Stellungnahmen und Maßnahmen des Westens zu den Rentnerreisen
2. November 1964
Einzelinformation Nr. 998/64 über weitere Stellungnahmen und Maßnahmen westdeutscher und Westberliner Stellen zu den Besuchen von Rentnern aus der DDR
Im Zusammenhang mit den Reisen von Rentnern aus der DDR nach Westdeutschland und Westberlin1 wurden intern weitere Stellungnahmen und Maßnahmen westdeutscher und Westberliner Stellen bekannt.
Über die grundsätzliche Haltung westdeutscher und Westberliner Kreise zu den Rentnerbesuchen
In Kreisen um Brandt2 wird nach dem Bericht einer zuverlässigen Quelle die Situation auf dem Gebiet der Rentnerbesuche wie folgt eingeschätzt: Zum Problem der Rentnerbesuche würde jede klare Konzeption fehlen. Die Beratungen auf Bundesebene mit den entsprechenden Stellen wären ein völliges Durcheinander gewesen. Eine klare Führung habe gefehlt. Westberlin hätte als »erstes Bundesland« klare Vorstellungen entwickelt und sie auch der Bundesregierung mitgeteilt. Leider habe man sich nicht an diese Vorschläge gehalten. Die Bundesländer würden darum konkurrieren, wer den Rentnern mehr an Leistungen bieten kann. Doch es gehe nicht so sehr um die rein materielle Betreuung der Rentner. Die Kernfrage sei das Problem, dass zum ersten Mal nach 1945 Menschen aus dem östlichen Teil Deutschlands in großer Anzahl in die Bundesrepublik kommen und die westliche Seite früher gesagt habe, in die »Sowjetzone« kehre niemand freiwillig zurück. Es erhebe sich nun die Frage, welche Stellung die Westseite einnimmt, wenn die alten Menschen wieder zurückkehren. Die schwierige Lage ergebe sich weiterhin auch daraus, dass auf der einen Seite alles getan werden müsste, um den Rentnern den Westen so attraktiv und verlockend wie irgend möglich darzustellen mit dem Ziel, ihre »Widerstandskraft gegenüber dem Regime« zu stärken, auf der anderen Seite jedoch der Westseite nichts daran gelegen sein könnte, diese Rentner so zu begeistern, dass sie im Westen bleiben. Denn das wären Belastungen, die sehr schwer zu verkraften wären. (In dem Zusammenhang wird auf die Mitteilung einer anderen zuverlässigen Quelle hingewiesen, nach der Bundesminister Mende3 geäußert habe, dass die Bundesrepublik die Rentner nicht auffordern würde, in Westdeutschland oder Westberlin zu verbleiben.)
Da die Welt sehr schnell erkennen würde, dass ein KZ eben nicht mehr ein KZ ist, wenn Bürger freiwillig wieder dorthin zurückkehren, müssten in allernächster Zeit neue Formeln gefunden werden. Dabei wäre es notwendig, eine gemeinsame Linie aller Parteien, wie Brandt es vorgeschlagen habe, zu entwickeln. Es könnte nicht Sache einer Partei sein, hier den Vorreiter zu spielen. Wandel durch Annäherung4 dürfe nicht ausschließlich Politik der SPD sein. Eine Partei allein – das wäre bei der Passierscheinfrage ersichtlich – würde sich dabei sehr schnell das Genick brechen. Obwohl man es heute in der Öffentlichkeit noch nicht aussprechen könnte, ohne nicht gleich als Verräter beschimpft zu werden, sei es Tatsache, dass der Westen in der deutschen Frage mit der bisher betriebenen Politik nicht weiterkomme. Veränderungen wären nur zu erreichen, wenn der Westen immer wieder versuche, sich den Wandlungen in der Welt und auch den Wandlungen im Ostblock anzupassen. Was Walter Ulbricht heute tue, käme nicht von ungefähr. Der Westen müsse sich darauf einstellen. Mit der Politik »niemals« würde nichts erreicht. Es sei auch feststellbar, dass sich bei den Menschen in der »Zone« eine Änderung im Denken vollziehe. Die würden sich nicht mit dem Staat identifizieren, jedoch anfangen, von ihrem Staat zu sprechen.
Der Westen habe nicht die Kraft, den gegenwärtigen Zustand (gemeint ist die Teilung Deutschlands) zu beseitigen. Der einzige Weg wäre jedoch die Ausnutzung gesamtdeutscher Kontakte. Die Rentnerbesuche aber wären gesamtdeutsche Kontakte. In Bonn gäbe es bestimmte Kreise, denen bei den Rentnerbesuchen unwohl wäre. Sie würden dafür eintreten, die ganze Sache an irgendeiner Kleinigkeit, die man dann aufbauschen könnte, scheitern zu lassen. Walter Ulbricht müsste vor aller Welt ins Unrecht gesetzt werden, damit klargestellt würde, dass es nicht Humanität sei, was ihn veranlasst habe, die Rentner ausreisen zu lassen. Einige Bonner Leute seien da sehr erfindungsreich.
Zu den sogenannten Unterstützungsmaßnahmen
Nach dem Bericht einer zuverlässigen Quelle wurden vom Landesverband der SPD in Weltberlin folgende »Unterstützungen« gewährt:
- –
Jeder »Ostberliner« Rentner, der der SPD bis zum 13.8.1961 angehörte, erhält im Kurt-Schumacher-Haus5 eine Beihilfe von 20,00 DM.
- –
Für die ehemaligen SPD-Mitglieder im Rentenalter, die nach Westberlin kommen, findet wöchentlich einmal eine Kaffeetafel im Kurt-Schumacher-Haus statt, an der führende Funktionäre des Westberliner Landesverbandes der SPD teilnehmen.
- –
Jeder »Ostberliner« Rentner erhält einen Büchergutschein im Werte von 20,00 DM.
- –
Ehemalige SPD-Mitglieder erhalten weiterhin Lebensmittepakete.
- –
Die Kreisbüros der SPD sollen sich vor allem um die Unterbringung der Rentner kümmern. Es wird nach wie vor damit gerechnet, dass Rentner aus »Ostberlin« kommen, die keine Angehörigen in Westberlin haben.
Weiterhin wurde bekannt, dass für die ehemaligen Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes in Westberlin auf den Sperrkonten bei der Berliner Zentralbank zum Teil sehr hohe Beträge eingezahlt werden. Wenn es sich bei den Betreffenden um jetzige Rentner handelt, dann sind für diesen Personenkreis die Konten frei verfügbar. Im sogenannten Flüchtlingslager Marienfelde6 wurden 250 Wohnungen bereitgestellt zur vorläufigen Unterbringung von Rentnern, die im Westen verbleiben wollen.
Von einer weiteren zuverlässigen Quelle wurde bekannt, dass sich höhere Diplomaten der Botschaft der USA in Bad Godesberg persönlich mit den Rentnerbesuchen beschäftigen. So wurden von diesen Diplomaten für Rentner aus der DDR Empfänge in größerem Rahmen organisiert.
Nach den Äußerungen eines Westberliner SPD-Funktionärs würden alle Rentner, die sich bei den sogenannten Beratungsstellen melden, auf ihre Kontaktfähigkeit überprüft. Dafür würde der Bund größere finanzielle Mittel zur Verfügung stellen.
Nach einem noch nicht überprüften internen Hinweis richte das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen zur sogenannten Betreuung von Rentnern aus der DDR in allen Kreisen und Städten sogenannte Informationszentralen ein, die von hauptamtlichen Kräften geleitet werden sollen. Für den Aufbau und die Aufsicht wäre das »Kuratorium Unteilbares Deutschland«7 verantwortlich. Es wäre vorgesehen, dass in diesen Informationszentralen in Zusammenarbeit mit den Landsmannschaften und Ostbüros8 der SPD und CDU die Rentner aus der DDR erfasst werden.
Die Information darf aus Gründen der Sicherheit der Quellen nicht publizistisch ausgewertet werden.