Professor Kockel, Physiker und Institutsdirektor Universität Leipzig
7. Juni 1956
Sonderinformation (5. Bericht) – Betrifft: Professor Dr. Kockel (Mitglied der SED), Direktor des Theoretisch-Physikalischen Institutes der Karl-Marx-Universität Leipzig [Information Nr. M122/56]
Am 6.6.1956 wurde durch den Genossen [Name], Assistent am Theoretisch-Physikalischen Institut, bekannt, dass Professor Kockel1 an die Parteileitung des Institutes, an den Rektor der Karl-Marx-Universität, Professor Dr. Mayer,2 sowie an das ZK der SED ein Schreiben mit einem »12-Punkte-Programm« richtete.
Der Inhalt dieses sogenannten »12-Punkte-Programms« befasst sich im Wesentlichen mit der Frage – Reisen nach Westdeutschland –. Darin wird festgestellt, dass eine Beschränkung der Reisen nach Westdeutschland einer Sabotage an den Wünschen unserer Regierung gleichzusetzen ist. Diejenigen, die die Reisesperren verfügen, werden in dem »Programm« mit dem »3. Reich« gleichgesetzt. Weiter wird für alle Bevölkerungsschichten »das Recht gefordert, sich in ganz Deutschland bewegen zu können«. Begründet wird dies damit, dass 75 % der Bevölkerung Verwandte im Westen haben und eine Beschränkung »ein Vergehen gegen die Menschlichkeit« sei. Ferner werden die Studenten in diesem »Programm« aufgefordert, den Reiseplänen nach der Ostsee und Thüringen keinen Glauben zu schenken und ihr Reiseziel für die Ferien selbst zu bestimmen und die organisierten Reisen der älteren Generation zu überlassen. Man versucht auch die Studenten in der Hinsicht negativ zu beeinflussen, dass die Reise nach Westdeutschland nicht wegen Abwerbung und Agententätigkeit beschränkt wurden, sondern nur deswegen, weil »der Westen Deutschlands gar nicht kennengelernt werden soll«.
Professor Kockel beabsichtigte am Schwarzen Brett das sogenannte »12-Punkte-Programm« zu veröffentlichen, um es allen Genossen des Institutes zur Kenntnis zu bringen, was durch den Rektor, Genossen Prof. Dr. Mayer, untersagt wurde. Im Institut selbst wurden noch keine Diskussionen in dieser Hinsicht bekannt. Zu bemerken ist jedoch, dass die zentrale Parteileitung – der 1. Sekretär, Genosse Heinke,3 – den Ernst eines solchen Schreibens nicht erfasste, und obwohl dieses Schreiben sich schon längere Zeit in seinem Besitz befand, die zentrale Parteileitung noch nicht grundsätzlich dazu Stellung nahm.
Am 7.6.1956 wurde der Genosse Paul Fröhlich4 davon informiert.
Anlage zur Information Nr. M122/56
Abschrift – Zwölf Thesen wider die, so die Bevölkerung unseres Landes in zwei getrennte Teile spalten wollen
- 1.)
Es sind wieder Sektierer am Werk, die für Teile unserer Bevölkerung praktische oder moralische Sperren für Reisen nach dem Westen unseres Landes einrichten wollen.
- 2.)
Solche Bestrebungen sind Sabotage an den Wünschen unserer Regierung, über Kulturtage, Deutsche Begegnungen, Kongresse der verschiedensten Art, den Sport und von Regierung zu Regierung zum Gespräch mit Westdeutschland zu kommen, weil aus diesen Sperren sofort auf Unehrlichkeit der Bemühungen um solche Gespräche geschlossen werden kann.
- 3.)
Die Reisesperrer müssen sich im Klaren darüber sein, dass sie mit dem Bejahen und Verstärken der deutschen Binnengrenze eine posthume Fehl- und Missgeburt des 3. Reiches unterstützen.
- 4.)
Welche Haltung man gegenüber einer Binnengrenze haben muss, haben die Franzosen von 1940 bis 1944 gezeigt.5 Es fiel ihnen nicht – der KPF schon gar nicht – ein, Reisen nach der anderen Seite zu erschweren, weil auf dieser anderen Seite die Boches6 saßen. Von den Franzosen kann man lernen, was vaterländische Haltung gegenüber einer Binnengrenze heißt.
- 5.)
Es ist nicht wahr, dass die Reisen in alle Teile Deutschlands ein besonderer Tick der Studenten sind. Vor unseren Passstellen und beim Absuchen Westdeutschlands nach Turf-Rauchern7 findet man einen Querschnitt durch die gesamte Bevölkerung.
- 6.)
Auch in der Weimarer Zeit reisten Studenten und Schüler, junge Arbeiter und Lehrlinge in gleicher Weise; nur lebten die einen u. U. von 1,00 Mark Alu am Tage (es ging; ich hab’s mit 1,25 probiert), die anderen vielleicht mit mehr Geld.
- 7.)
Deshalb ist es abwegig, Reiseseperren damit zu begründen, dass die Studenten vom Geld der Arbeiterschaft studieren. Alle Bevölkerungsschichten müssen eben in gleicher Weise das Recht haben, sich in ganz Deutschland zu bewegen.
- 8.)
75 % der Bevölkerung hat Verwandte auf beiden Seiten. Sperren sind also auch ein Vergehen gegen die Menschlichkeit.
- 9.)
Glaubt denen nicht, die euch auffordern, mit einem Reiseplan – 1956, 58, 60, 62, 64 … in inf[eriores] festes Quartier a. d. Ostsee; 1957, 59, 61, 63, 65 … in inf[eriores] festes Quartier in Thüringen – zufrieden zu sein. Nur Greise (in kurzen oder langen Hosen) bringen das fertig. Jugend muss sich mit Karte und Fahrplan selbst die Reisepläne suchen und die wohlvorbereiteten, gegängelten und organisierten Reisen der Reisebüros und Organisationen den Älteren überlassen.
- 10.)
Die Reisesperrer begründen ihre sektiererischen Absichten mit Agententätigkeit und Abwerbung. Diese Begründung ist in allen Fällen (und seit Jahren) unehrlich. Die wahre, nie eingestandene Begründung ist: »Der Westen Deutschlands soll gar nicht kennengelernt werden!« Kann mir jemand sagen, warum man ein kapitalistisches Land nicht als abschreckendes Beispiel erleben soll?
- 11.)
Bei Marx findet man keine Stelle, die besagt, dass sozialistische Länder sich mit einer Sperre aus Draht und Formularen umgeben müssen. Es steht auch nicht bei Marx, dass solche Sperren sogar zwischen sozialistischen Ländern existieren müssen, oder gar – wofür es auch ein Beispiel gibt – dass es leichter ist, von einem kapitalistischen in ein sozialistisches Land als von einem anderen sozialistischen Land in dieses sozialistische Land zu reisen.
- 12.)
Auch zu 11.) ist die Agentenbegründung falsch und verlogen. Die Sperren sind ein Ausfluss der viel zu weitgehenden, ständigen, misstrauischen Gängelungs- und Beobachtungssucht der Administrative, die es schrecklich findet, wenn sie nicht auch in den Urlaubsmonaten von Nr. 18 bis Nr. N. der Bevölkerung genau weiß, was diese Nummer isst, trinkt, hört, liest, spricht, sieht und tut.