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Vermuteter Giftdiebstahl in der Druckerei des »Neuen Deutschlands«

17. Januar 1963
Einzelinformation Nr. 38/63 über bisherige Untersuchungsergebnisse bei einem vermutlichen Giftdiebstahl im Werk IV der Druckerei des »Neuen Deutschlands«

Aufgrund eines Hinweises über das Fehlen von 1 550 Gramm Quecksilbersublimat1 (Gift der Giftklasse I) in der Abteilung Chemiegrafie2 des Werkes IV der Druckerei des ND wurden am 11.1.1963 durch das MfS und die VP/Abt. K entsprechende Untersuchungen eingeleitet. Da der dringende Verdacht eines Diebstahls vorliegt, besteht die Gefahr, dass das verschwundene Gift zur Begehung anderer Verbrechen verwendet wird. Es wurden insbesondere Vernehmungen bzw. informatorische Befragungen derjenigen Personen durchgeführt, die für die Aufbewahrung und den Umgang mit Giften in der Abteilung Chemiegrafie verantwortlich sind oder die aufgrund ihrer Tätigkeitsmerkmale mit Giften arbeiten und demzufolge Zugang zum entsprechenden Giftschrank haben.

Die bisherigen Untersuchungen ergaben Folgendes:

In der Abteilung Chemiegrafie ist neben anderen Giften der Klassen II und III die Verwendung von Quecksilbersublimat zur Härtung von Fotonegativen und anderen damit im Zusammenhang stehenden Arbeiten notwendig. Aufbewahrungsort ist ein verschlossener Holzschrank, der im Panzerschrank des Büros der Abteilung Chemiegrafie untergebracht ist. Verantwortlich für die laufende Bestandskontrolle sind der Abteilungsleiter Genosse [Name 1] sowie die sogenannten Giftverantwortlichen Genosse [Name 2] und der Fotograf [Name 3]. Keine dieser Personen befindet sich allerdings im Besitz des erforderlichen Erlaubnisscheines. Die Kenntnisse über die Bestimmungen des Giftgesetzes3 sind nur mangelhaft. Unerklärlich ist, dass diese genannten Personen ihre Funktion mit Wissen der Volkspolizei ohne den erforderlichen Erlaubnisschein ausüben dürfen.

Die regelmäßig aller Vierteljahre vorzunehmende Bestandskontrolle hatte am 7.1.1963 noch einen Überbestand von 900 Gramm ausgewiesen. Diese Menge wurde wohl in ein entsprechendes Gefäß umgefüllt, eine notwendige Mitteilung an die VP-Inspektion Mitte unterblieb jedoch, um Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen. Aus dem gleichen Grunde erfolgte auch keine Nachbuchung im Giftnachweisbuch. Die ungenügende Kontrolltätigkeit durch die zuständigen Mitarbeiter der VP-Inspektion begünstigte praktisch diese unverantwortliche Handlungsweise.

Bei der Herstellung einer neuen Sublimatlösung am 10.1.1963 zwischen 13.30 und 14.00 Uhr stellte der Giftverantwortliche fest, dass der im Nachweisbuch eingetragene Bestand nicht mit der tatsächlich vorhandenen Menge übereinstimmte. Eine entsprechende Kontrolle in Gegenwart anderer Personen ergab das Fehlen von 1 550 Gramm Quecksilbersublimat.

Alle bisher ergriffenen Maßnahmen führten nicht zur Klärung der Umstände des Verschwindens des Giftes und zur Feststellung des Täters. Die beiden Giftverantwortlichen hatten in der letzten Zeit den Giftschrank nachweislich nur unter Kontrolle anderer Mitarbeiter geöffnet.

In dem als Tatzeit infrage kommenden Zeitraum haben zwar einige andere Mitarbeiter der Abteilung Chemiegrafie Material aus dem Panzerschrank entnommen, aber in keinem Falle wurde nachweisbar der im Panzerschrank befindliche Giftschrank mit geöffnet. Es ist allerdings zu bemerken, dass eine zielstrebige Untersuchung und Aufklärung des Giftverlustes durch die in der Abteilung Chemiegrafie herrschende Unordnung und Verletzung elementarster Regeln der Wachsamkeit außerordentlich erschwert wurde.

Ein exakter Nachweis der Sublimatbestände ist nicht vorhanden. Die zum Abwiegen des Giftes verwandte Waage funktioniert nicht einwandfrei und auch Rechenfehler im Nachweisbuch trugen dazu bei, dass der buchmäßige Bestand nie mit dem tatsächlichen übereinstimmte. Hinzu kommt, dass in der Vergangenheit mehrmals eine unkontrollierte Giftentnahme durch Unterlassung der Eintragungen im Giftbuch erfolgte.

Der Schlüssel und der Zweitschlüssel zum Giftschrank wird an dessen Seitenwand »verwahrt«. Dieser Ort ist fast allen Mitarbeitern der Abteilung Chemiegrafie bekannt. Da die Panzerschrankschlüssel laufend unbeaufsichtigt auf dem Schreibtisch des Büros liegengelassen wurden, konnten sowohl Mitarbeiter der Abteilung als auch andere diesen Raum betretende Personen unkontrolliert in den Panzerschrank gelangen. Der Panzerschrank selbst wurde nie versiegelt und die zugehörigen Schlüssel überließen die Schichtmeister nach Arbeitsschluss der Schlüsselabgabe.

Diese Praxis der Aufbewahrung von Giften der Giftklasse I und der Aufbewahrung der entsprechenden Schlüssel verstößt in krasser Form gegen die gesetzlichen Bestimmungen. Die Durchführungsverordnung zum Giftgesetz der DDR enthält z. B. die eindeutige Bestimmung, dass die Giftkammer nur dem Betriebsleiter oder dessen Beauftragten, der dem zuständigen Polizeiamt bekannt sein muss, zugänglich sein darf und außer der Zeit des Gebrauchs sicher verschlossen sein muss.4

Zusammenfassend ergibt sich aus diesem Vorkommnis, dass aufgrund der angetroffenen Unordnung weder die tatsächlich verschwundene Menge an Sublimat noch der vermutliche Täterkreis einwandfrei feststeht und eine Aufklärung dadurch erschwert wird.

Zur Veränderung der Missstände bei der Aufbewahrung von Giften im Werk IV der ND-Druckerei wird, entsprechend des Giftgesetzes der DDR, Folgendes vorgeschlagen:

  • 1.

    In der Abteilung Chemiegrafie werden zwei Mitarbeiter als Giftverantwortliche ausgewählt und nach dem Besuch eines entsprechenden Lehrganges sowie dem Erwerb des Giftscheines mit Umgang und Aufbewahrung von Giften der Gefahrenklassen I–III beauftragt. Für jede der zwei Schichten sollte ein Giftverantwortlicher eingesetzt werden.

  • 2.

    Die in der Abteilung Chemiegrafie vorhandenen Gifte aller Gefahrenklassen sind entsprechend § 9 des Giftgesetzes5 in einem Raum aufzubewahren, wo keine anderen Materialien lagern dürften. Das in der Abteilung verwendete Quecksilbersublimat ist in einem ständig verschlossenen Schrank unterzubringen. Schlüssel für Raum und Schrank sind vom jeweiligen Giftverantwortlichen in persönlicher Verwahrung zu halten. Eine Aufbewahrung der Schlüssel beim Pförtner ist unzweckmäßig, weil dadurch ein unbegrenzter Personenkreis Zutritt zum Giftraum erhalten kann.

  • 3.

    Zur ständigen Kontrolle der vorhandenen Giftbestände ist eine exakte Führung von Giftbüchern (Giftbuch I für Quecksilbersublimat, Giftbuch II für Gefahrenklassen II und III) sowie ordnungsgemäße Aufbewahrung der Lieferscheine notwendig. Die Bücher sind nur vom Giftverantwortlichen zu führen. Die einzelnen Kontrollergebnisse sind entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen im Nachweisbuch einzutragen. Die Prüfung dieser Ergebnisse muss lt. Giftgesetz durch den Betriebsleiter erfolgen. Gleichzeitig ist notwendig, dass die Abteilung Erlaubniswesen der VP-Inspektion Mitte die gesetzlich vorgeschriebenen Kontrollen durchführt und die Giftverantwortlichen laufend über das Giftgesetz belehrt.

  • 4.

    Um die Aneignung von Gift durch unbefugte Personen weitgehend auszuschalten, sollten die Giftverantwortlichen persönlich die Abholung des Quecksilbersublimats vom Lieferbetrieb mittels Pkw vornehmen. Die Ausgabe des Giftes darf grundsätzlich nur durch den Giftverantwortlichen in Anwesenheit des jeweiligen Schichtmeisters erfolgen. Der Giftverantwortliche sollte auch nach Möglichkeit die Anfertigung der Sublimatlösung vornehmen.

  • 5.

    Wenn die Neuanschaffung einer Waage zum Wiegen von Giften nicht möglich ist, sollten zumindest die vorhandenen Waagen in technisch einwandfreien Zustand versetzt werden.

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    18. Januar 1963
    Bericht Nr. 40/63 über feindliche Pläne und Absichten und feindliche Handlungen auf dem Gebiet der DDR anlässlich des VI. Parteitages der SED

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    16. Januar 1963
    Einzelinformation Nr. 35/63 über das Bonner Vorgehen gegen die Lausanner Vorschläge zur Entsendung von zwei deutschen Olympia-Mannschaften