Westliche Pläne und Absichten anlässlich des 13.8.1964
8. August 1964
Einzelinformation Nr. 631/64 über feindliche Pläne und Absichten anlässlich des 13. August 1964
Nach den dem MfS vorliegenden internen und offiziellen Informationen ist von den Feindzentralen1 beabsichtigt, zum 13.8.1964 insbesondere die politisch-ideologische Diversionstätigkeit zu verstärken.
Dabei konzentrieren sich die feindlichen Pläne und Absichten zum 13.8.1964 insbesondere auf die Durchführung einer »Stillen Stunde« in beiden Teilen Berlins, die in der Zeit von 20.00 bis 21.00 Uhr durchgeführt wird. Diese Festlegung wurde am 31.7.1964 in einer Besprechung mit Vertretern des Senats, der Parteien und Organisationen im Rathaus Schöneberg getroffen, zu der Bürgermeister Albertz2 eingeladen hatte. Die Teilnehmer an dieser Besprechung einigten sich in der Richtung, es müsse erreicht werden, dass in der Zeit von 20.00 bis 21.00 Uhr nicht nur in Westberlin das Leben auf den Straßen ruht, sondern gleichermaßen auch das demokratische Berlin daran beteiligt ist. Zur Popularisierung der »Stillen Stunde« müsse systematisch auf die Bevölkerung des demokratischen Berlin eingewirkt werden. Es ist beabsichtigt, einige Tage vor dem 13.8.1964 beginnend, unter Einschaltung der Westberliner Rundfunk- und Fernsehstationen sowie mittels Plakatierung entlang der Staatsgrenze Berlin entsprechende Aufrufe auch an die Bevölkerung der Hauptstadt der DDR zu richten, sich an der »Stillen Stunde« zu beteiligen. (Der Westberliner Bürgermeister Albertz hat sich bereits in einer Sendung von RIAS I am 5.8.1964, 6.00 Uhr, an die Bevölkerung beider Teile Berlins mit der Aufforderung gewandt, die Durchführung der »lautlosen Demonstration« zu unterstützen.)
Willy Brandt3 wird in seiner für den Abend des 12.8.1964 vorgesehenen Rundfunk- und Fernsehrede über den Charakter des 13.8. ebenfalls entsprechende Aufforderungen an die Bevölkerung der Hauptstadt der DDR richten.
Vertreter des Senats äußerten hinsichtlich der Beteiligung der Bevölkerung des demokratischen Berlin an der »Stillen Stunde« Bedenken. Die Wirksamkeit dieser Maßnahme sei in der Hauptstadt der DDR infrage gestellt, da sich die Menschen dort an das Bestehen der Staatsgrenze inzwischen gewöhnt haben könnten. Es werde aber damit gerechnet, dass die Straßen im demokratischen Berlin ab 20.00 Uhr ohnehin etwas leerer sind; diese Tatsache müsse eben als Zustimmung und Beteiligung der Bevölkerung des demokratischen Berlin gewertet werden.
Zur Durchführung der »Stillen Stunde« am 13.8.1964 werden in breitem Maße Publikationsmittel eingesetzt, die auch – nach Meinung Westberliner Senatskreise – auf die Bevölkerung des demokratischen Berlin und der übrigen DDR ausstrahlen. Es müsse dadurch gewährleistet sein, dass möglichst breite Bevölkerungskreise in der DDR an das am 13.8.1961 geschehene »Unrecht« erinnert und dagegen aufgebracht werden. So wird der »Sender Freies Berlin« am Abend des 13.8.1964 in beiden Hörfunkprogrammen eine Sondersendung ausstrahlen. RIAS II bringt ab 20.00 Uhr eine Sendung »Musik kennt keine Grenzen, Melodien und Grüße für unsere Hörer in Ost und West« und von 21.30 Uhr bis 1.00 Uhr eine »Sonder-Wunsch-Sendung der Verbundenheit«, während der telefonisch bestellte Grüße von Westberlin in die Hauptstadt der DDR und die DDR gesandt werden.
Im westdeutschen Fernsehen werden statt der ursprünglich vorgesehenen einstündigen Sendepause für den Berliner Empfangsbereich von 20.15 Uhr an die Sendereihe »Fortsetzung heute« Schicksale von Menschen gezeigt, deren Namen im Zusammenhang mit der »Mauer« und der Teilung Deutschlands angeblich die Empörung der Öffentlichkeit erwecken (gemeinsames Programm des deutschen Fernsehens). Eine Sendung des 2. Fernsehens um 21.00 Uhr ist einem ähnlichen Thema gewidmet.
Ferner wird versucht, durch Verbreiten von Flugblättern auf die Bevölkerung des demokratischen Berlin Einfluss zu gewinnen. So wurden am 7.8.1964, gegen 23.50 Uhr, in der S-Bahn Nord-Süd-Ring auf dem Bahnhof Friedrichstraße in einem Wagen elf gedruckte und von der »Deutschen Gemeinschaft4 (DG), Landesgemeinschaft Berlin, Berlin 20, Verestraße5 70« unterzeichnete Hetzschriften sichergestellt. In diesen Hetzschriften wird zu einer Protestversammlung gegen die »Mauer und Teilung« am 13.8.1964, 20.00 Uhr, im Sportlerheim Berlin 65, Schulstraße 66, aufgerufen. Als Sprecher wurde ein Dieter Reichardt6 von der »Deutschen Gemeinschaft« zum Thema »Die Mauer muss weg« avisiert. Das Flugblatt richtet sich an alle Berliner und fordert weiter dazu auf, nicht nur »von der Einheit zu reden, sondern sich auch dafür einzusetzen«.
Während der am 31.7.1964 im Rathaus Schöneberg durchgeführten Beratung kamen die anwesenden Vertreter ferner überein, am 13.8.1964 entlang der Staatsgrenze Berlin auf Westberliner Territorium größere Demonstrationen zu vermeiden (geplante »Sternmärsche« aus allen Stadtteilen Westberlins zur Staatsgrenze Berlin, Demonstrationen u. a. der ÖTV und der CDU, eine Großveranstaltung mit 120 000 Teilnehmern im Olympiastadion, wurden aus Erwägungen, die Westberliner könnten nicht mit Demonstrationen überfüttert werden, abgesagt), aber dennoch sollen in »Gedenkfeiern« u. ä. die Bevölkerung sowohl Westberlins als auch des demokratischen Berlin an die Bedeutung dieses Tages erinnert werden. Zu diesem Zweck wurden folgende Maßnahmen für geeignet gehalten und festgelegt:
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Am 13.8.1964 sollen die Mahnmale und Gedenkkreuze entlang der Staatsgrenze auf Westberliner Gebiet besonders geschmückt werden. Westberliner Jugend- und Studentenverbände sowie die Westberliner Bereitschaftspolizei stellen Ehrenwachen. Politiker und Gewerkschaftsführer sollen die Gedenkstätten aufsuchen und Kränze niederlegen.
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Anschlagtafeln und Transparente entlang der Staatsgrenze sollen mit einem angeblichen Ausspruch7 des Genossen Ulbricht beschriftet werden, »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten« und andere auf den 13.8. abgestimmte Parolen enthalten.
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Die Leuchtschriftanlagen8 am Potsdamer Platz und in der Kochstraße sollen den 13.8. betreffende Losungen und Ausschnitte aus der Rede Willy Brandts vom 12.8. ausstrahlen.
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Ein im Juni 1964 in Westberlin gegründeter »Nationaler Arbeitskreis Berlin«9 kam in einer Besprechung am 23.7.1964 überein, am 13.8. einen Autokorso mit Spruchbändern entlang der Staatsgrenze Westberlin auf Westberliner Gebiet zu organisieren.
Für die Vorbereitung der an der Staatsgrenze Berlin vorgesehenen Maßnahmen werden besonders Jugendliche herangezogen. Vertreter des Senats rechnen in diesem Zusammenhang mit einigen Krawallen und anderen Provokationen an der Staatsgrenze, die durch Westberliner Jugendliche ausgelöst werden könnten.
In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass die Landesgruppe der Westberliner »Vereinigung der Opfer des Stalinismus«10 gemeinsam mit der »Vereinigung der politischen Häftlinge«11 und der »Vereinigung des 17. Juni«12 in den Abendstunden des 13.8.1964 ab 20.00 Uhr eine öffentliche Kundgebung im Studentenhaus am Steinplatz plant unter dem Motto: »Wie können wir die Mauer beseitigen?« und »können wir für unser Volk einen Weg aus seiner jetzigen Not finden oder nicht?«
Die katholische Jugend Westberlins wird am 13.8.1964 zwischen 20.00 und 21.00 Uhr in der Pfarrkirche St. Marien, Reinickendorf, eine sogenannte Gedenkstunde abhalten.
Die Reaktion Westberliner Betriebe, Organisationen und Parteien zum Aufruf des Westberliner Senats ist unterschiedlich; zum überwiegenden Teil wird jedoch der Schweigedemonstration zugestimmt. Insbesondere schlossen sich die Taxifahrer und die Westberliner BVG – nach Einflussnahme durch die ÖTV – dem Aufruf sofort an. Die rund 1 800 Angehörigen der Westberliner BVG, die sich am 13.8. während der »Stillen Stunde« im Dienst befinden, werden auf Anregung der ÖTV um 20.00 Uhr Kartengrüße an ihre Kollegen im demokratischen Berlin richten. Die Schaffner werden an alle Fahrgäste, die sich mit Beginn der »Stillen Stunde« in den Verkehrsmitteln befinden, von der ÖTV gedruckte Handzettel verteilen, in denen die Bedeutung der Verkehrsruhe mitgeteilt wird.
Auch das gesamte Schiffspersonal der Westberliner Stern- und Kreisschifffahrt hat sich mit dem Beschluss des BVG-Personals solidarisch erklärt.
Am 7.8.1964 richtete der DGB einen Aufruf an alle Berliner (bisher bekannt gegeben in Westberliner Zeitungen sowie im Westberliner Rundfunk), dem Aufruf des Senats zuzustimmen. Dabei wäre es zu begrüßen – so heißt es in der Verlautbarung –, entsprechend dem Ernst des Tages auf Tanz- und allgemeine Vergnügungen zu verzichten. Gleichzeitig rief der DGB alle Westberliner Betriebs- und Personalräte auf, zum 13.8.1964 »geeignete Maßnahmen« für ihre im demokratischen Berlin wohnenden Kollegen zu treffen, die durch die Staatsgrenze von ihren Arbeitsplätzen in Westberlin abgeschnitten sind.
Ferner unterzeichneten die Gewerkschaft der Westberliner Polizei (GPB) und ÖTV-Fachabteilung Polizei einen gemeinsamen Aufruf, in dem der Appell des Senats begrüßt wird.
Trotz dieser Zustimmungen gibt es seitens verschiedener Vereinigungen und Organisationen Westberlins zum Aufruf des Senats und zur »Stillen Stunde« starke Einwände. Sie beziehen sich neben der Kritik, während der Senatsverhandlungen nicht zu Rate gezogen worden zu sein, vor allem auf die Forderung, »wirksamere« Maßnahmen anlässlich des 13.8.1964 einzuleiten. So äußerten der »Aktionsausschuss der Vereinigung politischer Häftlinge«, die »Vereinigung der Opfer des Stalinismus« und die »Vereinigung 17. Juni« am 5.8.1964 in einer gemeinsamen Protesterklärung Zweifel, dass die geplante »Stille Stunde« dem Willen der Berliner Bevölkerung entspreche. Sie fordern stärkere Maßnahmen, da die Bevölkerung der Hauptstadt der DDR und der DDR mehr erwarte.
Der Christliche Gewerkschaftsbund in Westberlin forderte am 5.8.1964, anstelle der »Stillen Stunde« – die seiner Meinung nach wirkungslos verlaufen würde – von 12.00 bis 12.10 Uhr unter Verzicht auf Einkommen und Gewinn eine totale Verkehrs- und Arbeitsruhe abzuhalten.
Die Christlich-Nationale Partei Westberlins13 lehnt die »Stille Stunde« ebenfalls ab, da sie ein »Prinzip der zwangsweisen Freiheit« bedeute und fordert »stärkere Maßnahmen«.
In Erwiderung dieser Einwände gab die Westberliner SPD am 7.8.1964 eine öffentliche Erklärung ab, in der sie ihr »Befremden« über die Kritik ausdrückt, die der Schweigeaufruf des Senats bei »Einzelpersonen« und »kleineren Gruppen« gefunden hat.
Der Westberliner Senat rechnet trotz der getroffenen Vorbereitungen zur Durchführung der »Stillen Stunde« in Westberlin mit Komplikationen im Verkehr, die sich u. a. infolge in Westberlin eintreffender Fernzüge und Flugzeuge, deren Passagiere von der »Stillen Stunde« nicht unterrichtet sind, ergeben könnten. Der DGB plant deshalb die Herausgabe von Flugschriften an die ankommenden Reisenden, in denen sie um Verständnis für die Durchführung der »Stillen Stunde« gebeten werden.
Die BVG benötige jedoch nach der Verkehrsruhe eine Anlaufzeit von 1 bis 1½ Stunden, um den Verkehr zu normalisieren, woraus sich Verspätungen für die Nachtschicht ergeben könnten.