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Meinungen zum KPdSU-Parteitag (2)

20. November 1961
2. Bericht Nr. 722/61 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR auf den XXII. Parteitag der KPdSU

Die bekanntgewordenen Diskussionen über den XXII. Parteitag der KPdSU1 tragen in der überwiegenden Mehrheit positiven Charakter und kommen aus allen Bevölkerungsschichten. Insbesondere wird [werden] die Friedenspolitik der Sowjetunion, die grandiosen Perspektiven beim kommunistischen Aufbau und die militärische Überlegenheit der SU begrüßt.

Unter einem Teil der ärztlichen und wissenschaftlichen Intelligenz ist nach wie vor eine gewisse Zurückhaltung zu einer offenen politischen Stellungnahme vorhanden und es tauchten in diesem Zusammenhang in der letzten Zeit in Kreisen der Mittelschichten und der Intelligenz wiederholt Meinungen auf, dass man in der DDR seine Meinung nicht mehr frei und offen sagen könne.

Trotz der vielen positiven Stellungnahmen sind die Diskussionen über den XXII. Parteitag der KPdSU im Verhältnis zu anderen politischen Ereignissen in der Vergangenheit nicht so umfangreich und standen nicht immer im Mittelpunkt.

Dies liegt nach den uns vorliegenden Hinweisen mit daran, dass es Parteileitungen häufig noch nicht verstanden haben, eine klare Linie zur Entfachung einer breiten Diskussion unter allen Werktätigen und zur intensiven Auswertung der Materialien des XXII. Parteitages zu geben.

Zum anderen werden die Ergebnisse und Beschlüsse des XXII. Parteitages von vielen Menschen als eine Selbstverständlichkeit hingenommen.

Auch Mängel in der Versorgung in der DDR werden teilweise in den Vordergrund gestellt.

Ebenfalls ist das Bemühen des Gegners spürbar, die Auseinandersetzungen möglichst auf die im Rechenschaftsbericht und Schlusswort kritisierten negativen Erscheinungen zu konzentrieren.

Unter den Jugendlichen ist teilweise festzustellen, dass diese über den XXII. Parteitag mangelhaft informiert sind und auch nicht interessiert sind, Einzelheiten zu erfahren, weil nach ihrer Meinung der XXII. Parteitag der KPdSU eine innere Angelegenheit der SU sei.

Nach vorliegenden Berichten wurde in der letzten Zeit hauptsächlich über folgende Probleme des XXII. Parteitages gesprochen:2

  • politische Bedeutung des XXII. Parteitages und des Programms,

  • Erklärung des Genossen Chruschtschow zum Friedensvertrag,

  • Personenkult,

  • Haltung Albaniens,

  • Kernwaffenversuche der SU,

  • parteifeindliche Gruppe.

In den Diskussionen über Friedensvertrag und politische Bedeutung des XXII. Parteitages und des Programms gab es im Vergleich zum 1. Bericht keine wesentlich neuen Argumente.

Die Äußerungen über Personenkult, die im Vergleich zum 1. Bericht zugenommen haben und einen verhältnismäßig großen Umfang einnehmen, lassen in allen Kreisen der Bevölkerung Unklarheiten erkennen und zum Teil werden völlig falsche Einschätzungen getroffen.

In Kreisen der Intelligenz wird häufig nur über die Fragen des Personenkults gesprochen. Feindlichen Argumenten wird nur ungenügend entgegengetreten. Viele Unklarheiten zeigen, dass die Materialien des XXII. Parteitages der KPdSU nur oberflächlich studiert wurden.

Zwar erkennt die Mehrheit der Bürger der DDR, dass die offene und ehrliche Auseinandersetzung mit dem schädlichen Personenkult die Stärke und Geschlossenheit der KPdSU zum Ausdruck bringt, aber viele Bürger, selbst Mitglieder der SED, können nicht verstehen, warum man gerade jetzt, nach so vielen Jahren, die Fehler Stalins so ausführlich behandelt; denn Stalin habe auch gute Taten vollbracht.

Bei vielen dieser Diskussionen ist der gegnerische Einfluss offensichtlich und die im Westrundfunk und –fernsehen verbreiteten Argumente sind oft deutlich zu erkennen, besonders die gegen Genossen Walter Ulbricht gerichteten Verleumdungen.

Folgende Hauptrichtungen sind aus den bekanntgewordenen negativen und unklaren Argumenten zu erkennen:

  • Die Hervorhebung der Person des Genossen Walter Ulbricht und seine wichtigen staatspolitischen Funktionen werden als Personenkult bezeichnet.

  • An den Schulen der DDR würde in letzter Zeit verstärkt die Biographie des Genossen Walter Ulbricht gelehrt, dass sei auch eine Art Personenkult.

  • Wie weit geht die Achtung der führenden Genossen und wo fängt der Personenkult an?

  • Stalin habe zwar einiges falsch gemacht, er habe aber auch große Verdienste, besonders im Vaterländischen Krieg gehabt.

  • Wieso konnte in einem so starken sozialistischen Land wie der SU, der Personenkult ein solches Ausmaß annehmen?

Im Einzelnen gibt es folgende typische Argumente unter allen Bevölkerungsschichten:

  • Walter Ulbricht hätte zuviel Macht in seien Händen konzentriert.

  • Walter Ulbricht würde zu sehr verherrlicht und ihm würden Verdienste zugesprochen, die Verdienste des ganzen Volkes wären.

  • Man könne keiner Regierung mehr trauen.

  • Erst in der letzten Zeit seien viele Lieder und Gedichte über den Genossen Walter Ulbricht geschrieben, dass sei auch Personenkult.

  • Das Thema über den Lebensweg des Genossen W. Ulbricht an den Schulen wäre nichts anderes als Personenkult (besonders unter Lehrern).

  • Warum werden Briefmarken mit dem Porträt Walter Ulbrichts hergestellt und warum gibt es neuerdings in den Schulen Walter-Ulbricht-Ecken?

  • Walter Ulbricht war doch bis zum Tode Stalins einer der stärksten Verfechter der Stalinschen Ideen. Wird er sich daher weiterhin als Regierungsoberhaupt der DDR behaupten können?

  • Unter der Stalin-Aera seien auch verschiedene deutsche Kommunisten umgekommen. Hierüber habe Walter Ulbricht auf dem XXII. Parteitag nichts gesagt.

  • Warum ist man nicht schon zu Lebzeiten Stalins gegen seine Fehler aufgetreten?

  • Stalin habe auch Verdienste, man könne heute nicht so mit ihm umgehen und ihn aus dem Mausoleum entfernen.

Aus der Berufsschule Oranienburg wurde bekannt, dass dort einige Lehrer der Meinung sind, dass es bei uns auch Personenkult gäbe und die Zustände in der Landwirtschaft nur dadurch entstanden seien, weil man Schirdewan und Oelßner »an die Wand gedrückt« habe.3

In engem Zusammenhang mit den Fragen des Personenkults wird auch über die Haltung der Führer der albanischen Partei der Arbeit diskutiert. Auch in dieser Frage gibt es viele Unklarheiten, selbst bei Mitgliedern der SED. Immer wieder wird von allen Bevölkerungskreisen, besonders aber von Angehörigen der Intelligenz die charakteristische Frage gestellt: »Was ist eigentlich mit Albanien los?« Kritisiert wurde in mehreren Fällen, dass unsere Presse nicht über alles berichte und man daher in dieser Frage nicht richtig orientiert sei.

Die Argumente bewegen sich hauptsächlich in zwei Richtungen, die deutlich den feindlichen Einfluss widerspiegeln:

  • 1.

    Albanien würde den gleichen Weg wie Jugoslawien einschlagen und deshalb sei die Geschlossenheit des sozialistischen Lagers erschüttert.

  • 2.

    Man spekuliert auf Gegensätze zwischen der SU und China, weil China Albanien unterstütze. (Vorzeitige Abreise der chinesischen Delegation auf dem XXII. Parteitag der KPdSU – Kredite, Spezialisten). Vereinzelt geht man sogar soweit, dass es zu einem Zusammenschluss von China und Albanien gegen die SU kommen könne.

Über die Entlarvung der parteifeindlichen Gruppe wurden bisher nur zustimmende Meinungsäußerungen bekannt. Die schonungslose Aufdeckung der Fehler der parteifeindlichen Gruppe wird als Stärke der KPdSU gewertet.

Mit Befriedigung wurde in vielen Diskussionen festgestellt, dass die Sowjetunion bzw. die KPdSU so stark sind, offen über diese Probleme zu sprechen ohne dabei an Prestige oder an Kraft einzubüßen. In vielen Fällen wurde bei der Verurteilung der parteifeindlichen Gruppe betont, dass diese nichts aus den Kritiken des XX. Parteitages gelernt hätte.4

Die Diskussionen über die Kernwaffenversuche der SU sind nicht umfangreich. Jedoch ist der Anteil pessimistischer und unklarer Stimmen unter allen Bevölkerungsschichten beachtlich groß. Vor allem wird die Notwendigkeit der Atombombenversuche nicht erkannt und erklärt, dass die SU in der Vergangenheit ständig für die Abrüstung und den Stopp der Kernwaffenversuche eingetreten ist. Vereinzelt gibt es, hauptsächlich unter Angehörigen der Intelligenz, solche pessimistischen Meinungen, dass es keinen Zweck mehr habe, sich zu qualifizieren, da man jeden Tag mit dem Ausbruch eines atomaren Vernichtungskrieges rechnen müsse.

Im Einzelnen gibt es hierzu folgende Argumente:

  • Der Kampf gegen die Atomwaffen müsse auch gegen die SU gerichtet werden.

  • Durch die neuen Kernwaffentests hätte die SU zahlreiche Anhänger in den neutralen Staaten verloren.

  • Die Versuche würden nur unternommen, um die Stärke zu beweisen. Die SU wolle den USA nur Angst einjagen.

  • Durch die Atombombenversuche der SU habe sich die Lage nur noch mehr zugespitzt.

  • Die Sowjetunion habe verantwortungslos gehandelt, denn es wäre keine Notwenigkeit vorhanden.

Von Mitgliedern der CDU wird darüber diskutiert, dass Genosse Chruschtschow gesagt habe: In der UdSSR gebe es noch so viel religiös gebundene Menschen und man müsse eine religiöse Beeinflussung der Kinder und Jugendlichen verhindern. Diese Ausführungen stünden im Widerspruch zu Erklärungen Göttings und Bischof Mitzenheims. Es wird befürchtet, dass es innerhalb der christlichen Bevölkerung der DDR zu Unstimmigkeiten kommen kann, wenn unsere Regierung ebenso handeln sollte wie die Sowjetunion.

Einen breiten Raum nehmen in den Diskussionen – besonders seitens Wissenschaftlern – solche Ansichten ein, dass in der DDR-Presse nicht alles über den XXII. Parteitag der KPdSU (Albanien, Kernwaffenversuche, angebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten der SU, Personenkult) veröffentlicht werde, wobei vor allem die Meldungen der westlichen Presse und des Westrundfunks als Ausgangspunkt genommen werden. U. a. erklärten Wissenschaftler des Instituts für Marxismus-Leninismus, dass auch in unserer Presse der volle Wortlaut der Rede des Genossen Schelepin veröffentlich werden müsste.

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    20. November 1961
    2. Bericht Nr. 723/61 über die Reaktion auf die neuen Sicherungsmaßnahmen der DDR

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    20. November 1961
    1. Einzel-Information Nr. 721/61 über die Reaktion auf die neuen Sicherungsmaßnahmen der DDR