Äußerungen aus CDU-Kreisen zu möglichem Besuch Chruschtschows
29. August 1964
Einzelinformation Nr. 702/64 über Äußerungen führender CDU-Kreise zu einem möglichen Besuch Chruschtschows in Bonn und zum Freundschaftsvertrag UdSSR/DDR
Zuverlässig wurden Äußerungen führender CDU-Kreise um den Bundestagsabgeordneten Majonica1 und den CDU-Bundesgeschäftsführer Kraske2 zu einigen außenpolitischen Fragen bekannt. Sie beinhalten besonders eine Einschätzung der Möglichkeiten eines Besuchs von Chruschtschow in Bonn und eine Wertung des Freundschaftsvertrags UdSSR/DDR.3 Sie beziehen sich auch auf wesentliche Aspekte der Passierscheinverhandlungen.4
Nach Meinung dieser Kreise könne es als beschlossene Sache gelten, dass Chruschtschow, soweit es die Frage des Termins betrifft, im November oder spätestens Anfang Dezember dieses Jahres die Bundesrepublik besuchen soll. Nach Konsultationen zwischen dem sowjetischen Außenministerium und dem Bonner Auswärtigen Amt über eine Begrenzung des Themenkreises der Verhandlungen in Bonn habe sich der außenpolitische Arbeitskreis der CDU intensiv mit »Vorbedingungen« eines Chruschtschow-Besuchs befasst.5
Das Hauptziel der politischen Planungen für den Besuch werde im Arbeitskreis darin gesehen, dass er auf keinen Fall eine Verschlechterung der Positionen Erhards6 für die nächsten Bundestagswahlen7 bringen dürfe. Er werde deshalb in letzter Konsequenz nur dann durchgeführt werden können, wenn in den noch laufenden Konsultationen Einigung darüber erzielt wird, welche konkreten Ergebnisse er haben kann.
Es sei klar, dass in der Deutschland- und Westberlinfrage nur die verschiedenen Standpunkte einander gegenübergestellt werden könnten. Der außenpolitische Arbeitskreis sehe jedoch zwei Fragen, die unbedingt vor dem Besuch mit der Sowjetunion diplomatisch geklärt werden müssten.
Erstens müsse die Voraussetzung geschaffen werden, dass Chruschtschow bereit ist, in Bonn einen neuen langfristigen Handelsvertrag und ein neues Kulturabkommen zu unterzeichnen. Zumindest müsse im Kommuniqué zum Ausdruck kommen, beide Verträge würden mit der Maßgabe und einer entsprechenden Erklärung Chruschtschows erneuert, dass sich das Kulturabkommen auf Westberlin erstreckt und dass auch Westberlin als zum Handelsvertrag zugehörig betrachtet wird. Dabei könne der Sowjetunion zugestanden werden, dass sie nach Unterzeichnung der Verträge eine einseitige Erklärung abgibt, in der sie zum Ausdruck bringt, die Akzeptierung der Verträge bedeute eine Präjudizierung einer endgültigen Regelung der Westberlinfrage. Bonn könnte diese Verträge trotz der einseitigen Erklärung als Erfolg verbuchen und auch vor der westdeutschen Öffentlichkeit vertreten.
Die zweite Voraussetzung sei, dass sich Chruschtschow im Kommuniqué mit der Einberufung einer neuen Deutschlandkonferenz der USA, Englands, Frankreichs und der Sowjetunion in der zweiten Hälfte des kommenden Jahres einverstanden erklärt, die sich mit einer Verbesserung der Situation in der deutschen Frage befassen solle, um diese Frage und auch das »Berlin-Problem« aus einer unmittelbaren Krisengefahr herauszubringen und auf eine diplomatische Ebene zu heben. Der außenpolitische Arbeitskreis stelle sich vor, dass die Bundesrepublik für diese Konferenz die Teilnahme bzw. Akkreditierung sogenannter Sachverständiger aus beiden deutschen Staaten anbieten könne. Es dürften allerdings keine Minister sein, und sie dürften überhaupt nicht von der Regierungsebene kommen, wie es bei der Genfer Außenministerkonferenz 19598 der Fall war. Es dürfe sich nur um sogenannter technische Beratungskommissionen handeln, die zunächst einmal als Sachverständige dazu beitragen könnten, dass es zwischen beiden deutschen Staaten zu einer schrittweisen Erleichterung der Beziehungen kommt. Man verbinde damit im außenpolitischen Arbeitskreis keine hohen Erwartungen, sehe aber eine Möglichkeit, vielleicht in kleinen Detailfragen »innerhalb Deutschlands voranzukommen«.
Über diese Fragen habe der Arbeitskreis bereits ausführlich debattiert. Er berate auch den Bundeskanzler in dieser Richtung.
Als Test für sogenannter Erleichterungen in Detailfragen werden in den genannten CDU-Kreisen die Passierscheinverhandlungen angesehen. Es wird darauf spekuliert, dass die Sowjetunion im Vorstadium eines Chruschtschow-Besuchs in Bonn einen »stärkeren Einfluss« auf die Regierung der DDR in der Frage des Abschlusses eines neuen Passierscheinabkommens ausüben könnte. Die Bundesregierung wolle in der diplomatischen Vorbereitung des Besuchs die Sowjetunion in zurückhaltender Form dahingehend beeinflussen, sich bei der DDR im Sinne der Bonner Vorstellungen in der Passierscheinfrage zu verwenden. Der Abschluss eines Passierscheinabkommens noch vor einem Chruschtschow-Besuch in Bonn würde zur Verbesserung der Atmosphäre und der Herzlichkeit seines Empfangs in der Bundesrepublik beitragen.
Zur gegenwärtigen Situation in der Passierscheinfrage äußerten die genannten CDU-Kreise, die Bundesregierung sei aus Prestigegründen und aufgrund ihres »Anspruchs«, für ganz Deutschland zu sprechen, nicht bereit, der Unterzeichnung eines neuen Abkommens unter den gleichen Bedingungen wie im vergangenen Jahr zuzustimmen. Es sei zwar zwischen der Bundesregierung und dem Senat Einigkeit in allen technischen Details und auch in den Fragen der Passierscheinstellen und der Postbeamten erzielt worden. Es sei aber nicht mehr möglich, das Protokoll in der gleichen Art und Weise und mit dem gleichen Wortlaut zu unterzeichnen wie im vergangenen Jahr. Auch der Wortlaut der gedruckten Passierscheine sei nicht ein zweites Mal tragbar.
Nach Meinung der genannten CDU-Kreise gingen hier die Auffassungen von Bundesregierung und Senat auseinander. Besonders die FDP-Senatoren in Westberlin, aber auch die SPD, ständen einer erneuten Unterzeichnung in der alten Form aufgeschlossen gegenüber. Der Bundeskanzler dagegen habe sich den Bedenken des Auswärtigen Amtes in den beiden zentralen Fragen angeschlossen.
Als ein Vermittlungsangebot sei zwischen Senat und Bundesregierung im Gespräch, dass Korber9 versuchen solle, die DDR zum Nachgeben in einer der beiden Fragen zu bewegen. Die DDR solle entweder einer neuen Protokollunterschrift zustimmen oder – was noch wertvoller wäre – die Bezeichnung »Hauptstadt der DDR« nicht mehr auf den Passierscheinen erscheinen lassen.
Es gäbe in diesen Fragen noch verschiedene Auffassungen zwischen Senat und Bundesregierung. Der Senat habe in den letzten Wochen auf eine Entscheidung gedrängt und davor gewarnt, dass er im Oktober oder November nicht noch einmal in die schwierige Situation kommen wolle, eine Lösung unter Zeitdruck angesichts des bevorstehenden Weihnachtsfestes aushandeln zu müssen.
Zur Einschätzung des Freundschaftsvertrags UdSSR/DDR, wie sie im außenpolitischen Arbeitskreis und auch in Kreisen des Auswärtigen Amtes und der Regierung gegeben worden sei, äußerten die genannten CDU-Kreise, der Vertrag habe angesichts der gegenwärtigen machtpolitischen Verhältnisse und der Garantierung [sic!] der Stellung der DDR deutlich gemacht, dass an kurzfristige Regelungen in der deutschen Frage, wie sie der Bundesregierung noch heute vorschwebten, vorläufig nicht zu denken sei. Daraus ergebe sich die große Bedeutung des sogenannten Polyzentrismus im sozialistischen Lager. Er habe eventuell sehr starke Rückwirkungen. Durch »größte Selbstständigkeitsbestrebungen« der sozialistischen Staaten könne es zu einer »vollkommenen Auflockerung« kommen. Sie würde die Schwierigkeiten für Bonn in der deutschen Frage erheblich vermindern und neue Angriffspunkte sichtbar machen, die, auch über den Weg einer neuen Deutschlandkonferenz, dazu benutzt werden könnten, »die Lage zwischen beiden Teilen Deutschlands erheblich zu entspannen«.
Schröder10 habe im außenpolitischen Arbeitskreis erklärt, dass sich aufgrund des Vertrags zwischen der Sowjetunion und der DDR auch seine außenpolitischen Planungen nach der Realität der bestehenden Machtverhältnisse richten müssten. Es sei irreal, Gedanken und Spekulationen nachzugehen, die den Vertrag und die »Machtpolitische Absicherung« der DDR durch die Sowjetunion nicht nüchtern mit einkalkulieren.
Dabei sei, nach Auffassung der genannten CDU-Kreise, die Bundesregierung nicht bereit, von der strengen Auslegung der Hallstein-Doktrin11 abzugehen. Sie sei auch nicht zu Konzessionen bereit, die auf eine de facto-Anerkennung der DDR hinauslaufen. Sie könne sich dabei auf die Mehrheit der CDU stützen.
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