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Republikflucht im Oktober 1956

6. Dezember 1956
Information Nr. 372/56 – Betrifft: Republikfluchten im Monat Oktober 1956

I. Zahlenübersicht

[Gruppe]

August [1956]

September [1956]

Oktober [1956]

Männer

10 301

12 744

14 340

Frauen

11 602

14 322

14 506

Kinder

4 757

5 760

4 902

Gesamt

26 660

32 826

33 748

Zahlen westlicher Registrierstellen

27 522

25 647

25 985

Soziale Aufgliederung der wichtigsten Gruppen:

[Gruppe]

August [1956]

September [1956]

Oktober [1956]

Spezialarbeiter

709

891

1 107

Bergarbeiter

181

263

339

Arbeiter

8 645

11 281

12 606

Angestellte

3 651

4 288

4 731

Bauern (gesamt)

400

307

354

Wissenschaftler

6

3

3

Ingenieure

126

141

130

Techniker

25

18

41

Ärzte

37

44

52

Lehrer (gesamt)

169

249

153

Studenten (gesamt)

91

120

163

II. Republikflucht im Oktober 1956 und Westpropaganda, die zur Republikflucht beiträgt.

Nach den statistischen Unterlagen der HVDVP sind die Republikfluchten von 32 826 im September auf 33 748 im Oktober angestiegen. Die Zahlen westlicher Registrierstellen sind von 25 647 im September auf 25 985 angewachsen. Das sind 338 mehr als im Vormonat.

Von den in der Tabelle angeführten 354 Bauern sind 139 LPG-Mitglieder und 115 Kleinbauern. Von den 153 republikflüchtigen Lehrern sind allein 98 Lehrer von Grundschulen. Das ständige Ansteigen der Republikflucht von Oberschülern und Studenten ist ebenfalls zu beachten. Schwerpunkte liegen bei Studenten an Universitäten, die im August 67, im September 89 und im Oktober 99 Republikfluchten zählten.

In der letzten Zeit wurden einige Fälle bekannt, wo Personen aufgrund der Ereignisse in Ungarn republikflüchtig wurden.1 Die Mehrzahl der bekannt gewordenen Gründe liegen in schlechten familiären und persönlichen Verhältnissen, in Fragen der Entlohnung, Unzufriedenheit im beruflichen und privaten Leben und in schlechten Wohnverhältnissen – all diesen Misshelligkeiten hoffen die Republikflüchtigen zu entgehen. – Aber auch einige Maßnahmen westlicher Stellen, wie z. B. die Zahlung eines »Taschengeldes« an Besucher aus der DDR, Ausgabe von Freifahrtscheinen für öffentliche Verkehrsmittel und Gutscheinen für Rückfahrkarten sowie Propagierung der »guten Lebensverhältnisse« in Westdeutschland durch Westpresse- und Rundfunk tragen zur Erweckung und Förderung von Illusionen über Westdeutschland bei.

Der RIAS berichtet am 17. November in seiner Sendung »Über gesamtdeutsche Fragen«: »Aufgrund eines sehr einfach gehaltenen Antrages wird ein Gutschein für die Bundesbahn ausgegeben, der zehn Tage gültig ist. Um aber dem leidigen Zustand abzuhelfen, dass der Besucher aus der Zone über gar kein Westgeld verfügt, hat die Bundesregierung zusätzlich für jeden Besucher aus der Zone den Betrag von 10,00 DM als eine Art Taschengeld für kleinere Ausgaben zur Verfügung gestellt …«

Die Westberliner Zeitung »Der Tag« weist in einer Notiz vom 16.11.1956 darauf hin, »dass für die rund 600 000 Beschäftigten der Textilindustrie in Westdeutschland ab 1. April 1957 die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich auf 45 Stunden wöchentlich gesenkt werden soll«.2 In der gleichen Zeitung heißt es weiter, »dass ab 1. April 1957 die Dienstzeit für die Bundesbeamten bei gleichzeitiger Erhöhung der Gehälter auf 45 Wochenstunden verkürzt werden soll«.3

In einem Flugblatt der »Beratungsstelle für die technische Intelligenz beim UfJ«4 heißt es: »… viele, die den Weg in die Bundesrepublik schon gegangen sind, haben gut bezahlte Stellungen in der Maschinenbauindustrie, in den chemischen Werken, im Bergbau und in der Bauwirtschaft [und] ein auskömmliches Leben gefunden … Wer sich aus persönlichen und beruflichen Gründen zur Flucht entschließt, vermeide es, sich und seine Freunde zu gefährden … Die UfJ-Beratungsstelle für die technische Intelligenz – weist den Flüchtlingen den sichersten Weg und hilft ihnen.«

Der RIAS berichtete am 26.11.1956 in seiner Sendung »Werktag für die Zone«,5 dass »die monatlichen Gesamteinnahmen eines Arbeiterhaushaltes mit einem Verdienst von 285 DM und drei Familienangehörigen im Jahre 1950 auf 574 DM im Juni 1956 angestiegen sind«. Weiter schildert er auf die verlockendste Art und Weise »was sich ein Arbeitnehmerhaushalt für dieses monatliche Einkommen anschaffen bzw. an Nahrungs- und Genussmitteln kaufen kann«. Nach den Darlegungen des RIAS hat im Mai 1956 der Durchschnittsstundenlohn aller männlichen »ungelernten« Arbeiter in allen Wirtschaftszweigen 2,15 DM und der Wochenlohn 106 DM betragen.

Die Methode der Zusendung von Briefen, die mit einer Abwerbung oder Beeinflussung zur Republikflucht im Zusammenhang stehen, ging in letzter Zeit stark zurück. Im Oktober wurden insgesamt nur zwei solcher Briefe festgestellt.

III. Gründe und Ursachen für die Republikflucht

a) Republikflucht aus familiären und persönlichen Gründen und durch Beeinflussung

Vielfach werden Familienstreitigkeiten, moralische Verfehlungen sowie Beeinflussung durch Verwandte zur Familienzusammenführung und familiäre und persönliche Ereignisse (wie Verlobung, Eheschließung, Todesfall, Erbschaft usw.) zum Anlass zur Republikflucht, ohne dass dabei in jedem Falle eine negative Haltung der betreffenden Personen gegen die DDR eine Rolle spielt.

Der Schrankenwärter [Name 1] aus Neupampow, [Kreis] Schwerin[-Land], lebte von seiner Frau getrennt und führte mit einer anderen Frau eine Kameradschaftsehe. Bei einer Auseinandersetzung wurde er aus seiner Wohnung verwiesen und verließ die DDR. Der Rangierschaffner [Name 2] aus Schwerin war 13 Jahre jünger als seine Ehefrau. Da es häufig zu Streitigkeiten und Eifersuchtsszenen kam, wurde er republikflüchtig.

Aus Templin, Potsdam,6 wurde die Ärztin Dr. [Vorname Name 3] republikflüchtig. Dem Krankenhaus, in dem sie beschäftigt war, teilte sie telegraphisch mit, dass sie sich in Hannover mit ihrem Freund verloben will. Die Ehefrau eines LPG-Mitgliedes aus Boblitz,7 [Kreis] Bautzen, [Bezirk] Dresden, hatte in Westdeutschland ein Haus geerbt und beeinflusste ihren Mann zur Republikflucht. Außerdem zeigte der Ehemann in der LPG eine schlechte Einstellung zur Arbeit, wodurch es mehrmals zu Meinungsverschiedenheiten kam, was mit zur Republikflucht beitrug. Der [Name 4, Vorname] aus dem VEB Optima-Erfurt wurde republikflüchtig, nachdem seine Mutter aus Westdeutschland zu Besuch bei ihm war. Nach Angaben seiner Braut wurde er von seiner Mutter zum Verlassen der DDR überredet, um sich mit seinem Stiefvater auszusöhnen.

b) Republikflucht durch Verärgerung im beruflichen Leben

Eine weitere Ursache zur Republikflucht sind Verärgerungen im beruflichen Leben, die durch falsche Behandlung und Missstände aller Art hervorgerufen werden.

Ende Oktober wurde der Betriebsarzt des VEB Karl-Liebknecht-Werkes Magdeburg, Dr. [Name 5], republikflüchtig. In einem Schreiben gab er an, dass er mit der Handlungsweise der SVK nicht einverstanden ist, die ihm wegen Überschreitung seines Solls an der Rezeptierung in seiner Privatpraxis 990 DM von seinen Einnahmen strich. [Name 5] hatte seine Praxis in Magdeburg-Südost, wo es nur drei praktizierende Ärzte gab, von denen [Name 5] den größten Zustrom hatte.

Der Landarzt Dr. [Name 6] aus Hessen, [Kreis] Wernigerode8, [Bezirk] Magdeburg, war seit 30 Jahren zur Zufriedenheit aller in der Gemeinde tätig. Vom Rat des Bezirkes wurde in Hessen, [Kreis] Wernigerode9, ein Landambulatorium errichtet und ein neuer Arzt eingesetzt. Dr. [Name 6] wurde republikflüchtig, weil er sich dadurch zurückgesetzt fühlte. Er ist bereit zurückzukommen, wenn er im Landambulatorium eingesetzt wird.

Der Vermessungsingenieur [Name 7] wohnte in Pößneck, [Bezirk] Gera, und war als Leiter des Katasteramtes in Saalfeld tätig. Da er Tbc-leidend war und erst kürzlich aus einer Heilstätte entlassen wurde, bemühte er sich um Versetzung nach Pößneck, wo seine Familie wohnte, bzw. um eine Wohnung in Saalfeld. Stattdessen wurde er zum Vermessungsdienst Erfurt-Zweigstelle Gotha versetzt, worauf er republikflüchtig wurde.10

Der stellvertretende Dienststellenleiter der SVK in Johanngeorgenstadt, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, sollte versetzt werden und erhob dagegen Einspruch. Der Dienststellenleiter entgegnete ihm darauf, dass dies zwecklos sei, er wäre kein SED-Mitglied und außerdem habe man sich nach seinem früheren Dienstgrad erkundigt (W.11 war Feldwebel). Als sich W. hierüber telefonisch bei der SVK-Hauptverwaltung Wismut beschweren wollte, wurde das privat angemeldete Gespräch vom Dienststellenleiter Garau, bei der Zentrale abbestellt. W. hat die DDR daraufhin verlassen, ist aber bereit, wieder zurückzukommen.

Als Einzelbeispiel ist die Republikflucht des Diplom-Bergbau-Ingenieurs [Name 8] durch Verletzung der demokratischen Gesetzlichkeit zu nennen. Durch Vernachlässigung der Aufsichtspflicht des [Name 8] wurde Anfang des Jahres 1956 im Tagebau Golpa,12 [Kreis] Gräfenhainichen, außer großem Sachschaden ein Unglücksfall mit tödlichem Ausgang verursacht. [Name 8] wurde deshalb von der Abteilung K13 bis Mitte Mai 1956 (115 Tage) in Haft genommen, ohne dass ein Prozess gegen ihn eröffnet wurde. Nach seiner Entlassung forderte er seine Rehabilitierung, der nicht stattgegeben wurde. [Name 8] war zuletzt im VEB Regis, [Kreis] Borna, beschäftigt.

c) Republikflucht durch Wohnraumschwierigkeiten

Ein Problem, was sich schwerwiegend auf die Republikflucht auswirkt, ist der Mangel an Wohnraum in allen Bezirken der DDR. Eine große Anzahl von Menschen wohnen noch in Räumen, die schon längere Zeit baupolizeilich gesperrt sind, aber aus Mangel an Wohnraum noch nicht geräumt werden konnten. Hinzu kommt auch eine große Anzahl reparaturbedürftiger Wohnungen, für deren Instandsetzung keine Mittel und kein Material zur Verfügung stehen.

Z. B. sind in Stralsund 265 Wohnungen baupolizeilich gesperrt. Davon konnten bisher nur 58 Wohnungen geräumt und die Mieter anderweitig untergebracht werden. Bei weiteren 38 Wohnungen besteht Einsturzgefahr und somit Lebensgefahr für die Einwohner. Darüber hinaus wurden noch 700 Schwammwohnungen festgestellt, die aus Wohnraummangel nicht geräumt werden können.

Ein Einwohner aus Luga, [Kreis] Bautzen, [Bezirk] Dresden, stellte mehrmals Antrag auf Zuweisung von Baumaterialien, die abgelehnt wurden. Sein Haus war stark reparaturbedürftig und die Mieter forderten schnellste Instandsetzung, da es in die Wohnungen regnete. Da er weder Material noch sonstige Unterstützung erhielt, wurde er republikflüchtig. Eine Frau aus Taubenheim,14 [Kreis] Bautzen, [Bezirk] Dresden, war 1954 aus Westdeutschland zugezogen. Sie hatte mehrmals beim Rat der Gemeinde Antrag auf eine andere Wohnung gestellt, da sie ein krankes Kind hatte. Ihre bisherige Wohnung war nass, wodurch sich die Krankheit des Kindes verschlimmerte. Da sie keine andere Wohnung bekam, ging sie nach Westdeutschland zurück.

Der Maschinenbau-Ingenieur [Name 9] aus dem VEB Stahlbau Gispersleben wohnte seit drei Jahren mit vier Personen in einem Zimmer mit Küche. Das Wohnungsamt und der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Erfurt-Süd – Genosse Thom – wiesen den [Name 9] wiederholt auf die Aussichtslosigkeit seiner Angelegenheit hin, sodass er aus diesem Grunde republikflüchtig wurde. Der Arbeiter [Name 10] aus dem VEB Optima Erfurt bemühte sich seit vier Jahren für seine 4-köpfige Familie bessere Wohnverhältnisse zu bekommen. Dem Wohnungsamt machte er deshalb auch sechs Wohnungen namhaft, von denen er aber keine erhielt. Da die vom Oberbürgermeister versprochene Hilfe ausblieb, wurde er republikflüchtig.

Der Assistent [Name 11] an der schiffsbautechnischen Fakultät der Universität Rostock und der Diplom-Ingenieur [Name 12] ebenfalls Universität Rostock, wurden republikflüchtig, da ihnen schon wiederholt Wohnungen versprochen wurden, ohne dass sie eine erhielten. Der Professor des Instituts – Dr. Ing. Geertz15 – schilderte [Name 11] als eine sehr gute Fachkraft, der in seiner guten fachlichen Arbeit eine gesellschaftliche Arbeit sah. Er vertrat die Meinung, dass er vom Staat Hilfe in persönlichen Dingen erwarten kann, wenn er ihm sein Können zur Verfügung stellt. [Name 11] arbeitete seit 1955 an der Universität und lebte seit 1952 von seiner Familie getrennt. Prof. Geertz befürchtet, dass noch mehrere Wissenschaftler die DDR verlassen, wenn keine Änderung im Wohnungswesen eintritt.

Die Krankenschwester [Name 13] von der medizinischen Universitätsklinik Greifswald, [Bezirk] Rostock, verließ die DDR. Aus Westdeutschland teilte sie ihrer Oberschwester Folgendes mit: »Entschuldigen Sie bitte mein Fortbleiben. Es ist mir sehr schwer gefallen, dass ich von Greifswald gehen musste. Leider war es nicht möglich, mir ein menschenwürdiges Zimmer nachzuweisen. Nun ist es zu einer anderen Lösung gekommen …«

Der Kraftwerktechnikingenieur [Vorname Name 14] vom VEB Energieversorgung Magdeburg wurde republikflüchtig, da ihm von der Abteilung Wohnraumlenkung Magdeburg die Wohnung beschlagnahmt wurde. Ihm wurde dafür eine Altbauwohnung am Stadtrand zugewiesen mit Eingang durch die Küche und Toilette auf den Hof, womit er nicht einverstanden war. [Name 14] war Spezialist auf dem Gebiet des Kraftwerkbaus und sollte die Projektierung des Heizkraftwerkes Magdeburg unterstützen. Durch seine Republikflucht entstand bei der Projektierung ein Zeitverlust von sechs Monaten.

In Liebenwerda/Elsterwerda16 lief ein Antrag auf Wohnung seit drei Jahren. Auf die Beschwerde des Antragstellers sagte ihm der Angestellte des Wohnungsamtes – SED – »Auch eine Beschwerde in Berlin wird nichts nützen, denn in Berlin regiert Pieck und in Elsterwerda ich!« Daraufhin verließ der Bürger die DDR.

d) Republikflucht durch abgelehntes Studium

Einer Anzahl von Jugendlichen ist es nicht möglich, in der DDR einen Studienplatz zu erhalten, obwohl sie nach ihrer Auffassung die Voraussetzung dazu haben. Diese Jugendlichen verlassen die DDR, um in Westberlin und Westdeutschland ihr Studium aufzunehmen. Am 15.6.1956 betrug die Zahl derer, die aus der DDR an den zwei Westberliner Universitäten studieren, 4 064 Personen beiderlei Geschlechts.

Ein Jugendlicher meldete sich beim VPP Halle schriftlich ab und teilte aus Westberlin mit: »Da es mir in Halle nach mehreren Bemühungen nicht gelungen ist, einen Studienplatz zu erhalten, habe ich mich entschlossen, hier mein Studium zu beginnen …« Ein Jugendlicher aus Beeskow/Niederlausitz teilte aus Westberlin mit: »Ich bin nach Westberlin verzogen, um hier mein Studium aufzunehmen. Am 9.7.1956 wurde meine Bewerbung für die Technische Hochschule Dresden unbegründet abgelehnt …« Eine Jugendliche schrieb an das VPKA Bautzen, [Bezirk] Dresden: »… Da ich in der DDR keine Möglichkeit habe, den Beruf zu erlernen, für den ich Interesse und Begabung zeige, musste ich leider die Republik verlassen. Hier kann ich die entsprechende Ausbildung bekommen. Nach Beendigung meines Studiums habe ich die Absicht, in die DDR zurückzukommen …«

Ein [Vorname Name 15] schrieb aus Westberlin an das VPKA Dresden A I: »… Da ich nicht die Möglichkeit hatte, in der DDR zu studieren, halte ich mich zzt. in Westberlin und Westdeutschland auf, um meine Ausbildung fortzusetzen. Ich versichere, dass ich gegen sie weder Hetze noch Verleumdung getrieben habe, zzt. treibe oder treiben werde …« Der Jugendliche [Vorname Name 16] aus Langenrinne bei Freiberg/Sachsen verließ die DDR und schrieb aus Westberlin: »… Mein Antrag zum Studium wurde von der ABF Dresden abgelehnt, obwohl meine Leistungen überdurchschnittlich sind. Da mir die gestellte Wartefrist von einem Jahr für mein späteres Medizinstudium zu lange ist, wählte ich aus eigenem Entschluss den Weg in die Bundesrepublik …« Der Chemiefachwerker [Name 17] – FDJ – aus dem VEB ECW Eilenburg, [Bezirk] Leipzig, ist der Sohn eines selbstständigen Handwerkers und wollte sich zwei Jahre zur Nationalen Volksarmee verpflichten. Da er kein Stipendium zu seinem Studium erhalten sollte, setzte er sich nach dem Westen ab.

e) Republikflucht durch Unzufriedenheit über Entlohnung und wirtschaftliche Schwierigkeiten

In Industrie und Landwirtschaft herrscht unter einer Anzahl von Arbeitern in den niederen Lohngruppen Unzufriedenheit über die Bezahlung. Dies trifft auch für Facharbeiter zu, die infolge Materialschwierigkeiten mit minder bezahlten Arbeiten beschäftigt werden und dadurch finanzielle Einbuße erleiden. Diese Personen setzen sich zum Teil nach dem Westen ab, da sie glauben, dort mehr kaufen und besser leben zu können. Ein Teil der Personen, die früher im Beamtenverhältnis gestanden haben, spekulieren auf Pensionen, während sich einige Bauern wegen Sollschwierigkeiten absetzen.

Entlohnung

Ein Chemieingenieur und Abteilungsleiter aus dem VEB Fettchemie- und Fewa-Werk Mohsdorf, [Kreis] Karl-Marx-Stadt[-Land], wurde republikflüchtig. Er war darüber verärgert, dass er bei einer Gehaltsaufbesserung wegen Abwesenheit »vergessen« worden war und keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr sah. Der Werftarbeiter [Name 18] von der Volkswerft Stralsund verließ die DDR, da er infolge Materialmangels viel Wartezeit schreiben musste und als guter Facharbeiter tagelang im Ernteeinsatz war oder Handlangerdienste leisten musste, was mit finanzieller Einbuße verbunden war.

Im Fischlager der Konsum-Genossenschaft Dresden ist man darüber gut unterrichtet, dass die »Nordsee-GmbH« in Westdeutschland ein monatliches Anfangsgehalt von 460 DM und freie Wohnung bietet. Aus diesem Grunde wurden zwei Verkaufsstellenleiter republikflüchtig. Aus Zwickau flüchtete [Name 19, Vorname] aus dem Objekt 101. Er hatte vor einem halben Jahr eine Prüfung für das technische Minimum abgelegt, aber bis jetzt noch kein Zeugnis erhalten. Bei Vorlage des Zeugnisses hätte er die Lohngruppe 6 erhalten müssen.17

Wirtschaftliche Gründe

Der werktätige Bauer [Name 20, Vorname] aus Buchenhain, [Kreis] Templin, [Bezirk] Neubrandenburg, hatte große Sollrückstände in Milch und Kartoffeln. [Name 20] hatte einen schlechten Viehbestand und konnte seine Wirtschaft nicht mehr ordnungsgemäß bearbeiten, deshalb verließ der die DDR. Ein Großbauer aus Zercha, [Kreis] Bautzen, [Bezirk] Dresden, war in seiner Sollablieferung vorbildlich. Ein Antrag auf Sollherabsetzung bedingt durch schlechte Bodenklasse18 – wurde vom Rat des Kreises Bautzen abgelehnt. Aus Angst, dass er sein Soll dieses Jahr nicht erfüllen könne, verließ er die DDR.

Die Lehrerin [Name 21] von der Oberschule in Stendal, [Bezirk] Magdeburg, wurde republikflüchtig. Sie gibt an, in der DDR keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr zu haben, da sie früher als Studienrätin tätig war.19 In Westdeutschland könnte sie im alten Rang eingesetzt werden und außerdem wäre ihr eine bessere Altersversorgung gesichert. Der Mechaniker [Name 22] aus dem VEB Zeiss Jena schrieb nach seiner Republikflucht aus Westdeutschland: »Was mich veranlasst hat, die Zone zu verlassen, ist die Aussichtslosigkeit auf eine bessere und zufriedenere Lebensweise. Ich habe zu allem das Vertrauen verloren. Ich fühle mich so wohler …«

IV. Abwerbung

Im Monat Oktober wurden Einzelfälle bekannt, bei denen eine Abwerbung von Personen aus der DDR durch Konzernangehörige in Westdeutschland vermutet wird. Konkrete Hinweise dafür sind nicht vorhanden. Weiter wurde bekannt, dass in Westdeutschland geeignete männliche Personen für die Arbeit in den Goldminen Südafrikas angeworben werden.

Der Leiter der BHG Jarmen, [Kreis] Demmin, [Bezirk] Neubrandenburg, wurde mit seinen fünf Familienangehörigen republikflüchtig. Er kündigte sein Arbeitsverhältnis und begab sich nach Westdeutschland. Es wurde ermittelt, dass er Verbindung zu Vertretern des Raiffeisenverbandes in Westdeutschland hatte und vermutlich von dort abgeworben wurde. Der technische Leiter des VEB Betonwerke Rudolstadt, [Bezirk] Gera, galt in seinem Fach als eine Kapazität. Er stand mit zwei republikflüchtigen Personen aus dem gleichen Betrieb in Verbindung, die ihn vermutlich nach Westdeutschland abgezogen haben.

Ein Ingenieur aus dem VEB Elektroporzellan Margarethenhütte Großdubrau, [Kreis] Bautzen, [Bezirk] Dresden, sollte als technischer Leiter des Werkes eingesetzt werden. Er fuhr jedes Jahr nach Westdeutschland in Urlaub und stand außerdem mit republikflüchtigen Personen und Konzernangehörigen in Verbindung. Eine Dienstfahrt nutzte er zur Republikflucht aus. Aus den angeführten Umständen wird Abwerbung vermutet.

Aus Potsdam wird bekannt, dass in Westberlin bzw. Westdeutschland Personen angeworben werden, die bereit sind, ein Jahr in Belgisch-Kongo in der Goldindustrie – vermutlich aber Uranbergwerke – zu arbeiten. Den Personen wird ein Jahresverdienst von 16 000 Westmark bei einer täglichen Arbeitszeit von zwei bis vier Stunden geboten. Der erste Transport sollte am 27.11.1956 abgehen.

Durch einen Rückkehrer20 wurde bekannt, dass in Westdeutschland Werber für die »Goldminen in Südafrika« auftreten. Vorwiegend beeinflussen sie in Lokalen unter Alkohol stehende Personen zu Vertragsabschlüssen. Nichteinhaltung des Vertrages zieht strafrechtliche Verfolgung wegen »Vertragsbruch« nach sich. Den Angeworbenen wird ein Merkblatt ausgehändigt, aus dem alle notwendigen Formalitäten (Röntgenaufnahme, Impfungen und Passformalitäten) zu ersehen sind. Das Merkblatt trägt zwei Anschriften:

  • Transvaal and Orange Free State Chamber of Mines (Incorporated in the Union of South Africa), p./A. Südafrikanisches Generalkonsulat, Hamburg 36, Gerhofer Straße 40

  • Dr. F. J. Farrenkothen, p./A. Kühne & Nagel, Luftfrachthof, Flughafen Berlin-Tempelhof.

In illustrierten Prospekten wird den Interessenten die Lebensweise, der Verdienst und die Entwicklungsmöglichkeit schmackhaft gemacht.

V. Republikflucht aufgrund der Ereignisse in Ungarn

Nach den Ereignissen in Ungarn wurden vereinzelt schwankende Elemente republikflüchtig, da sie Angst hatten »in der DDR würde die gleiche Situation eintreten«.

Der Parteisekretär Heinz Dörrwand21 der SED-Betriebsgruppe des VEB Hoch- und Tiefbau Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, wurde republikflüchtig. Vor seiner Flucht äußerte er, »dass er lieber nach Westdeutschland gehe, da er in der DDR die gleichen Vorkommnisse erwartet, wie in Ungarn und er sich nicht aufhängen lassen möchte«. Der Laboringenieur Albert Thurley22 war Abteilungsleiter im VEB Werk für Fernmeldewesen, Berlin-Oberschöneweide. Er wurde republikflüchtig und teilte in einem Brief mit, »dass er befürchtet, in der DDR würden dieselben Ereignisse eintreten wie in Ungarn«. Th. war von 1946 bis 1950 in der UdSSR. Die Lehrerin [Vorname Name 23] von der 4. Grundschule in Eberswalde, [Bezirk] Frankfurt/O., trat aufgrund der Ereignisse in Polen23 und Ungarn aus der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische-Freundschaft aus. Nach einer Aussprache mit der SED-Kreisleitung wurde sie von der Schulleitung entlassen und setzte sich nach dem Westen ab.

In der Westzeitung »Die Welt« vom 14.11.1956 erschien folgende Notiz: »Mehrere Lehrer aus der Sowjetzone und Ostberlin, die bis jetzt entschlossen waren dort auszuharren, haben in den letzten Tagen in Westberlin um Notaufnahme24 nachgesucht. Sie begründeten ihre Flucht aus der Sowjetzone damit, dass es ihnen unmöglich ist, ihren Schülern den Volksaufstand in Ungarn als ›faschistischen Putsch‹ darzustellen.«25

VI. Vorschau über die Republikflucht im November 1956, nach Meldungen der Westpresse

Nach westlichen Pressemeldungen ist die Republikflucht im November 1956 stark zurückgegangen. Die Westzeitung »Die Welt« schreibt hierzu am 4.12.1956 Folgendes: »Insgesamt 20 208 Flüchtlinge aus der Zone haben im November in der Bundesrepublik und in Westberlin die Notaufnahme beantragt. Das sind 5 777 Personen weniger als im Oktober.« Der Rückgang wird vom Bundesverteidigungsminister Oberländer26 darauf zurückgeführt, »dass unter der Bevölkerung der Zone die Auffassung von einem ›politischen Tauwetter‹ vorhanden ist«. Der Minister erklärte den Rückgang ferner damit, »dass die Kontrollen um Berlin verschärft worden sind und es angesichts des bevorstehenden Weihnachtsfestes mancher vorzieht, zu Hause zu bleiben«.27

  1. Zum nächsten Dokument Unzufriedenheit über die Auszahlung von Weihnachtszuwendungen

    6. Dezember 1956
    Information Nr. 375/56 – Betrifft: Unzufriedenheit über die Auszahlung von Weihnachtszuwendungen und die Einarbeitung des 24. und 31. Dezember 1956

  2. Zum vorherigen Dokument Arbeitsniederlegungen (19)

    5. Dezember 1956
    Information Nr. 374/56 – Betrifft: Arbeitsniederlegungen