige Unsicherheit nicht mehr zu verantworten ist und Lok sowie Wagen ständig ausfallen müssen, muss mit Stillstand des Grubenbetriebes gerechnet werden.

Im Kraftwerk des Elektrokombinats Bitterfeld/Halle wurden ein Ingenieur zum Held der Arbeit und ein Kollektiv von drei Ingenieuren aufgrund ihrer Leistungen zum Nationalpreis vorgeschlagen. Betriebsparteiorganisation, BGL und Belegschaft des Kraftwerkes sind mit der Ablehnung der Auszeichnung dieser Ingenieure nicht einverstanden.

In einer Belegschaftsversammlung der Bahnmeisterei Grimma/Leipzig wurde ein Arbeiter als Aktivist vorgeschlagen, von der BGL aber abgelehnt, da er sich ein Bettelpaket3 geholt hatte. Mehr als die Hälfte der Belegschaft ist damit nicht einverstanden, wobei zum Ausdruck gebracht wird, dass keine Regierungsverordnung besteht, wonach Personen, die sich ein Bettelpaket holen, bestraft werden.

In einem Schreiben an den Gebietsvorstand der Industriegewerkschaft Metall stellt die Belegschaft des Privatbetriebes Trumann & Co Aschersleben/Halle folgende Forderung: 1. Angleichung des Lohnes an den der VEB, 2. Gleichstellung in der Versorgung mit Berufskleidung, 3. Gleichstellung in Bezug auf Werksverpflegung. Als Termin wird der 15.10.1953 gestellt, bei Nichterfüllung tritt die Belegschaft am 16.10.1953 in einen zweistündigen Warnstreik. Unterzeichnet: Betriebsparteiorganisation und BGL. Von der BGL und Belegschaft der Privatfirma Born in Aschersleben/Halle wurde ein ähnliches Schreiben an die IG Metall gesandt, worin gefordert wird, Verhandlungen mit dem Unternehmer zwecks Regelung der Löhne zu führen. In einem Schreiben an den Gebietsvorstand der IG Holz verlangen die Arbeiter des Privatbetriebes Cramer Großbreitenbach/Suhl, die Genehmigung zum Streik, um ihre Lohnforderungen zu erzwingen.

b) Handel und Versorgung

In der Kartoffelversorgung treten in den Bezirken Potsdam, Halle, Leipzig, Suhl und Schwerin Schwierigkeiten auf. Zum Teil liegen sie in der Erfassung und Ablieferung, zum Teil im Fehlen von Transportmitteln. So wurden dem Kreis Schmalkalden/Suhl in der ersten Dekade statt 2 500 t nur 100 t Kartoffeln geliefert.

Unzufriedenheit wegen der Belieferung mit ranziger Butter tritt im Kreis Belzig/Potsdam und Hohenbocka/Cottbus verstärkt auf. In Belzig beschweren sich leitende Parteigenossen über den schlechten Zustand der Butter.

In verschiedenen Gemeinden des Bezirkes Gera wird über Wassermangel Klage geführt. So war in der letzten Woche in der Gemeinde Läwitz teilweise überhaupt kein Wasser vorhanden, sodass die Bevölkerung dies aus Wiesen und entfernten Stellen holen musste.

In Cottbus findet vom 12. bis 16.10.1953 eine Warenaustauschmesse der Bezirke Cottbus, Potsdam und Frankfurt/Oder statt. Das Ziel ist, eine bessere Warenverteilung und Versorgung der Bevölkerung zu erreichen.

c) Landwirtschaft

Diskussionen über politische Fragen werden auch weiterhin wenig geführt. Die aus dem Bezirk Suhl bekannten Diskussionen über die Wiederwahl des Genossen Wilhelm Pieck als Präsident sind in der überwiegenden Mehrzahl positiv.

Einzelne SED-Parteiorganisationen auf dem Lande im Bezirk Cottbus treten nicht besonders aktiv in den Vordergrund. So z. B. die Ortsparteiorganisation Straupitz/Cottbus, wo zu einer angesetzten Mitgliederversammlung, trotzdem alle 21 Genossen eingeladen waren, nur drei erschienen.

Unter einem Teil werktätiger und Mittelbauern des Bezirkes Neubrandenburg herrscht Unzufriedenheit, da nur diejenigen Bauern Mahlscheine für die Mühle erhalten, die ihr Soll erfüllt haben. Die Bauern bringen zum Ausdruck, dass sie ja gewillt sind, ihr Soll zu erfüllen, der Rat des Kreises »soll doch nur genügend Dreschkästen zur Verfügung stellen«.

In verschiedenen MTS der Bezirke Neubrandenburg und Rostock besteht Ersatzteilmangel. So hat z. B. die MTS Penkun/Neubrandenburg für 1 000 DM Ersatzteile bestellt, wovon sie jedoch nur für 30,00 DM Ersatzteile erhielt. Dadurch verlängert sich die Reparaturzeit, und dies wirkt sich auf den Lohn und die Arbeitsmoral wieder aus.

Arbeitskräftemangel bei der Hackfruchternte tritt verschiedentlich in den Bezirken Potsdam und Frankfurt/Oder auf. So sind z. B. bei der LPG Prenzlin4/Potsdam noch 90 ha Kartoffeln zu roden. Dies kann jedoch nicht ohne fremde Arbeitskräfte erfolgen.

In der LPG Mechow/Potsdam wurde 1½ Stunde gestreikt. Grund hierfür ist, dass ein neuer Brigadier jetzt nach Arbeitseinheiten die geleistete Arbeit berechnet, während der alte Brigadier sie nach Stunden berechnete. Ein Mitglied der LPG und Mitglied des NDPD-Kreisvorstandes forderte die Genossenschaftsbauern auf, nicht eher mit der Arbeit zu beginnen, als bis die Norm herabgesetzt wird. 14 Kollegen der MTS Köritz5/Potsdam lehnten eine Kollektivprämie von 180 DM ab, mit der Begründung, dass dies keine Prämie sei, sondern nur ein Trinkgeld.

Negative Diskussionen über die Stromabschaltungen werden in den Bezirken Neubrandenburg, Schwerin, Potsdam, Frankfurt/Oder, Cottbus, Karl-Marx-Stadt und Gera geführt. Im Bezirk Halle wird noch teilweise die schlechte Kohlenversorgung kritisiert.

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Zu politischen Fragen wird unter der übrigen Bevölkerung nicht besonders stark Stellung genommen. Wirtschaftliche Fragen stehen im Vordergrund. Die aus den Bezirken Neubrandenburg, Magdeburg und Frankfurt/Oder bekannten Stellungnahmen lassen erkennen, dass die Wiederwahl des Genossen Wilhelm Pieck im Allgemeinen begrüßt wird. So äußerte ein Parteiloser aus Joachimsthal/Frankfurt/Oder: »Es ist ein Segen, dass Wilhelm Pieck wiedergewählt wurde. Mit Walter Ulbricht hätten wir nicht so gut abgeschnitten. Der ist zu energisch. Für die Partei mag diese Energie angebracht sein, aber wir sind ja nicht alle Genossen. In der Sowjetunion ist das ungefähr das Gleiche, dort hatte Stalin als gütiger Mensch auch alle Sympathien auf seiner Seite. Ich glaube nicht, dass Malenkow das Gleiche für sich verbuchen kann.«

Negative Diskussionen über Stromabschaltungen sind aus den Bezirken Neubrandenburg, Schwerin, Frankfurt/Oder und Karl-Marx-Stadt bekannt. So äußerte ein Bewohner aus Neukahlen/Potsdam: »Warum gibt es immer noch Stromabschaltungen? Gegebene Versprechen soll man auch halten oder nichts versprechen.6 Im Westen gibt es doch auch keine Stromabschaltungen.«

Weiter wird von Teilen der Bevölkerung in den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Leipzig, Suhl und Frankfurt/Oder über eine baldige Preissenkung gesprochen. So äußerte ein Einwohner aus Steinach/Suhl: »Wie lange soll das noch so weitergehen? Für ein Pfund Wurst muss ich noch heute sechs bis acht DM bezahlen und für ein Bier eine Stunde arbeiten. Im Westen gibt es schon lange keine Marken mehr.«

Zu den höheren Kartoffelpreisen im Konsum gegenüber den der Bauern wird in Frankfurt/Oder gesagt: »Warum noch Mitglied des Konsums sein. Es ist doch teurer im Konsum als beim Einzelhändler.«

In Rostock werden vereinzelt Diskussionen über begnadigte Kriegsverbrecher7 geführt. So sagte z. B. eine Hausfrau aus Gingst: »Ich sollte auch meinen Bruder für tot erklären lassen, habe es aber nicht getan, da ich erfuhr, dass diejenigen dann, die davon noch in der SU sind, nicht entlassen würden.«

Ein zurückgekehrter begnadigter Kriegsverbrecher aus Reutershagen/Rostock sagte: »Ich bin 1949 in Kriegsgefangenschaft mit dem Tode bestraft worden. Warum weiß ich nicht. Ich war wohl bei der Nazipolizei, habe mir aber nichts zu Schulden kommen lassen. Mein Todesurteil wurde dann in 25 Jahre umgewandelt. Ich habe in der SU nicht besonders gut gelebt. Aber die Zivilbevölkerung lebt auch nicht gut. In Fürstenberg sagte uns die Bevölkerung, wir sollen nicht in der DDR bleiben, denn nur im Westen würden wir wirklich frei sein.«

Eine Interzonenreisende in Großräschen/Cottbus, die aus Westdeutschland wieder zurückkehrte, erzählte, dass sie drüben von der Stadtverwaltung Freikarten für Veranstaltungen und für städtische Verkehrsmittel im Werte von 30,00 Westmark erhalten hat.

Von Reisebüros aus den einzelnen Bezirken werden Omnibusfahrten zur Besichtigung von Sanssouci organisiert. 80 % der Teilnehmer dieser Fahrten benutzen dies dazu, um Bettelpakete in Westberlin zu holen.

Organisierte Feindtätigkeit

Verstärkte Flugblattfunde wurden aus den Bezirken Frankfurt und Gera, in kleineren Mengen aus den Bezirken Cottbus und Dresden berichtet. Es handelt sich zum überwiegenden Teil um Hetzschriften der NTS8 und KgU.9

Im Bezirk Gera wurde versucht, größere Mengen von Hetzschriften (»Sinnvoller Widerstand«) durch die Post zu versenden. Teilweise wurden diese dem Empfänger zugestellt.

Einschätzung der Situation

Die Wiederwahl des Genossen Wilhelm Pieck zum Präsidenten der DDR wird weiterhin vom größten Teil der Bevölkerung begrüßt. Bei der Entfaltung des Wettbewerbs in den Betrieben zeigt sich verschiedentlich ein guter Beginn im IV. Quartal. In vielen Betrieben und MTS besteht immer noch ein großer Mangel an Material und Ersatzteilen, wodurch die Arbeit behindert wird und vielfach die Unzufriedenheit der Arbeiter zunimmt. Das Verlangen der Arbeiter aus den Privatbetrieben nach materieller Gleichstellung mit den Arbeitern der volkseigenen Wirtschaft zeigt sich wieder im Bezirk Halle.

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