Gefährdung der Bergbausicherheit durch Rübelandbahn
14. Dezember 1965
Einzelinformation Nr. 1113/65 über die Gefährdung der Sicherheit in den Bergbaubetrieben im Gebiet Rübeland (Bezirk Magdeburg) infolge Aufnahme des elektrischen Zugbetriebes auf der Rübelandbahn
Dem MfS liegen Hinweise vor, dass sowohl bei Probefahrten als auch mit Inbetriebnahme des elektrischen Zugbetriebes der Rübelandbahn1 am 10.12.1965 verstärkt sog. elektrische Kriech- bzw. Streuströme auftreten, durch die in den im Bereich der Rübelandbahn gelegenen Bergbaubetrieben Gefahren für die Abraumarbeit unter Tage entstehen.
Durch diese sog. Kriech- bzw. Streuströme, hervorgerufen durch nach bisherigen Feststellungen nicht vermeidbare Kurzschlüsse (ausgelöst durch Nebel, hohe Feuchtigkeit, Herabfallen der Leitung usw.) in den installierten Leitungen und Fahrzeugmotoren, besteht die Gefahr, dass die zzt. in den betreffenden Bergbaubetrieben verwendeten Zünder für die Gesteinsprengung vorzeitig und unkontrolliert ausgelöst werden.
In diesem Zusammenhang wurde dem MfS Folgendes bekannt:
Die Umstellung der Rübelandbahn auf elektrischen Zugbetrieb wurde bereits 1957 projektiert. Die Notwendigkeit dieses Projektes ergab sich insbesondere aufgrund eines immer größer werdenden Verkehrsaufkommens in diesem Gebiet sowie durch die ungenügende technische Ausrüstung der Rübelandbahn, die den gewachsenen Anforderungen nicht mehr entsprach.
Dieses Projekt Rübeland beinhaltete die Erhöhung der Durchlassfähigkeit der Strecke Halberstadt–Blankenburg–Tanne, einschließlich der Elektrifizierung der Strecke Blankenburg–Königshütte.
Das Vorhaben umschließt die Schaffung von
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30,4 km elektrifizierter Strecke und Erhöhung der Geschwindigkeit von 30 auf 50 km/h,
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18,9 km Betriebsgleis,
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8 Gleisbildstellwerken; ferner
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20,3 km Oberbauerneuerung,
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50 cbm Brückenbauten sowie Anschaffung von
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15 Elektrolokomotiven der Baureihe 50 Hz.2
(Durch die Elektrifizierung nach dem 50-Herzsystem sollten gleichzeitig die im VEB Hennigsdorf entwickelten 50-Herz-E-Loks im praktischen Zugbetrieb erprobt werden, wie in einer gemeinsamen Entscheidung des Volkswirtschaftsrates, der Staatlichen Plankommission und des MfV festgelegt wurde.)
Nach allseitigen Untersuchungen über die perspektivische Entwicklung dieses Gebietes, der besonderen geologischen Bedingungen, der ökonomischen Notwendigkeit und des Nutzens durch das Ministerium für Verkehrswesen, Hauptverwaltung Maschinenwirtschaft, wurde das Projekt durch das MfV und durch die Staatliche Plankommission bestätigt. Vorher war das Projekt mit der Bergbehörde Staßfurt beraten und von dort auch bestätigt worden. In der Zustimmungserklärung waren hinsichtlich möglicher Beeinflussungen des Bergbaubetriebes durch den geplanten elektrischen Zugbetrieb der DR keine Forderungen gestellt bzw. Auflagen erteilt worden. (In diesem Zusammenhang ist jedoch einzuschätzen, dass offensichtlich zum Zeitpunkt der Bestätigung des Projekts eine Einschätzung des Auftretens von Streuströmen und deren Auswirkungen noch nicht möglich war.)
Das Projekt unterlag vom Zeitpunkt seiner Planung und Erarbeitung bis zu seiner Beendigung einer intensiven Kontrolle durch das Ministerium für Verkehrswesen, Hauptverwaltung Maschinenwirtschaft, die Staatliche Plankommission, die ABI und andere Kontrollinstitutionen. Fehlprojektierungen, auch in Detailfragen, wurden dem MfS nicht bekannt.
Die endgültige Inbetriebnahme des elektrischen Zugbetriebes der Rübelandbahn erfolgte am 10.12.1965, nachdem sich vorher zweimalige Terminverschiebungen infolge unvorhergesehener Schwierigkeiten geologischer Art bei der Baudurchführung ergeben hatten.
Mit Fortschreiten der Arbeiten an der elektrifizierten Strecke der Rübelandbahn im unmittelbaren Bereich der an dieser Strecke gelegenen Bergbaubetriebe häuften sich die Hinweise über ein vermehrtes Auftreten von Streuströmen, wobei eindeutig nachgewiesen wurde, dass dadurch ausgelegte Zünder zum Gesteinsprengen vorzeitig detonierten und größere Gefahren für die Abraumarbeit unter Tage hervorgerufen wurden.
Die durch derartige Streuströme gefährdete Strecke liegt in dem Gebiet zwischen Braunesumpf und Königshütte und umfasst eine Länge von ca. 20 km. In diesem Streckenabschnitt befinden sich unter Tage die Eisenerzgrube Braunesumpf, Eisenerzgrube Büchenberg und die Schwefelkiesgrube »Einheit« Elbingerode.
(Diese Gruben gehören zum VEB BHK Calbe und unterstehen der VVB Eisenerz-Roheisen.)
Außerdem liegen an dieser Strecke drei Kalktagebaue:
Kalktagebau »Buna« (in Rübeland), Kalktagebau Hornberg (in Hornberg), Kalktagebau »Piesteritz« (in Elbingerode).
(Die Tagebaue »Buna« und »Piesteritz« unterstehen den Werken VEB Buna und Chemiefaserwerk Piesteritz, der Tagebau Hornberg dem Werk Zementanlagenbau Dessau.)
Erste Beratungen über diese Problematik wurden bereits 1963 zwischen Vertretern der Bergbaubetriebe und der Reichsbahn geführt, allerdings infolge fehlender Erfahrungen und Messungen ohne konkrete Vereinbarungen.
Auch die in der Folgezeit durchgeführten Besprechungen blieben ohne wesentliche Ergebnisse.
Erst im Oktober 1965 – also unmittelbar vor der Fertigstellung und Inbetriebnahme der Strecke – wurde aufgrund der verstärkten Hinweise über die auftretenden und zu erwartenden Gefahren seitens der Obersten Bergbehörde der DDR die Forderung erhoben, von der vorgesehenen Inbetriebnahme der Strecke bis zur Umrüstung der Gruben mit neuen Kondensatoren-Zündmaschinen Abstand zu nehmen. (Bei Verwendung anderer, größerer Zünder, die jedoch die Anschaffung von Kondensatoren-Zündmaschinen bedingen, kann ein unkontrolliertes Auslösen der Zünder trotz vorhandener Streuströme verhindert werden.)
Am 20.11.1965 wurden durch den Volkswirtschaftsrat, Abteilung Schwarzmetallurgie, zunächst Valuta in Höhe von 500 000 Dollar für die Beschaffung eines Teiles der erforderlichen Zündmaschinen, die von der Fa. Schaffler & Co. aus Wien importiert werden müssen, zur Verfügung gestellt. Zu welchem Zeitpunkt diese Zündmaschinen eingesetzt werden können, ist gegenwärtig noch nicht bekannt.
Am 31.10.1965 und am 7.11.1965 erfolgten durch die Versuchs- und Entwicklungsstelle der Maschinenwirtschaft Halle, unter Anleitung des Instituts für Grubensicherheit, Zweigstelle Freiberg, die notwendigen Messungen auf der fertiggestellten Strecke zur Feststellung der Streuströme. Die Messungen wurden in drei Richtungen durchgeführt:
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unter den Bedingungen des Wirkens von Streuströmen ohne Einfluss der Anlagen der Deutschen Reichsbahn,
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ausschließlich mit DR-Einfluss und
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sowohl bei Grubenbetrieb als auch mit DR-Einfluss.
Während dieser Messungen wurden die erforderlichen Streuströme durch Kurzschlussbildung ausgelöst, da derartige Vorgänge nicht bei normalem Stromfluss, sondern nur durch Kurzschlüsse in den installierten Leitungen und Fahrzeugmotoren entstehen. Zu Kurzschlüssen kommt es jedoch im betreffenden Gebiet häufig durch Nebel, hohe Feuchtigkeit, Herabfallen von Leitungen u. a., sodass Streuströme in großer Häufigkeit auftreten.
Das Ergebnis dieser Messungen erbrachte, dass Streuströme bereits ohne Einfluss der Anlagen der DR, d. h. allein durch bergbaueigene Starkstromanlagen, eine gefährliche Größenordnung aufweisen und dass dabei bereits einige der ausgelegten Zünder detonierten. Folglich wären, unabhängig von dem jetzt fertiggestellten Projekt, schon Maßnahmen zur Gewährung der erforderlichen Sicherheit notwendig gewesen.
Bei den Versuchen unter Einfluss der Reichsbahnanlagen detonierten von 130 zur Kontrolle ausgelegten Zündern 27; in einem anderen Fall von 137 Zündern 35.
Lediglich die Versuche mit streustromunempfindlichen Zündern – die bei Verwendung der Kondensatoren-Zündmaschinen aus Österreich eingesetzt werden können – ergaben, dass eine Durchführung des elektrischen Zugbetriebes ohne Gefahren für die Abraumarbeit möglich ist.
Im Ergebnis dessen wurde neben den verstärkten Anstrengungen zum Import der Kondensatoren-Zündmaschinen aus Österreich die Reichsbahn zur Einleitung folgender betrieblicher Maßnahmen verpflichtet:
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Koordinierung der Lokfahrten zwischen der Deutschen Reichsbahn und den Bergbaubetrieben,
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Abschluss einer Vereinbarung über das Zuschalten der Strecke mit Fahrstrom, wobei die Zuschaltung nur im Einvernehmen mit den betreffenden Gruben erfolgen soll, sowie
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Erarbeitung von Varianten zu einer unterbrochenen elektrischen Betriebsführung, die die Abstimmung der Sprengarbeiten und des Zugbetriebes sichern soll, unter Verantwortung der Reichsbahndirektion Magdeburg.
Zur Verhinderung der vorzeitigen Explosion von Sprengmitteln durch Streuströme wurde veranlasst, dass ab 10.12.1965 täglich von 3.00 bis 06.00 Uhr, 11.00 bis 14.00 Uhr und 19.00 bis 22.00 Uhr auf der elektrifizierten Strecke der Rübelandbahn Stromsperren eingelegt werden. Über diese Festlegungen sind nach bisherigen Feststellungen alle Beteiligten (DR und Bergbaubetriebe) informiert worden.
Nach diesen Festlegungen kann der gesamte Güterverkehr nur in der Zeit zwischen den o. g. Sperrpausen abgewickelt werden, da er ausschließlich unter Ausnutzung des elektrifizierten Betriebes erfolgt. Der Personenverkehr ist durch den Einsatz von Dieselloks durchgängig gewährleistet.
Nach Ansicht von Experten bieten jedoch diese Maßnahmen, die auch nur auf die DR beschränkt sind, noch keine vollständige Sicherheit für den Bergbau. Die bisherigen Maßnahmen lassen demnach noch Möglichkeiten offen, wonach durch menschliches Versagen, insbesondere fahrlässiges Handeln, große Unsicherheitsfaktoren für die im Bergbau Beschäftigten auftreten können.
Als Unsicherheitsfaktor für den Grubenbetrieb wirken auch weiterhin noch die durch bergbaueigene Anlagen entstehenden Streuströme, die trotz Hinweisen nach den erwähnten Messungen und danach festgelegten Maßnahmen bisher nicht restlos beseitigt wurden.
In diesem Zusammenhang wird vorgeschlagen, zu überprüfen, inwieweit aus den Erkenntnissen beim Bau der Rübelandbahn auch Folgerungen für andere ähnliche Projekte, vor allem des Bergbaus, getroffen werden sollten.