Fahnenflucht eines Offiziers der NVA-Grenztruppen
20. Januar 1965
Einzelinformation Nr. 48/65 über die Fahnenflucht eines Offiziers des Kommandos der Grenztruppen der NVA
Am 15.1.1965 wurde im Abschnitt der Kompanie Dippach des 2. Grenzbataillons Herda im Grenzregiment Eisenach der Oberoffizier für Bewaffnung im Stab des Grenzregiments Eisenach, 11. Grenzbrigade Meiningen, Hauptmann [Name 1, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1929 in Eisenach, wohnhaft Eisenach, [Straße Nr.], verheiratet, ein Kind, Mitglied der SED seit November 1957, Angehöriger der NVA seit 9.12.1949, nach Westdeutschland fahnenflüchtig.
[Name 1] hatte vom Regimentskommandeur Major [Name 2] Befehl, zusammen mit den Genossen des Kfz- und Waffeninstandsetzungstrupps vom Stab des Grenzregiments Eisenach in der Zeit vom 9. bis 15.1.1965 in den Linienkompanien des Grenzregiments im Bereich des Grenzbataillons Herda die vorhandenen Waffen und die Munition sowie die Kfz-Technik zu überprüfen und Instandsetzungsarbeiten durchzuführen.
Am 13.1.1965 befand sich [Name 1] zur Kontrolle und Instandsetzung der Waffen in der Grenzkompanie Dippach. An diesem Tage führten der Regimentskommandeur Major [Name 2] und der Bataillonskommandeur Major [Name 3] in diesem Kompaniebereich ihre obligatorische Grenzbesichtigung durch. Dieser Grenzbegehung schloss sich Hauptmann [Name 1] an. Obwohl lt. Dienstvorschrift dem Offizier für Bewaffnung nicht gestattet ist, feindwärts der Sperre Arbeiten durchzuführen oder Besichtigungen vorzunehmen, wurde dem [Name 1] die Teilnahme an der Grenzbegehung vom Regimentskommandeur Major [Name 2] nicht verwehrt, der damit entgegen den bestehenden Befehlen handelte und sich aufgrund der täglichen Zusammenarbeit mit [Name 1] vertrauensselig verhielt.
Nach der Grenzbegehung kehrte [Name 1] mit dem Waffeninstandsetzungstrupp zum Stab des Grenzregiments Eisenach zurück. Von hier begab sich [Name 1] am 15.1.1965, um 8.00 Uhr, mit seinem Instandsetzungstrupp erneut zur Kompanie Dippach zur Fortsetzung der Instandsetzungsarbeiten. Auf der Fahrt dorthin ließ er vor seiner Wohnung halten, um seiner Ehefrau das an diesem Morgen erhaltene Gehalt auszuhändigen und ihr mitzuteilen, dass er am gleichen Tage gegen 19.30 Uhr zurückkommen werde. In der Kompanie Dippach angekommen, verrichtete [Name 1] im Laufe des Vormittags die ihm übertragenen Aufgaben. Gegen 13.00 Uhr traf in der Kompanie Dippach der Bataillonskommandeur [Name 3] ein, um an einer FDJ-Versammlung in der Kompanie teilzunehmen. An ihn trat [Name 1] heran und bat ihn, ihm eine erneute Grenzbegehung zu genehmigen. Als Vorwand dafür benutzte [Name 1] die Legende, er habe bei der gemeinsamen Grenzbegehung am 13.1.1965 sein Pistolenmagazin verloren und wolle es suchen gehen. Ohne die Behauptung des [Name 1] durch eine Waffenkontrolle ungeachtet der Dienststellung des [Name 1] an Ort und Stelle zu prüfen und außerdem erneut gegen die Dienstvorschrift verstoßend, gewährte Major [Name 3] dem [Name 1] diese Bitte, wobei er lediglich befahl, dass [Name 1] von zwei Unterführern ins Grenzgebiet begleitet wird. Letzteres erfolgte, da es lt. Dienstanweisung nicht erlaubt ist, dass sich ein Offizier allein im unmittelbaren Grenzstreifen aufhält, ohne von zwei Posten vor Provokationen u. a. feindlichen Handlungen gesichert zu werden. Die entsprechende Einweisung der den [Name 1] begleitenden Unterführer in ihre Aufgaben erfolgte durch den Diensthabenden der Kompanie Dippach.
Danach verließ [Name 1], gegen 13.30 Uhr, in Begleitung des Angehörigen des Waffeninstandsetzungstrupps Ufw. [Name 4] und des Angehörigen der Kompanie Dippach Uffz. [Name 5] mit dem Kfz die Kompanie in Richtung Eingang zum 500-m-Streifen. Hier stellte [Name 1] das Fahrzeug ab und begab sich mit den beiden Unterführern zu Fuß zum unmittelbaren Grenzverlauf, um die Suche nach dem angeblich verloren gegangenen Magazin feindwärts der Sperre aufzunehmen. An der Sperre angekommen, versuchte [Name 1] bereits die beiden Unterführer zu bewegen, dort auf ihn zu warten, was von den beiden abgelehnt wurde. Daraufhin nahmen alle drei die Suche nach dem Magazin in dem Gelände feindwärts der Sperre auf einer Länge von 400 m auf. Im Verlaufe der Suche nach dem Magazin gelang es dem [Name 1] schließlich aufgrund seines Vorgesetztenverhältnisses durch entsprechende Weisungen beide Unterführer davon abzuhalten, ständig in seiner Sichtnähe zu bleiben und durch eine Trennung von den ihn begleitenden Unterführern fahnenflüchtig zu werden.
Nachdem Ufw. [Name 4] und Uffz. [Name 5] den [Name 1] nicht mehr finden konnten, erstatteten sie sofort Meldung über das Grenzmeldenetz an die Kompanie. Sofort eingeleitete Untersuchungen und der Einsatz eines Fährtenhundes bestätigten, dass [Name 1] fahnenflüchtig geworden ist. [Name 1] hatte seine Dienstwaffe und das Parteidokument feindwärts der Sperre abgelegt und zurückgelassen. Die aufgefundene Waffe bestätigte auch, dass [Name 1] die Behauptung über den Verlust des Magazins nur als Legende benutzte, um zur Ausführung seiner Fahnenflucht erneut in das unmittelbare Grenzgebiet gelangen zu können.
Die Ermittlungen zur Person und zum Motiv seiner Fahnenflucht führten zu folgenden Feststellungen:
[Name 1] hat keinen Beruf erlernt. Vor seinem Eintritt in die Reihen der damaligen Kasernierten Volkspolizei im Dezember 1949 in Gotha hat er ein Jahr auf einem Bauerngehöft in Langenbieber Westdeutschland gearbeitet. Nach dem Besuch der Offz.-Schule in Naumburg1 bekleidete er mehrere Funktionen des operativen Dienstes wie Zugführer, Offizier für Schießausbildung, Offizier für Schulung und Ausbildung. 1961 absolvierte [Name 1] einen Waffenmeisterlehrgang an der Militärakademie Dresden und wurde danach als Leiter der Unterabteilung Munition im Stab der 11. Grenzbrigade Meiningen eingesetzt. Da seine Arbeitsleistung im Brigadestab aufgrund ungenügender Qualifikation nicht ausreichend war, wurde [Name 1] zum Grenzregiment Eisenach versetzt, wo er seit dem 1.10.1963 als Offizier für Bewaffnung im Stab des Grenzregiments tätig war. Den funktionellen Pflichten als Offizier für Bewaffnung wurde [Name 1] bei unterschiedlichen Arbeitsleistungen gerecht.
Durch eine Reihe ideologischer Mängel und Schwächen wurde [Name 1] jedoch seit etwa einem halben Jahr der Partei- und massenpolitischen Erziehungsarbeit nicht mehr gerecht, weshalb vorgesehen war, ihn von seiner Funktion als Parteileitungsmitglied zu entbinden und ihn als Gruppenorganisator einzusetzen. [Name 1] erfüllte die ihm als Parteileitungsmitglied übertragenen Aufgaben nicht mehr, verhielt sich wiederholt versöhnlerisch zu den ihm unterstellten NVA-Angehörigen bei festgestellten Disziplinarverstößen und zeigte als Offizier im Dienst und im privaten Leben ein kleinbürgerliches Verhalten.
Nach den bisherigen Ermittlungen sah [Name 1] in seiner Ablösung vom Stab der Brigade eine Rückwärtsentwicklung. Er betrachtete seine Entwicklung mit der Versetzung zum Stab des Grenzregiments für abgeschlossen, sah für sich keinerlei weitere Perspektive und hatte das Vertrauen zu seinen Dienstvorgesetzten und zur Parteiorganisation verloren, sodass darin das Hauptmotiv für seine Fahnenflucht gesehen werden muss. [Name 1], der wenig Bindung zu anderen Offizieren seiner Einheit hatte, galt im Stab des Grenzregiments als Einzelgänger. Sein Familienleben war geordnet, sodass familiäre Ursachen für seinen Verrat ausgeschlossen sind.
[Name 1] ist aufgrund seiner langjährigen Dienstzeit im Stab der 11. Grenzbrigade und im Bereich des Grenzregiments Eisenach in der Lage, über die Struktur, den leitenden Personalbestand, die Ausrüstung der Einheiten mit Waffen, Munition und Technik sowie über das System der Minensperre und die Organisation des Grenzdienstes im gesamten Bereich des Grenzregiments Eisenach umfangreichen Verrat zu üben.