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Sicherheitsmängel im Arbeitserziehungslager Mildenberg, Bezirk Potsdam

7. Januar 1963
Einzelinformation Nr. 11/63 über einige Mängel in der Sicherheit und Ordnung im Arbeitserziehungskommando Mildenberg, Kreis Gransee, [Bezirk] Potsdam

Im Jahre 1962 erfolgten aus dem Arbeitserziehungskommando1 Mildenberg (AEK) insgesamt 14 Entweichungen. Die in diesem Zusammenhang vom MfS eingeleiteten Untersuchungen hinsichtlich der Ursachen für diese Vorkommnisse, insbesondere der Einhaltung der Sicherheit und Ordnung im AEK, ergaben Folgendes:

Das Lager hat eine Kapazität von 400 Arbeitspflichtigen, ist aber gegenwärtig nur mit ca. 260 Arbeitspflichtigen belegt. Über 50 % der Arbeitspflichtigen sind z. T. mehrmals vorbestraft, 129 sind ehemalige Grenzgänger2 und Republikflüchtige.

Der Einsatz aller Arbeitspflichtigen erfolgt in der Abt. VII3 des VEB Ziegelkombinat Zehdenick,4 die durch einen ca. 3 km langen sogenannten Sicherheitsring von den Unterkünften des AEK getrennt ist. Während innerhalb des AEK die Sicherheit voll gewährleistet ist, bestehen jedoch in der Zeit des Einsatzes der Arbeitspflichtigen in der Abt. VIIerhebliche Mängel in der Sicherheit und Ordnung, die ein Entweichen von Arbeitspflichtigen geradezu begünstigen.

Innerhalb des Geländes der Abt. VII, die mehrere Objekte umfasst, sind noch 36 Familien mit ca. 100 Zivilpersonen wohnhaft, wobei ein Teil dieser Personen als unzuverlässig eingeschätzt wird. Weiterhin arbeiten in dieser Abteilung noch ca. 70 Zivilkräfte.

Da die Arbeitspflichtigen ihre Zivilkleidung tragen und nicht besonders gekennzeichnet sind, können sie von den anderen Personen nicht unterschieden werden. Dieser Zustand wirkt sich auf die Gewährleistung der Sicherheit innerhalb dieser Abteilung äußerst nachteilig aus, da keine Kontrolle über die Arbeitspflichtigen besteht und günstige Möglichkeiten der Kontaktaufnahme sowie der Vorbereitung und Durchführung von Entweichungen – besonders in den Abendstunden – gegeben sind. Es wurde festgestellt, dass Arbeitspflichtige unter Ausnutzung dieses Zustandes sogar Verhältnisse zu weiblichen Zivilpersonen unterhielten.

Der um die Abt. VII verlaufende ca. 3 km lange Sicherheitsring besteht aus einem gewöhnlichen und äußerst schadhaften Stacheldrahtzaun und einem ca. 3 m breiten Schutzstreifen. Der Draht ist zum Teil zehn Jahre alt, durch ständige Witterungseinflüsse verbraucht und nicht mehr widerstandsfähig. Der Schutzstreifen ist ebenfalls nur als Provisorium anzusehen, da das daran anschließende Gelände größtenteils unübersichtlich ist. Zum Beispiel grenzen unmittelbar an den Schutzstreifen verschiedene Schuppen und Wohnungen und an der Nord- und Südseite der Umzäunung stehen hohe Gräser, die eine Übersicht in diesem Gelände verhindern. Zum Sicherheitsring gehören außerdem acht Turm- und zwei Torposten, die – bis auf einen Torposten – vor Arbeitsbeginn (3.30 Uhr) aufziehen und nach Arbeitsschluss und Vollzähligkeitsmeldung (20.30 Uhr) eingezogen werden. Die Postentürme stehen jeweils ca. 250 m voneinander entfernt. Da nicht genügend MPi und Karabiner vorhanden sind, versehen einige Turmposten ihren Dienst nur mit Pistole (Makarow) bewaffnet. Dies widerspricht jedoch allen Regeln der Sicherheit.

Die Beleuchtung der Sperrzone entspricht ebenfalls nicht den Anforderungen einer erhöhten Sicherheit und bietet nur ungenügende Sicht während der Dunkelheit. Durch die ungünstige Stellung der Lampen ist beiderseitig über den Schutzstreifen hinaus keine Sicht gegeben. Außerdem sind viele Schattenstellen vorhanden, die eine eventuelle Flucht begünstigen.

Die Arbeitspflichtigen gehen ohne Aufsicht des Strafvollzuges zu ihren Arbeitsplätzen und unterliegen anschließend bis Arbeitsschluss keiner ständigen Kontrolle durch den Strafvollzug. Es werden lediglich Stichkontrollen während der Schicht am Arbeitsplatz durchgeführt. Während der Schicht sind für die Arbeitspflichtigen nur die elf Meister des Betriebes verantwortlich. Über diese Personen sowie die anderen dort tätigen Zivilarbeiter besteht jedoch bei den Angehörigen des Strafvollzugs keine konkrete Übersicht, weil von der Kombinatsleitung ständig Umbesetzungen vorgenommen werden, ohne Rücksprache mit der Leitung des AEK.

Ein exaktes Postenkontrollsystem gibt es bisher ebenfalls nicht und die Kontrollgänge erfolgen mehr oder weniger zufällig. Die Durchführung der Kontrollen an den Verladestellen der Häfen erfolgt nur formal. Nach dem Beladen der Kähne werden nur oberflächliche Kontrollen durchgeführt, wobei in der Folgezeit kein Überblick über die Personen besteht, die das Schiff nachträglich betreten.

Die Kontrolle des Personen- und Fahrzeugverkehrs durch die Posten 1 und 2 entspricht gleichfalls nicht den Erfordernissen. Alle das Werktor passierenden Personen haben sich durch Werkausweis bzw. DPA am Posten 1 auszuweisen. Ist kein Werkausweis vorhanden, so bekommt die Person, die zur Abt. VII möchte, einen Passierschein und kann ohne Aufsicht das Werkgelände betreten. Dadurch ist es möglich, dass Verbindungen mit den Arbeitspflichtigen aufgenommen und Ausbrüche vorbereitet oder organisiert werden können. Die Werkbahn wird ebenfalls vom Posten 1 kontrolliert. Der Posten lässt den Zug ohne Halt passieren und steigt lediglich auf ein dreistufiges Podest, um die Loren zu überblicken. Diese Form bietet jedoch keine Gewähr einer intensiven Kontrolle. Am Posten 3 erfolgt die Überprüfung aller ein- und ausfahrenden Fahrzeuge. Nach der Ausstellung eines Passierscheines stehen die Fahrer und Begleitpersonen innerhalb des Werkgeländes nicht mehr unter Kontrolle. Die ein- und ausgehenden Personen werden nur mangelhaft überprüft. Es gibt mehrere Hinweise, dass Personen das Tor bzw. den Schlagbaum unkontrolliert passieren.

Zur Verbesserung der Sichtverhältnisse (die Übersicht aus dem Postenhaus des Postens 3 z. B. ist völlig ungenügend) und der Kontrolle wären entsprechende Veränderungen erforderlich.

Durch diese und andere Mängel in der Sicherheit und Ordnung war es möglich, dass sämtliche 14 Entweichungen von den Arbeitsstellen innerhalb des Geländes der Abt. VII des Ziegelkombinates aus erfolgen konnten.

Die Überprüfung durch das MfS ergab weiter, dass selbst bei der Leitung des AEK keine Klarheit über die Verantwortlichkeit für die Sicherheit während des Einsatzes der Arbeitspflichtigen in der Produktion besteht. Vom Leiter des AEK, Genossen Hauptmann Fiedler,5 wird dazu die Meinung vertreten, dass für alle Sicherheitsfragen, die den Produktionseinsatz in der Abt. VII betreffen, der Betrieb voll verantwortlich ist.

Aus dieser falschen Auffassung resultiert auch die Tatsache, dass aus den bisherigen Entweichungen keine Schlussfolgerungen gezogen wurden. Obwohl diese angeführten Missstände der Leitung schon lange bekannt sind, wurden keine Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit eingeleitet. (Durch die Bestellung von 2 t Stacheldraht, 3 t Unkraut-Ex sowie die Verbesserung der Brandschutzbestimmungen – als bisherige Schlussfolgerungen – dürfte dieses Problem nicht gelöst sein.)

Zur »Begründung« wird angeführt, dass Arbeitspflichtige keine Strafgefangenen seien. In diesem Zusammenhang wird eine vom stellvertretenden Leiter der Verwaltung Strafvollzug,6 Oberst Jauch,7 geübte Kritik, wonach allgemein die Erziehungsmethoden bemängelt [wurden] und gefordert wurde, in Mildenberg endlich von den »Zuchthausmethoden« abzukommen, falsch ausgelegt.

Diese Unklarheiten in der Behandlung der Arbeitspflichtigen zeigen sich auch in den Weisungen der Leitung an die Posten hinsichtlich der Schusswaffenanwendung bei Entweichungen. Selbst in der Leitung des AEK bestehen darüber unterschiedliche Auffassungen.

Zur Durchsetzung des Rechtspflegebeschlusses8 wurden erst in der letzten Zeit – vor allem durch den Einsatz neuer Offizierskader – einige Anstrengungen unternommen. Bis Ende September 1962 bestanden bei der Leitung des AEK keine klaren Vorstellungen über die erforderlichen Schlussfolgerungen aus dem Rechtspflegebeschluss zur Erhöhung der Qualität der Arbeit im AEK. Die zu dem Rechtspflegebeschluss geführten Beratungen in Brandenburg und Potsdam wurden völlig unzureichend ausgewertet. Im Ergebnis dieser Mängel in der Leitungstätigkeit war bis zu dem genannten Zeitpunkt im AEK Mildenberg kein wesentlicher Unterschied zwischen dem Charakter des Strafvollzuges und dem der Arbeitserziehung zu erkennen.

Die Zusammenarbeit der dienstlichen- und Parteileitung ist – trotz einiger Bemühungen – noch unzureichend entwickelt. Die gesamte Arbeit ist noch sporadisch und kampagnenhaft. Es wird kein konsequenter Kampf geführt, um die Sicherheit und Ordnung insgesamt systematisch zu erhöhen und besonders durch die politisch-ideologische Erziehungsarbeit eine Erhöhung der Wachsamkeit und der Verantwortlichkeit der Mitarbeiter zu erreichen.

Zur kulturellen Betreuung der Arbeitspflichtigen wurde besonders in der letzten Zeit ein breites System von Qualifizierungs- und Bildungsmöglichkeiten geschaffen. Trotzdem ist einzuschätzen, dass noch nicht alle Möglichkeiten genutzt werden, um die Freizeit der Arbeitspflichtigen (meist Jugendliche) sinnvoll zu gestalten und in vielfältiger Weise zu organisieren. Da das AEK sehr abgelegen ist, gibt es Schwierigkeiten bei der Einbeziehung von Vertretern gesellschaftlicher und staatlicher Organe.

Der Erfahrungsaustausch mit den anderen Dienststellen (AEK) ist noch völlig unzureichend und gute Erfahrungen werden noch zu wenig verallgemeinert und nur ungenügend zur Grundlage bei der Verbesserung der gesamten Arbeit auf diesem Gebiet genommen.

Ein wesentliches Hemmnis in der Arbeit der AEK ist das Fehlen einer zentralen und verbindlichen Weisung des MdI als Arbeitsgrundlage für die AEK.

Die Leiter der AEK arbeiten zzt. nur auf der Grundlage einer vorläufigen schriftlichen sowie mündlichen Orientierung der VSV. Seit August 1961 wird zwar von der Verwaltung Strafvollzug an einer »Anordnung über die Durchführung der Arbeitserziehung« gearbeitet, bisher ist diese jedoch noch nicht erschienen.9

Diese mangelhafte zentrale Leitungstätigkeit wirkt sich nachteilig auf die Leitung der AEK, die Sicherheit und Ordnung, den Umerziehungsprozess und auf die Arbeitsmoral und die Leistungen der Arbeitspflichtigen aus.

Da bisher auch nicht die Fragen der einheitlichen Entlohnung und der Gesamtabzüge geklärt wurden, kam es bereits zu einer Reihe von Beschwerden durch Angehörige der Arbeitspflichtigen beim AEK und der VSV. Eine der hauptsächlichsten Ursachen für diesen Zustand besteht mit darin, dass auch über die sozialrechtliche Stellung der Arbeitspflichtigen noch keine Klarheit besteht und bisher kein Übereinkommen mit dem Komitee für Arbeit und Löhne10 über die Entlohnung, Abzüge usw. erzielt wurde.

Zur Verbesserung der Arbeit auf dem Gebiet der Arbeitserziehung insgesamt sowie zur Erhöhung der Sicherheit und Ordnung speziell im AEK Mildenberg, Kreis Gransee, werden folgende Maßnahmen empfohlen:

  • Fertigstellung der Anordnung über die Durchführung der Arbeitserziehung als verbindliche Weisung und Arbeitsgrundlage für die einheitliche Durchführung der Arbeitserziehung in allen AEK.

  • Erarbeitung einer exakten Schusswaffengebrauchsvorschrift durch die VSV.

  • Überarbeitung des Kontrollsystems, um den unkontrollierten Aufenthalt von Zivilkräften im Bereich der AEK zu verhindern und die Verbindungsaufnahme zu Arbeitspflichtigen zu unterbinden.

  • Sicherstellung einer zweckentsprechenden Bewaffnung (MPi) der Turmposten, Veränderung der Feuerzone (Schutzstreifen) und der Umzäunung entsprechend den geltenden Vorschriften im Strafvollzug.

  • Einsatz von Diensthunden (bei Entweichungen ist im Bereich des AEK kein Spürhund vorhanden).

  • Gewährleistung der Überwachung der Arbeitspflichtigen am Arbeitsplatz durch SV-Angehörige, um zu verhindern, dass diese Personen über acht Stunden ohne Kontrolle sind.

  • Arbeitspflichtige, die mehrmals vorbestraft sind bzw. Ausbruchsversuche unternommen haben, sollten in die Sonderabteilung für Arbeitspflichtige in der StVA Waldheim verlegt werden.

    (Konzentrationen von Arbeitspflichtigen aus Berlin und Umgebung im AEK Mildenberg sollten vermieden werden.)

  • Im AEK Mildenberg sollten Maßnahmen eingeleitet werden, die eine exakte Kontrolle des Personen- und Fahrzeugverkehrs gewährleisten sowie einen konkreten Überblick über die im Betrieb tätigen Zivilarbeiter und die im Objekt vorhandenen Familien sichern.

  • Weiter sollte der Einbau von Alarmanlagen an besonders wichtigen und gefährdeten Stellen sowie die gesonderte Lagerung der nicht benötigten Kleidungsstücke der Arbeitspflichtigen überprüft werden.

  1. Zum nächsten Dokument Brand in einem HO-Lebensmittelkaufhaus in Berlin-Mitte

    7. Januar 1963
    Bericht Nr. 12/63 über den Brand im HO-Lebensmittelkaufhaus Berlin C 2, Rathausstraße

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    1. Januar 1963
    Einzelinformation Nr. 2/63 über die Verhinderung eines Grenzdurchbruchs am 1. Januar 1963 in der Nähe der Oberbaumbrücke und Beschießung eines Wasserschutzbootes der Grenzsicherungsorgane der DDR vom Gebiet Westberlins aus