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Fluchtversuch von Jugendlichen nach Westberlin

[ohne Datum]
Information Nr. 847/71 über einen ungesetzlichen Grenzübertritt DDR – Westberlin durch drei Jugendliche am 22. August 1971

Am 22.8.1971, gegen 20.50 Uhr, wurde durch Angehörige der NVA-Grenztruppen im Abschnitt Kleinmachnow, Philipp-Müller-Allee,1 beim Versuch, die Staatsgrenze der DDR nach Westberlin zu durchbrechen, unter Anwendung der Schusswaffe (zwei Warnschüsse), der DDR-Bürger Friedrich, Karl-Heinz, geboren [Tag, Monat] 1951, wohnhaft Leipzig, [Straße, Nr.], Beruf: ohne, zuletzt tätig als Industrieanstreicher im VEB Industrieisolierung Leipzig, Baustelle Lippendorf, Vorstrafen: [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben] festgenommen.2

Die durch das MfS geführten Untersuchungen ergaben:

Nach Aussagen des Friedrich befand er sich gemeinsam mit drei weiteren DDR-Bürgern in diesem Grenzabschnitt, die unmittelbar vor seiner Festnahme durch gegenseitige Unterstützung die Grenzsicherungsanlagen überwunden und die Staatsgrenze der DDR nach Westberlin durchbrochen hatten.

Als Täter des gelungenen ungesetzlichen Grenzübertritts wurden ermittelt:

  • 1.

    [Name 1, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1953, wohnhaft 705 Leipzig, [Straße, Nr.], Beruf: Maschinenformer, zuletzt als solcher im VEB GISAG Leipzig, Vorstrafen: [Datum des Urteils, Angabe des Gerichtes] ein Jahr Freiheitsentzug bedingt mit zwei Jahren Bewährung wegen Passvergehen, [Datum des Urteils, Angabe des Gerichtes] ein Jahr Freiheitsentzug wegen versuchten illegalen Verlassens der DDR über die ČSSR;

  • 2.

    [Name 2, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1953, wohnhaft 705 Leipzig, [Straße, Nr.], Beruf: ohne, zuletzt tätig als Isolierer im VEB Industrieisolierung Leipzig, Baustelle Boxberg, seit 24.7.1971 ohne Beschäftigung, keine Vorstrafen;

  • 3.

    [Name 3, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1954, wohnhaft 705 Leipzig, [Straße, Nr.], Beruf: ohne, zuletzt tätig als Isolierer im VEB Industrieisolierung Leipzig, keine Vorstrafen.

Friedrich, der ebenso wie zum Teil die Jugendlichen [Name 1], [Name 2] und [Name 3] in zerrütteten bzw. asozialen Verhältnissen aufwuchs, ist von Kindheit an mit diesen befreundet. Sie fanden sich, bedingt durch gemeinsames Interesse an Beatmusik, des Öfteren zu sogenannten Partys in ihren Wohnungen zusammen.

Die Jugendlichen [Name 1], [Name 2] und [Name 3] traten in der Vergangenheit häufig wegen Arbeitsbummelei und begangener krimineller Handlungen in Erscheinung, wofür sie strafrechtlich sowie mit Mitteln der gesellschaftlichen Erziehung zur Verantwortung gezogen wurden.

Seit Anfang Juli 1971 trug sich Friedrich mit dem Gedanken des ungesetzlichen Verlassens der DDR [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben]. Er hatte die Absicht, zu seiner seit 1952 in der BRD lebenden Mutter zu gelangen.

Sein Vorhaben, die DDR ungesetzlich zu verlassen, offenbarte er etwa Mitte Juli 1971 seinem Freund [Name 1], der sich dabei aufgrund bestehender Auseinandersetzungen im Elternhaus entschloss, gemeinsam mit Friedrich die DDR ungesetzlich zu verlassen.

Am 17.7.1971 fuhr [Name 1], einer Einladung folgend, zu dem Jugendlichen [Name 4, Vorname], geboren am: [Tag, Monat] 1954, tätig als Arbeiter im VEB BMK Potsdam, wohnhaft Kleinmachnow, [Straße, Nr.], wo er sich einen Tag in der unmittelbar an das Grenzgebiet angrenzenden Wohnung des [Name 4] aufhielt, um an einer Party teilzunehmen.

[Name 1] hatte den [Name 4] […] in Leipzig wohnhaften Großeltern kennengelernt.

Unter Ausnutzung seines Aufenthaltes in unmittelbarer Nähe der Staatsgrenze der DDR zu Westberlin – die Grenzsicherungsanlagen sind etwa 100 Meter vom Wohnhaus des [Name 4] entfernt – erkundete [Name 1] den dortigen Grenzabschnitt, wobei er von einer Streife der NVA-Grenztruppen gestellt, jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt wurde, da er erklärte, bei einem Bekannten zu Besuch zu sein und sich verlaufen zu haben.

Die Untersuchungen haben ergeben, dass [Name 4] keine Kenntnis von der durch [Name 1] erfolgten Aufklärung der Staatsgrenze hatte und ihm auch keine Hinweise über die Lage im Grenzabschnitt gegeben hat.

Eine ihm von [Name 1] im Gespräch mit [Name 4] gemachte Andeutung über ein mögliches ungesetzliches Verlassen der DDR im Verlaufe des Jahres 1971, habe er nicht ernstgenommen und deshalb auch keine entsprechende Mitteilung an die Sicherheitsorgane der DDR gemacht.

Nach Rückkehr des [Name 1] aus Kleinmachnow am 19.7.1971 setzte dieser den Friedrich von seinen im Grenzabschnitt Kleinmachnow getroffenen Feststellungen in Kenntnis und unterbreitete den Vorschlag, in diesem Raum ihr Vorhaben, die DDR ungesetzlich nach Westberlin zu verlassen, zu verwirklichen.

Darüber hinaus kamen sie entsprechend einem Vorschlag des [Name 1] überein, die mit ihnen befreundeten Jugendlichen [Name 2] und [Name 3] – die in den letzten Monaten wegen Arbeitsbummelei mehrfach disziplinarisch bestraft wurden – für den von ihnen geplanten Grenzdurchbruch zu gewinnen, da sie der Ansicht waren, dass eine Überwindung der Grenzsicherungsanlagen durch gemeinsame Unterstützung mehrerer Personen erfolgversprechender sei.

[Name 1] sprach daraufhin in der Folgezeit [Name 2] und [Name 3] hinsichtlich ihrer Beteiligung an einem Grenzdurchbruch an.

Beide erklärten sich zum gemeinsamen Grenzdurchbruch bereit, da sie sich, nach Aussagen des Friedrich, in Westberlin oder der BRD bessere berufliche Entwicklungsmöglichkeiten als in der DDR erhofften.

Im Verlaufe einer gemeinsamen Zusammenkunft am Vormittag des 22.8.1971 in einer Gaststätte in Leipzig legten alle vier fest, noch am gleichen Tag im Raum von Kleinmachnow die Staatsgrenze der DDR nach Westberlin zu durchbrechen.

Gemäß ihrer Vereinbarung fuhren Friedrich und [Name 3] am Nachmittag des 22.8.1971 unter Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, [Name 1] und [Name 2] unter Benutzung des Krades des [Name 2] sowie unter Mitführung von zwei Zangen und einer Drahtschere nach Kleinmachnow, wo sie sich gegen 19.30 Uhr in der Philipp-Müller-Allee, Ecke Machnower Busch, etwa 30 Meter von den Grenzsicherungsanlagen entfernt, trafen.

Unmittelbar danach begaben sie sich unter Zurücklassung des ca. 150 Meter von den Grenzsicherungsanlagen entfernt abgestellten Krades von der Philipp-Müller-Allee aus, gedeckt durch hohes Buschwerk, an die Staatsgrenze. Nach Übersteigen des Hinterlandsicherungszaunes bewegten sie sich entlang der unteren Böschung des Pfuhls bis zum Signalzaun, durchschnitten die unteren drei Drähte des Signalzaunes, durchkrochen diesen und überwanden im weiteren Laufen den Kolonnenweg sowie anschließend den Kontrollstreifen bis zum Streckmetallzaun. Mit gegenseitiger Unterstützung gelang es [Name 1], [Name 2] und [Name 3] nach Entledigung ihres Schuhwerkes und des mitgeführten Werkzeuges, gegen 20.50 Uhr den Streckmetallzaun zu überklettern und die Staatsgrenze nach Westberlin zu durchbrechen.

Die Rekonstruktion des ungesetzlichen Grenzübertritts und der Handlungen der zum Tatzeitpunkt in diesem Grenzabschnitt eingesetzten Posten der NVA-Grenztruppen hat ergeben, dass

  • die Annäherung der Grenzverletzer an die Staatsgrenze und die Überwindung aller Grenzsicherungsanlagen von den jeweils 450 m vom Tatort entfernt eingesetzten Grenzposten trotz der vorhandenen Lichttrasse nicht festgestellt wurde,

  • die Auslösung eines Feldes des Grenzsignalzaunes durch entsprechende Anzeige auf dem Beobachtungsturm »Erlenweg« nicht zum Anlass von Sofortmaßnahmen zur Verhinderung eines möglichen Grenzdurchbruches genommen wurde,

  • die Meldung der Grenzposten auf dem 450 m vom Tatort entfernten Beobachtungsturm »Wassergraben« über das Erkennen von Schatten im Handlungsstreifen vom stellvertretenden Zugführer nicht im Zusammenhang mit der Auslösung des Grenzsignalzaunes beurteilt und von ihm lediglich der Gruppenführer zur Feststellung der Ursache der Auslösung des Signalzaunes befohlen wurde.

Die Inaktivität des stellvertretenden Zugführers des Führungspunktes I, dessen falsche Beurteilung der Lage und daraus resultierende fehlerhafte Befehlgebung begünstigten wesentlich das ungehinderte Durchbrechen der Staatsgrenze durch [Name 1], [Name 2] und [Name 3].

Der Beschuldigte Friedrich, der als letzter den Streckmetallzaun überwinden wollte, wurde von einer zu diesem Zeitpunkt eingetroffenen Kradstreife der NVA-Grenztruppen am Boden liegend gestellt und festgenommen. Bei der Festnahme des Friedrich wurden zwei Warnschüsse abgegeben, da der Grenzverletzer der Aufforderung, aufzustehen und sich vom Streckmetallzaun zurückzubegeben, nicht sofort Folge leistete.

Zum Zeitpunkt des Grenzdurchbruches sowie bei der Festnahme des Friedrich wurden im westlichen Vorfeld keine gegnerischen Kräfte festgestellt. Gegen 21.15 Uhr näherten sich auf Westberliner Gebiet zwei in Deckung gehende Zivilpersonen und ein Angehöriger der Westberliner Polizei, die diesen Grenzabschnitt beobachteten.

Im Ergebnis der Rekonstruktion des gelungenen ungesetzlichen Grenzübertritts wurden weitere Mängel und Lücken im System der Grenzsicherung, insbesondere der militärischen Sicherung der Staatsgrenze der DDR zu Westberlin im Abschnitt des Grenzregimentes 44 Kleinmachnow festgestellt, die den ungesetzlichen Grenzübertritt nach Westberlin begünstigten.

Das wird u. a. durch folgende Fakten deutlich:

  • Der Postenführer vom Beobachtungsturm »Erlenweg« beurteilte den ihm zugewiesenen Grenzabschnitt falsch und befahl im Ergebnis dessen seinem Posten den komplizierteren Abschnitt zur Sicherung. Nach erfolgter Auslösung des Grenzsignalzaunes befahl er keine verstärkte Beobachtung dieses Abschnittes und nutzte die vorhandenen Hilfsmittel, wie Dienstglas und Scheinwerfer, nicht zur Beobachtung des Geländes.

  • Durch falsche Numerierung der Grenzsignalfelder am Anzeigegerät des Beobachtungsturmes »Erlenweg« war es dem Postenführer nicht sofort möglich, das ausgelöste Signalfeld zu erkennen.

  • Der in diesem Grenzabschnitt vorhandene Streckmetallzaun ist mit einem dunklen Rostschutzanstrich versehen, wodurch den Grenzposten das Erkennen von Grenzverletzern beim Überwinden dieses Sperrelementes erheblich erschwert wird.

  • Durch die starke Bewachsung bis zum Signalzaun und die ungünstige Ausleuchtung des Grenzabschnittes in Richtung eigenes Hinterland (wie auch zum Teil in Richtung Staatsgrenze) begünstigte die gedeckte Annäherung und ungehinderte Überwindung des Grenzsignalzaunes.

Die Untersuchungen des MfS zur umfassenden Aufklärung der Motive und Ziele des gelungenen ungesetzlichen Grenzübertritts durch [Name 1], [Name 2] und [Name 3] sowie des versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts des Friedrich werden fortgesetzt.

  1. Zum nächsten Dokument Antisowjetische Vorkommnisse und Vorfälle mit sowjetischen Soldaten

    [ohne Datum]
    Information Nr. 970/71 über Vorkommnisse und Handlungen antisowjetischen Charakters bzw. unter Beteiligung von Angehörigen der Gruppe der zeitweilig in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte

  2. Zum vorherigen Dokument Havarie im Kraftwerk Thierbach

    22. September 1971
    Information Nr. 905/71 über die am 8. August 1971 verursachte Havarie am Turbinensatz 1 im Betriebsteil Thierbach des VEB Kraftwerke Lippendorf-Thierbach, [Bezirk] Leipzig