Probleme mit algerischen Arbeitern in der DDR
[ohne Datum]
Information Nr. 105/76 über einige Probleme im Zusammenhang mit dem Einsatz und dem Aufenthalt algerischer Werktätiger in der DDR
Im Zusammenhang mit den vom MfS geführten Untersuchungen über aufgetretene Konflikte unter Beteiligung algerischer Werktätiger in Einsatzbetrieben wie auch im Freizeitbereich wurde deutlich, dass neben den Fehlverhaltensweisen algerischer Werktätiger besonders die in der Vergangenheit aufgetretenen Mängel und Schwächen in der Einsatzvorbereitung und Eingliederung der algerischen Werktätigen in den Produktionsprozess bzw. in den Freizeitbereich solche negative Erscheinungen wie Arbeitskonflikte, kriminelle Delikte u. a. begünstigt haben.
Wie festgestellt wurde, gab es in der DVR Algerien Versäumnisse und objektive Schwierigkeiten bei der Auswahl und Vorbereitung der algerischen Werktätigen auf den Einsatz in der DDR, die nach Anreise der algerischen Werktätigen in die DDR nicht durch geeignete Maßnahmen ausreichend kompensiert wurden (z. B. unzureichende Unterweisungen zu Lohn- und Qualifizierungsfragen, Lohnabrechnung, gesellschaftlichen Verhaltensnormen u. a.).
Ein oftmals routinemäßiges Herangehen an die Durchsetzung gefasster Beschlüsse, erlassener Anordnungen und Weisungen sowie getroffener Vereinbarungen trugen der besonderen Problematik, die sich aus dem Bildungsstand, der Mentalität und dem Nichtvertrautsein der algerischen Werktätigen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen eines sozialistischen Staates ergeben, nicht in ausreichendem Umfang Rechnung.
Die Tatsache, dass eine entsprechende politisch-ideologische Einflussnahme auf die DDR-Bevölkerung durch Presse, Funk und Fernsehen nicht erfolgte, wurde nicht ausreichend durch zweckentsprechende politisch-ideologische Maßnahmen in den Einsatzbetrieben und den Einsatzterritorien abgefangen. Zu beachten ist darüber hinaus, dass durch die bestehenden politisch-ideologischen Unklarheiten auch die verantwortlichen staatlichen und wirtschaftsleitenden Funktionäre die Eingliederung der algerischen Werktätigen teilweise als eine »Sache an sich« einordneten und vor allem nur unter dem Aspekt der Zuführung von Arbeitskräften betrachteten. Damit wurde Tendenzen einer gewissen »Gastarbeiterideologie« Vorschub geleistet.
In den Untersuchungen des MfS wurde allerdings wiederholt sichtbar, dass bei einer Vielzahl von Vorkommnissen die eingangs genannten Probleme nicht mehr in direktem Zusammenhang mit diesen Erscheinungen standen. So machten Konfliktsituationen teilweise Sofortentscheidungen erforderlich, z. B. bei der Anwendung polizeilicher Maßnahmen zur Beendigung von Schlägereien bzw. um die Arbeitsaufnahme von unter Alkoholeinfluss stehenden algerischen Werktätigen zu verhindern, was letztlich meist Arbeitsniederlegungen von Gruppen algerischer Werktätiger zur Folge hatte.
Diese Konfliktsituationen wurden auch nicht immer mit dem notwendigen »Fingerspitzengefühl« gelöst. Dazu einige typische Beispiele:
Am 10. Januar 1976 kam es während einer Tanzveranstaltung in Meuselwitz/Leipzig zu einer Schlägerei zwischen Jugendlichen und algerischen Werktätigen. Der Gaststättenleiter setzte einen »Ordnungsdienst« ein (bestehend aus 15 Jugendlichen, deren Charaktereigenschaften für eine solche Funktion kaum geeignet waren). Der Ordnungsdienst entfernte zwar die algerischen Werktätigen aufgrund der Auseinandersetzungen aus der HOG »Stadthaus«, ohne jedoch gleichzeitig die beteiligten DDR-Bürger des Raumes zu verweisen. Anderen algerischen Werktätigen, die mit den Tätlichkeiten nichts zu tun hatten, wurde der Zutritt zur Gaststätte ungerechtfertigt verwehrt. Die Zerstreuung der sich vor der Gaststätte fortsetzenden Auseinandersetzungen erforderte das Eingreifen des ABV, der die Anwendung des Schlagstockes für erforderlich hielt. Bei diesen Auseinandersetzungen wurden drei algerische Werktätige erheblich verletzt. Sie wurden vom ärztlichen Bereitschaftsdienst notdürftig »verarztet« und, obwohl arbeitsunfähig, nicht krankgeschrieben. Auch die unbedingt notwendige Röntgenuntersuchung unterblieb zunächst. Durch dieses Vorkommnis entstand eine Arbeitsniederlegung der algerischen Werktätigen, die zu 100 Stunden Arbeitsausfall führte.
Gaststättenverbote gegenüber algerischen Werktätigen und der oft wenig einfühlsame Einsatz von Ordnungsgruppen anlässlich von Tanzveranstaltungen, die wiederholt zu vermeidbaren Auseinandersetzungen führten, bilden nach Feststellung des MfS keine Einzelerscheinungen.
Am 21. Januar 1976 wurden drei im Traktorenwerk Schönebeck/Magdeburg eingesetzte algerische Werktätige, als sie im angetrunkenen Zustand zur Nachtschicht antraten, durch den Direktor für Kader und Bildung in ihr Wohnobjekt zurückgeschickt. Daraufhin erklärten sich 18 weitere algerische Arbeitskräfte mit ihnen solidarisch und legten die Arbeit nieder. In der darauf folgenden Frühschicht nahmen weitere 21 algerische Werktätige ihre Arbeit nicht auf. Die verspätet einsetzenden Aussprachen mit den algerischen Werktätigen, in denen die Entscheidung des Betriebsfunktionärs erläutert wurde, brachten eine Reihe bestehender Unzufriedenheiten der algerischen Werktätigen hervor.
Die nach solchen Ereignissen notwendig werdenden Aussprachen mit algerischen Werktätigen zeigen, dass die in kriminellen und Alkoholdelikten auftretende angestaute Aggressivität häufig auf
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Unklarheiten im Zusammenhang mit Entlohnungs- und Qualifizierungsfragen,
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Mängel in der Freizeitgestaltung und
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Reibungspunkte zwischen Teilen der DDR-Bevölkerung und algerischen Werktätigen aufgrund provozierenden Verhaltens und ideologisch unklarer Positionen auf beiden Seiten
zurückzuführen ist.
Wie bereits in der Information Nr. 80/76 vom 29. Januar 1976 über eine durchgeführte Unterschriftensammlung einer Oberschülerin in der Gemeinde Spergau, Kreis Merseburg, Bezirk Halle, umfassend berichtet wurde, machen derartige Vorkommnisse vor allem deutlich, dass bei nicht rechtzeitigem und der politischen Situation angepasstem Reagieren der örtlichen Organe bzw. der Betreuungskräfte in den Einsatzbetrieben sowie im Freizeitbereich ständig die Möglichkeit eintretender Konfliktsituationen größeren Ausmaßes in sich bergen [sic!].
In ähnliche Richtung deutet z. B. die Handlungsweise eines Jugendlichen aus der Gemeinde Bernsdorf, Kreis Hoyerswerda, Bezirk Cottbus, der Mitte Januar 1976 beabsichtigte, ca. 50 Jugendliche zusammenzufassen und anlässlich einer Diskothek in Schwepnitz/Kamenz/Dresden anwesende algerische Werktätige zusammenzuschlagen. (Die geplanten Aktivitäten wurden durch geeignete Maßnahmen der zuständigen Organe unterbunden.)
Die Auswertung aufgetretener Konflikte und die Beurteilung getroffener Maßnahmen weisen eindeutig darauf hin, dass die Ursachen solcher Konflikte weniger im Fehlen entsprechender klarer Weisungen, Ordnungen und anderer Vorschriften liegen, sondern vielmehr auf Inkonsequenz im Hinblick auf ihre Durchsetzung, Hilflosigkeit gegenüber der aufgetretenen Situation, fehlende Besonnenheit, mangelnde Initiative und auf die Unterschätzung möglicher Auswirkungen getroffener Entscheidungen zurückzuführen sind.
Verantwortlich für einen solchen Zustand ist eine bisher zu geringe zentrale staatliche Anleitung und Kontrolle der verantwortlichen Funktionäre in den Einsatzbetrieben und -territorien, die vor allem zur Auswertung gewonnener Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Einsatz algerischer Werktätiger erforderlich gewesen wären.
Obwohl dem Staatssekretariat für Arbeit und Löhne die Mängel in der Erläuterung der lohnpolitischen Zusammenhänge und leistungsabhängigen Verdienstmöglichkeiten gegenüber den algerischen Werktätigen bekannt sind, kam es nach den bedeutsamen Arbeitskonflikten (Gaskombinat Schwarze Pumpe u. a.) in einer Reihe weiterer Einsatzbetriebe (VEB PCK, Betriebsteil »Otto Grotewohl« Böhlen, VEB Kunstseidenwerk Pirna, VEB Leichtmetallwerk Nachterstädt, VEB Rotasym Pößneck) zu Arbeitsdifferenzen, die bei rechtzeitiger Auswertung und Verallgemeinerung der gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse zumindest hätten eingeschränkt werden können.
Ein Beispiel für Entscheidungsunsicherheit, die auf eine mangelnde zentrale Orientierung zurückzuführen ist, sind die Maßnahmen, die im VEB Plattenwerk des Wohnungsbaukombinat Gera zur Gewährung zusätzlicher Vergünstigungen (300 bis 500 Mark Zuschüsse für Winterkleidung, mietfreies Wohnen, teilweiser Erlass gezahlter Vorschüsse, Gewährung einer Trennungsentschädigung) erwogen wurden. Erst in einer Beratung beim Rat des Bezirkes Gera, Amt für Arbeit, mit dem Betriebsleiter des Plattenwerkes des Wohnungsbaukombinates und einem Vertreter des FDGB-Bezirksvorstandes wurde festgelegt, die geplanten Maßnahmen nicht durchzuführen.
Wie die Untersuchungen des MfS weiter ergaben, wird die vorbeugende Wirkung einer intensiven ideologischen, erzieherischen und rechtspolitischen Einwirkung der algerischen Werktätigen (als gesamtgesellschaftliche Aufgabe im Zusammenwirken von Einsatzbetrieb und Einsatzterritorium) ständig unterschätzt.
Bei der Auswertung vorangegangener Vorkommnisse (Seehafen Rostock, VEB »7. Oktober«) unter Einbeziehung verantwortlicher Offiziere der DVP mit den algerischen Werktätigen zeigte sich, dass diese an der Erläuterung arbeitsrechtlicher und anderer Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens sehr interessiert und aufnahmebereit sind. (Gleiche Feststellungen treffen auch für die Beteiligung algerischer Werktätiger an Gerichtsverhandlungen zu.)
Die Freizeitbetreuung wird nach vorliegenden Erkenntnissen bisher noch zu einseitig als eine Angelegenheit der Direktoren für Kader und Bildung in den Einsatzbetrieben sowie der Betreuer und Heimleiter behandelt.
Das Zusammenwirken der Betriebsfunktionäre mit den teilweise in beträchtlicher Entfernung von den Einsatzbetrieben befindlichen, in den Wohnunterkünften tätigen Betreuern wird als unzureichend eingeschätzt (VEB Leunawerk – Wohnunterkunft Spergau/Merseburg/Halle, Automobilwerk Ludwigsfelde – Prieros/Königs Wusterhausen/Potsdam).
Ein wesentliches ideologisches und gesamtgesellschaftliches Problem, auf das immer wieder hingewiesen werden muss, besteht darin, dass die Bevölkerung in den Wohnorten, die Direktoren und Lehrer der Schulen, das Gaststättenpersonal und die Mitarbeiter verschiedener örtlicher und kommunaler sowie medizinischer Einrichtungen überhaupt nicht auf den Einsatz algerischer Werktätiger vorbereitet waren.
Da in den Verhandlungen, die im November 1975 zwischen einer Delegation des algerischen Amtes für Arbeit und soziale Angelegenheiten (ONAMO) und Vertretern des Staatssekretariates für Arbeit und Löhne der DDR stattfanden, erneut das große Interesse der algerischen Seite zur reibungslosen Abwicklung des Regierungsabkommens über den zeitweiligen Einsatz algerischer Werktätiger in der Volkswirtschaft der DDR sichtbar wurde, hält das MfS es für erforderlich, dass das Staatssekretariat für Arbeit und Löhne alle bisher gesammelten Erfahrungen des Einsatzes algerischer Werktätiger in Betrieben der DDR und die damit im Zusammenhang stehenden Probleme verallgemeinert sowie rechtzeitig auf neue in Erscheinung tretende Probleme die Leiter der Ämter für Arbeit bei den Räten der Bezirke und die Betriebsleiter hinweist, um diese noch besser zur Durchsetzung und Einhaltung des Regierungsabkommens zu befähigen.
Darüber hinaus wäre zu prüfen, inwieweit eine zentrale interne Information zweckmäßig wäre, um das Verständnis für die politische Bedeutung einer möglichst konfliktlosen Eingliederung der algerischen Werktätigen in den Arbeits- und Lebensprozess in der DDR weiter zu vertiefen, die Arbeitsweise der örtlichen Organe, wie z. B. der Volksbildung und des Gesundheitswesens usw., so zu verstärken, dass durch die Zurückdrängung vermeidbarer Fehlverhaltensweisen der Einsatz algerischer Werktätiger in der Volkswirtschaft der DDR weiter stabilisiert wird.
Es wäre des Weiteren zu prüfen, inwieweit Möglichkeiten geschaffen werden können, den Transfer eines Teiles des Verdienstes der algerischen Werktätigen für ihre Angehörigen in der DVR Algerien so zu lösen, dass die in der DDR eingezahlten Beträge zuverlässig ihren Empfänger in der DVR Algerien erreichen.
Anlage zur Information Nr. 105/76
Übersetzung aus dem Französischen aus: »El Moudjahid« vom 27. Dezember 1975: »Im Einsatz in der DDR: Gastarbeiter nicht wie üblich« (Reportage)
In der zentralen Werkhalle eines der größten Kraftwerke der DDR bemerkt der völlig in seine Arbeit vertiefte junge Algerier Méziane aus Tizi-Ouzou nicht, dass eine algerische Delegation des Ministeriums für Arbeit und Sozialwesen gekommen ist, um ihn zu besuchen. Als er uns dann sah, lächelte er zufrieden, arbeitete jedoch weiter. Erst auf den Ruf des Meisters hin kam er heran und reichte uns – etwas geniert – die Rückseite seiner ölbeschmierten Hand.
Méziane, 30 Jahre alt, gehört zur ersten Gruppe der in der DDR eingesetzten algerischen Werktätigen und ist schon 14 Monate dort. Vater von zwei Kindern, war er seinerzeit seit mehreren Wochen ohne Erwerb gewesen, als er aus der Presse vom Abschluss des Abkommens Algerien – DDR über die Entsendung algerischer Werktätiger in das Freundesland erfuhr.
Nachdem er sich ausgiebig über den ganz neuen Charakter dieser Gastarbeiteraktion informiert hatte, zögerte er keinen Augenblick, sich für den vierjährigen Einsatz zu bewerben, während welchem er nicht nur um des Brotverdienstes willen arbeiten, sondern – den Zusicherungen zufolge – auch einen Beruf erlernen würde.
Der Abschluss des Arbeitskräfteabkommens Algerien – DDR erfolgte gerade zu dem Zeitpunkt, da nach einer Serie von Anschlägen gegen unsere Bürger in Frankreich von unserer Regierung beschlossen wurde, die Ausreise weiterer Gastarbeiter in dieses Land zu stoppen. Dies war nur eine erste Maßnahme, der zusätzliche, noch bedeutendere folgen sollten, falls sich die französische Regierung nicht bereitfinden würde, wirksame Maßnahmen zum Schutz von Leben und Besitz unserer dort lebenden Landsleute zu ergreifen.
Das im Herbst 1973 unterzeichnete Abkommen mit der DDR-Seite hat beträchtliche Bedeutung, auch wenn Algerien perspektivisch gesehen kein Ausfuhrland von Arbeitskräften ist. Dank bemerkenswerten Einfallsreichtums beider Seiten hat endlich ein Land der Dritten Welt eine gerechte Formel für eine Arbeitskräfteentsendung in ein sozialistisches Land gefunden. Wie auf wirtschaftlichem Gebiet steht es somit nicht mehr allein westlichen Partnern gegenüber. Wenn der Erfolg der laufenden Aktion gesichert wird – und beide Regierungen sind dazu entschlossen –, dann kann das Abkommen rasch eine Kettenreaktion auslösen und für beide Länder günstige Auswirkungen auf wirtschaftlichem wie sozialem Gebiet haben.
Rein dogmatisch betrachtet, erscheint das gegenwärtige Experiment mit den grundlegenden gesellschaftspolitischen Orientierungen Algeriens und der Deutschen Demokratischen Republik unvereinbar. Im Falle unseres Landes weiß beispielsweise jedermann, dass unser Volk zutiefst dem Islam ergeben ist. Muss man aber deshalb Millionen Hektoliter Wein aus der Hinterlassenschaft des Kolonialismus ins Meer gießen? Bis auf ein paar Engstirnige sind alle dafür, unsere Alkoholika zum höchstmöglichen Preis zu verkaufen, um Getreidekäufe tätigen oder Ausrüstungen für die sozialökonomische Entwicklung des Landes sichern zu können. Es wird allseitig akzeptiert, dass diese Situation die erforderliche Zeit andauern wird, bis eine entsprechende Umstrukturierung ohne jeden Nachteil für unsere Volkswirtschaft erfolgt ist. Das Problem der im Ausland lebenden Arbeitskräfte stellt sich für unser sich als sozialistisch ausweisendes Land in gleicher Weise wie die Frage des Weinbaus.
Nach Erringung der Unabhängigkeit galt es, mit einer Dauerarbeitslosigkeit fertig zu werden, die durch die Sabotageaktionen der OAS-Parteigänger noch zugespitzt wurde. Algerien, das sich von Anfang an sozialistisch ausrichtete, durfte diese Situation nicht ignorieren. Um des Überlebens willen, in Erwartung besserer Aktionsmöglichkeiten, setzte sich der Realismus durch. Die zahlreichen, in 130 Jahren entstandenen Bande mit Frankreich waren noch zu eng und zwangen uns zur Duldung des Auswanderungsflusses nach Frankreich, bis notwendige Voraussetzungen geschaffen sein würden, unsere Arbeitskräfte in Algerien selbst einzusetzen. Diese Politik fand ihren Niederschlag in den gegenwärtigen Errungenschaften, die auch nur eine Phase der aufzuwendenden Anstrengung darstellen.
Dank eben diesem Willen entstehen gegenwärtig Wirtschaftszweige, wie die Textil-, die Lederwaren-, die Hütten- und die petrolchemische Industrie. Parallel zur Schaffung dieser industrialisierungsfördernden Industrie entstand eine Vielzahl kleinerer und mittlerer Betriebe, vor allem im Rahmen von Sonderprogrammen zugunsten einst vernachlässigter Wilayate (Bezirke).
Diese Anstrengung hat unsere Regierung nach elf Jahren Unabhängigkeit in die Lage versetzt, sich schadlos den französischen Behörden zur Wehr zu setzen, denen Vernachlässigungen beim Schutz unserer in Frankreich lebenden Brüder vorzuwerfen sind.
Die Durchführung der Agrarrevolution schließlich ließ uns zu der Feststellung gelangen, dass sich in vielen Regionen die Gegebenheiten dieser Problematik verändert haben. Heutzutage fehlt es in der Landwirtschaft an Arbeitskräften, weshalb es notwendig ist, sich nicht mehr mit der Abwanderung von Arbeitskräften zu beschäftigen, sondern die Wiedereingliederung unserer in Frankreich tätigen Landsleute zu prüfen.
Wenn die Regierung nun aber gleichzeitig die Ausreise einer Anzahl von Arbeitskräften ausnahmsweise bewilligte, so deshalb, weil es sich um einen Partner handelt, dessen sozialistische Ordnung neue Perspektiven eröffnet, die man nicht unterschätzen darf.
Im Falle der DDR demgegenüber sieht sich die Führung des Landes einem neuen Problem gegenüber, das sich aus dem außerordentlichen wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung der DDR ergibt. Um es mit den Worten einer Zeitschrift des Namens »Die DDR stellt sich vor« zu sagen: »Im Jahre 1973 konnte die positive Weiterentwicklung planmäßig fortgesetzt werden. Am augenfälligsten ist die Steigerung des Nationaleinkommens gegenüber 1972 um 5,5 Prozent. Das stärkste Wachstum verzeichnete die Industrieproduktion, die bei unveränderter Anzahl der Arbeitskräfte gegenüber dem Vorjahr auf 106,8 Prozent gestiegen ist. Die Alters- und Invalidenrentner mehrten sich um durchschnittlich 15 Prozent usw. …«
Es reicht ein kleiner Bummel durch Ostberlin oder irgendeinen anderen Ort der DDR, um sich die von diesem sozialistischen Land erreichten Fortschritte zu vergegenwärtigen. In den Kaufhallen gibt es alles, selbst »exotische« Erzeugnisse wie Gewürze oder andere sonst wenig von der Bevölkerung dieses Landes gefragte Delikatessartikel. In den Obst- und Gemüsesortimenten finden sich Orangen, Zitronen und Pampelmusen ebenso wie Äpfel, Birnen, Bananen usw. … All diese doch zu importierenden Produkte verkauft man zu sehr erschwinglichen und vermutlich subventionierten Preisen (wenn man die Weltmarktpreise berücksichtigt). Aber: der Wirtschaftsaufschwung hat auch Schwierigkeiten mit sich gebracht. Genau wie die BRD hat die DDR unter dem Problem der demographischen Entwicklung zu leiden. Die Menschen leben länger, die Geburtenrate ist zu gering … Ergebnis: Der Mangel an Arbeitskräften ist heute in diesem Land ein ernster Engpass.
Obwohl die DDR-Werktätigen materiellen Anreiz zur Überstundenarbeit haben, obwohl man an Einkommensaufbesserung interessierte, rüstige Rentner arbeiten lässt, obwohl man die verfügbaren Studenten einsetzt und obwohl in allen Zweigen, besonders in der Landwirtschaft, aufs Äußerste automatisiert wird – nach wie vor fehlen Arbeitskräfte an allen Ecken und Enden. Deshalb kam man auf den Gedanken, ausländische Werktätige einzusetzen. Wie aber kann man andere arbeiten lassen, ohne als »Kapitalist und Ausbeuter« zu handeln? Marx’ berühmte Mehrwerttheorie wurde einer gründlichen Prüfung unterzogen. Die Realität sah so aus, dass man über die Existenz eines verfügbaren ausländischen Arbeitskräftepotenzials schlicht und einfach nicht hinwegsehen konnte, wollte man nicht einen Tempoverlust in der perspektivisch geplanten Entwicklung auslösen. Die DDR-Behörden entschieden sich für eine allseitig akzeptable Formel: Ja zum Einsatz ausländischer, in diesem Fall algerischer Arbeitskräfte, aber in absolut gerechter Ausgewogenheit.
Zu klären blieb nur, mit welchen Mitteln man zu dieser Lösung kommt. Sie sieht so aus, dass der Grundsatz »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« von den Behörden der Deutschen Demokratischen Republik unbedingt eingehalten wird. Nach Ankunft werden die Werktätigen an den Einsatzort geschickt, wo sie in vorbereiteten Quartieren untergebracht werden. Zu Anfang wohnen unsere Landsleute in Baracken oder Fertigteilunterkünften mit einem gewissen Mindestkomfort. Nach einigen Monaten wird denen, die es wünschen, die Einquartierung in feste Häuser vorgeschlagen. Die die Lohnhöhe begründenden Produktionsnormen sind natürlich die gleichen, allerdings ist diese Gleichheit aber nur theoretisch. Bekanntlich erhält der Werktätige in sozialistischen Ländern lediglich einen Teil seiner Arbeitsvergütung in Form von Geld. Der übrige Teil wird in Form sozial-kultureller Mittel kollektiv umverteilt: Krankenhäuser, Schulen, Erholungsheime usw. … Der nur für vier Jahre dort lebende algerische Werktätige nimmt natürlich nur den geldlichen Anteil mit … Um ihm seinen echten Lohn, d. h. die Frucht seiner Arbeit in Geldform, zu geben, müsste man ihm mehr bezahlen als seinem gleiche Arbeit verrichtenden DDR-Kollegen. Das aber würde von der Bevölkerung nicht verstanden, und in diesem Fall würde sich Frustriertheit breitmachen, die die negativsten politischen Auswirkungen hätte. Algerien seinerseits hat demgegenüber keineswegs die Absicht, seine Söhne in ein anderes, und sei es befreundetes Land zu schicken, um dort vier Jahre lang zu arbeiten, essen, schlafen und wieder zu arbeiten, um schließlich mit leeren Händen heimzukehren.
Von diesen Erkenntnissen ausgehend, kam man zu folgender Formel: Die jungen Algerier sollen vier Jahre lang beim Verdienst des minimal Lebensnotwendigen tätig sein, und die DDR verpflichtet sich ihrerseits, diesen Werktätigen im Verlauf ihres Aufenthaltes eine Berufsausbildung zu sichern, die – das sei nochmals betont – dem Gastland hohe Kosten auferlegt.
Auf diese Weise ist es zwar möglich, dass der algerische Arbeiter in Frankreich nach vier Jahren vielleicht mit mehr Geld heimkehrt als sein in der DDR eingesetzt gewesener Kamerad. Aber im Gegensatz zum Ersteren hat der Letztere einen Beruf vorzuweisen, durch den er sich in der Heimat leichter in den Arbeitsprozess einreihen und wirksam zum Aufbau Algeriens beisteuern kann. In diesem Geiste beiderseitigen Interesses ist das Arbeitskräfteabkommen zwischen Algerien und der DDR zustande gekommen.
Wie schon einleitend festgestellt, ist dieses Abkommen einzig in seiner Art. Erstmals entsandte ein Land der Dritten Welt Werktätige in ein sozialistisches Land. Die Absichten beider Seiten sind die besten. Beiderseits fehlt es nicht am Willen, der Aktion einen vollen Erfolg zu sichern. Beide wissen um die Probleme, die es zu lösen gilt. Doch erst im Lichte praktischer Erfahrung ließe sich eine Bilanz ziehen, ließe sich feststellen, welche Klippen es gibt und ließen sich die Schwierigkeiten ausräumen, die während des gesamten Aufenthalts unserer Landsleute in der DDR unter Umständen zutage treten.
Die erste Werktätigengruppe – 500 an der Zahl – befindet sich bereits seit 15 Monaten in der DDR. Hunderte weiterer junger Arbeiter sind in der Folgezeit hinzugekommen, und wenn alles klappt, werden ihnen in den kommenden Monaten und Jahren noch mehr folgen.
Die erste Frage, auf die die Vertreter unseres Landes mit größter Genauigkeit Antwort zu geben haben, ist die: Besitzt Algerien in seiner gegenwärtigen Entwicklungsphase einen Arbeitskräfteüberschuss? Besitzt es erwerbsfähige, aber erwerbslose Männer, denen es die Arbeit im Ausland gestatten dürfte? Unsererseits kann dazu soviel gesagt werden, dass die Arbeitslosigkeit – trotz ihres Fortbestehens in Algerien – jedoch nur Leute ohne Qualifikation betrifft. Bei dieser Aktion »Arbeitskräfte in die DDR« sollten die Intentionen unseres Landes präziser in der Zielstellung sein. Schicken wir Leute zum Broterwerb oder machen wir Berufsausbildung? Von dieser Alternativentscheidung her kann unser Land bei den vertraglich vorgesehenen periodischen Verhandlungen der DDR-Seite gegenüber auf der Thematik der Löhne oder auf der Qualität der Berufsausbildung bestehen. Natürlich gäbe es auch ein Zwischending: mittelmäßigen Lohn und mittelmäßige Ausbildung … Hauptsache ist, genau zu wissen, was von der DDR-Seite erwartet wird. Diese scheint bereit, auf alle legitimen Bedingungen zugunsten der algerischen Werktätigen günstig zu reagieren.
Für die Vertreter des Arbeits- und Sozialministeriums, mit denen wir zahlreiche Beratungen geführt haben, ist die Zielstellung dieser Aktion klar. Eingedenk der gegenwärtigen Entwicklungsphase geht es uns primär um die Berufsausbildung.
Zu klären bleibt, ob algerische und DDR-Vertreter den Terminus »Berufsausbildung« mit dem gleichen Begriffsinhalt verstehen. Ausbildung von Facharbeitern oder angelernten Arbeitern? Es wäre gut, alle diesbezüglichen Präzisierungen vorzunehmen, damit nach vierjährigem DDR-Aufenthalt der ersten Gruppe keinerlei Enttäuschung unsere ausgezeichneten Beziehungen mit diesem befreundeten sozialistischen Land trübt.
Wenn wir Facharbeiter erhalten wollen, so müssen wir u. a. die Auswahlkriterien nach Maßgabe der gewünschten Qualifikationsstufen ausrichten. Ist ein Arbeiter des Lesens und Schreibens kundig und kann er addieren und subtrahieren, so kann er zwar rasch schweißen lernen oder Maurer werden. Aber er kann nicht die Facharbeiterqualifikation als Dreher, Fräser oder Elektriker erwerben, ohne vorher ein vergleichsweise wesentlich höheres Schulabschlussniveau zu besitzen.
Bei der Entsendung der ersten Gruppe bestand der Kardinalfehler darin, dass man von den Bewerbern lediglich den Nachweis des Grundschulabschlusses forderte. Einige darunter gaben nur an, diesen Abschluss zu haben, konnten aber kaum lesen und schreiben.
Scheinbar haben auch recht viele Bewerber die Bedingungen der Ausbildung nicht richtig begriffen. An Ort und Stelle angekommen, hatten manche erwartet, sie würden nun an einer entsprechenden Schule ganz einfach ein berufliches Ausbildungspraktikum durchlaufen: dem war keineswegs so. Hauptzweck der DDR ist es zunächst einmal, die von ihr so sehr benötigten Arbeitskräfte einzustellen. Die von den Algeriern als Gegenleistung verlangte Ausbildung kommt erst danach. Nach einigen Tagen der Gewöhnung an das Leben des Landes werden die übernommenen Neuankömmlinge daher selbstverständlich gruppenweise den einzelnen Betrieben verschiedensten Standorts zugeteilt, um in den Produktionsprozess eingereiht zu werden, die einen als Schauerleute, andere am Fließband usw. … Angesichts dessen fragten sich daher viele der jungen Algerier, ob sie nach vierjährigem DDR-Aufenthalt tatsächlich die immerhin zugesicherte Berufsausbildung haben werden.
Da jede praktische Ausbildung andererseits theoretische Kenntnisse erfordert, muss Unterricht erteilt werden, was sich aber nur in dem Maße machen lässt, wie der Werktätige die deutsche Sprache erlernt. Scheinbar suchen die DDR-Behörden bis heute nach einer dem Bildungsstand der algerischen Produktionsarbeiter angemessenen pädagogischen Methode. Schon jetzt zeichnet sich ein aufschlussreiches Phänomen ab: die Nichtteilnahme am Sprachunterricht nimmt beunruhigende Ausmaße an. Dieser Missstand führt zu einer Blockierung der gesamten Ausbildungsseite. Ein Lehrer, der einem algerischen Arbeiter sein Nichterscheinen zum Abendkursus vorwarf, erhielt die ironische Antwort, »bei seiner Freundin lerne er besser deutsch als im Unterricht«. Dieser Lernende hat möglicherweise recht, wenn der fragliche Unterricht ihm tatsächlich so widerwärtig ist, wie er behauptet. Aber: bei seiner Freundin und seinen Kollegen wird er zwar sicherlich das notwendige Vokabular zum Arbeiten lernen, jedoch bestimmt nicht genug, um den so unerlässlichen theoretischen Unterricht verfolgen zu können. Nur die Leute vom Fach werden erklären können, weshalb der zurzeit erteilte Unterricht nicht vollauf das gewünschte Interesse erweckt. Diese Frage wird gegenwärtig mit größter Aufmerksamkeit untersucht. Beide Seiten sind offenkundig entschlossen, eine wirksame Lösung zu finden, wäre es doch die ärgste Enttäuschung, wenn unsere Leute nach vier Jahren Arbeit ohne die vorgesehene Qualifikation zurückkehren.
Natürlich wurde uns auch gesagt, dass der DDR-Aufenthalt über 48 Monate den jungen Algeriern auch die Möglichkeit gibt, sich mit den Methoden der Organisation und der Disziplin eines sozialistischen Industrielandes vertraut zu machen. Das stimmt, ist aber aus unserer Sicht – angesichts des gewaltigen Energieaufwands bei dieser Aktion – nicht ausreichend. Ein Landsmann, den wir diesbezüglich befragten, antwortete uns: »Wenn unsere Werktätigen zwar ohne Ersparnisse, aber mit einem Beruf zurückkommen, hat die DDR, die aus der Arbeit unserer Landsleute Nutzen gezogen hat, dann trotzdem zugleich zur Stärkung des sozialistischen Aufbaus in Algerien beigetragen. Wenn aber andererseits unsere Landsleute nach vierjähriger Arbeit mit nichts in Händen, und nichts im Portemonnaie heimkehren, besteht die Gefahr, dass wir sie zu Frustrierten machen, die dann zu wirksamen Agitatoren unseliger Ideen werden.«
Durch unsere Teilnahme an vielen Arbeitsberatungen zwischen den Delegationen von DVRA und DDR können wir ohne Zögern erklären, dass auf beiden Seiten der Wille vorhanden ist, die – ja erst im Experimentalstadium befindliche – Aktion zum Erfolg zu führen. Diese Entschlossenheit birgt zugleich in sich die Bereitschaft zur Suche und die Ausschaltung jeder Selbstgefälligkeit in Bezug auf die im Aufenthaltsverlauf auftretenden Probleme.
Von der DDR-Seite, die Gelegenheit hatte, die Produktivkraft der algerischen Werktätigen richtig schätzen zu lernen, wird daher zum Beispiel erwartet, dass sie sich über die Ausbildung dieser Menschen Gedanken macht. Damit dieser Qualifikationserwerb tatsächlich abgesichert wird, muss eine Reihe von Anforderungen erfüllt werden, und unsere Freunde von der DDR-Seite müssen von vornherein verlangen, dass dies gegeben ist.
In der DDR ist jedem Bürger vor Schulabgang ein zehnjähriger Schulbesuch garantiert. Nach Eingliederung in den Produktionsprozess hat jeder junge Bürger die Möglichkeit, sich durch Weiterbildung neben der Arbeit beruflich zu qualifizieren. Die DDR-Verantwortlichen erklären – was wir ihnen auch gern glauben – dass den Algeriern die gleichen Möglichkeiten offenstünden. Reicht das aber aus?
Die in die DDR geschickten algerischen Werktätigen haben keine zehn Schuljahre als Grundlage. Und selbst wenn man mal einen gleichen Bildungsstand annimmt, sind nicht trotzdem die Algerier im Nachteil gegenüber ihren Kollegen aufgrund der Sprache, die sie während ihres Aufenthaltes bei gleichzeitiger Arbeit nach den Produktionsnormen der DDR erlernen müssen? Ausgehend von den Erfahrungen der ersten Gruppe wird von der DDR-Seite daher erwartet, dass sie vorbehaltlos alle erforderlichen Voraussetzungen schafft, um ihren Algerien gegenüber übernommenen Verpflichtungen in Sachen Ausbildung vollauf nachzukommen. Die ONAMO ihrerseits ist eingedenk der in 15-monatiger Erfahrung aufgetretenen Realitäten entschlossen, das Auswahlsystem für die Bewerber zum DDR-Einsatz zu überprüfen. Künftig müssen die ausreisenden Arbeitskräfte eine ausreichende Schulbildung entsprechend den Berufsanforderungen der einzelnen Tätigkeitsbereiche nachweisen. Dank dieser Maßnahme wird die DDR-Seite besser über jeden Neuankömmling informiert sein und die Einsatzortzuweisungen nicht mehr planlos und willkürlich vorzunehmen brauchen.
Darüber hinaus wird die ONAMO die Unterlagen der Einsatzkandidaten künftig strenger kontrollieren. Jede falsche Angabe sollte strafrechtliche Folgen nach sich ziehen. Diese Wachsamkeit macht sich notwendig, wenn man sich ansieht, was sich an Ort und Stelle in der DDR so herausgestellt hat. Einer zum Beispiel – mit Abitur – hatte angegeben, er könne kaum lesen und schreiben, obendrein arbeitslos. Ein anderer – Lehrer von Beruf – hatte seine Schüler im Stich gelassen, um nach »Deutschland« zu gehen. Vier Begünstigte der Agrarrevolution verließen ebenfalls ihre Genossenschaft. Noch einer schließlich hatte einen Facharbeiterbrief, sich aber als Arbeiter ohne Qualifikation ausgegeben. Natürlich hatten alle Erwerbslosigkeitsbescheinigungen vorgelegt, die ihnen die Gemeindeverwaltungen ihrer Wohnorte anstandslos ausgestellt hatten.
Ganz kürzlich erst erhielt der Generaldirektor der ONAMO ein Telegramm der SONITEX: Ein von diesem staatlichen Unternehmen ausgebildeter Angestellter hatte sich verpflichtet, fünf Jahre in diesem Betrieb zu arbeiten. Als man seine Abwesenheit entdeckte, war er bereits in der DDR und als Hilfsarbeiter tätig. Schon bald nach Ankunft an Ort und Stelle bereuen diese Leute meist, so unvorsichtig gehandelt zu haben, denn dortzulande ist nur für solche Platz, die bereit sind, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten und einen Beruf zu lernen. Wenn diese »Touristen« ihren Irrtum merken, ist es oft zu spät. Da sie ihr Ziel nicht erreicht haben, treten sie mit Anschuldigungen auf und schaffen falsche Probleme, die für das algerische Gesamtkollektiv von Schaden sind.
Die Tatsache, dass Hunderte junger Männer zwischen 20 und 40, d. h. in der Blüte ihrer Jahre, für die Dauer von vier Jahren in die DDR kommen, bringt naturgemäß ernsthafte Probleme mit sich. Seitens der DDR-Behörden geschieht alles, damit unsere Landsleute ein so normales Leben wie möglich führen können. Soll man nun die Algerier konzentriert gruppieren, damit sie sich nicht ihrem Lande entfremdet fühlen? In diesem Fall würden sie langsamer Deutsch lernen. Zwar würde das Zusammenleben der algerischen Werktätigen ihre organisatorische Betreuung und generell die Gestaltung ihres Aufenthalts in diesem Lande erleichtern, aber es besteht auch die Gefahr, dass ihr Aufenthaltsort zu einem »Ghetto« würde, isoliert von der Umwelt. Sollte man dagegen für eine Unterbringung inmitten der DDR-Bevölkerung plädieren? Die örtlichen Organe sind anscheinend bereit, auf alle diesbezüglichen Wünsche unserer Landsleute einzugehen, aber ist diese Lösung wünschenswert? Würde man damit nicht eventuell eine völlige Integrierung in die DDR riskieren, die den Zielen der Heimat entgegenstünde? Gegenwärtig sind wir erst in der Phase einer Untersuchung dieser Probleme. Wie in allen Ländern gibt es in der DDR Menschen, die Ausländern gegenüber »reserviert«, ja feindlich gesonnen sind. Jedoch im Gegensatz zu den kapitalistischen Ländern, insbesondere zu Frankreich, wo rechtsgerichtete Kreise ungestraft Übergriffe gegen die Gastarbeiter begehen, sind die DDR-Organe gegenüber ausländerfeindlichen Bürgern ihres Landes von beispielhafter Festigkeit. In einer Stadt der DDR beispielsweise, wo zwei DDR-Bürger eine Schlägerei (mit Algeriern, d. Üb.) provoziert hatten, wurden diese streng bestraft und erhielten sehr schwere Freiheitsstrafen. In der DDR straffällig gewordene algerische Bürger erhalten alle Garantien in Sachen ihrer Verteidigung und werden mit Ruhe und Besonnenheit entsprechend den Landesgesetzen abgeurteilt.
Diejenigen, denen die Eingewöhnung nicht gelingt, können um ihre Rückberufung nach Algerien nachsuchen. Arbeitsbummelanten, die sich hartnäckig den geltenden Regelungen der DDR widersetzen, werden im Einvernehmen mit der ONAMO-Vertretung in der DDR nach Algerien zurückgeführt.
Um unseren Landsleuten das Leben attraktiver zu gestalten, ist man DDR-seitig um ein abwechslungsreiches Freizeitleben für sie bemüht. Die Bildung von Kapellen und Sportclubs wird gefördert, es werden Sonntagsausflüge zum besseren Kennenlernen des Landes organisiert. Zum grenzüberschreitenden Verkehr z. B. in die ČSSR erhalten in Betrieben der Grenzbezirke arbeitende Algerier Passierscheine für Kurzaufenthalte, vorausgesetzt sie erscheinen zum Wochenbeginn wieder pünktlich auf ihrer Arbeitsstelle.
Schon zum Zeitpunkt des Einsatzes der ersten Gruppe richteten die zuständigen algerischen Behörden für Arbeitsemigration einen ONAMO-Stützpunkt in der DDR ein, um das laufende Experiment aus nächster Nähe verfolgen zu können. Diese Vertretung soll bei der Koordinierung der Bemühungen zugunsten unserer Landsleute eine entscheidende Rolle spielen. Wo immer es aus Mangel an Verständnis oder Verständigung zu einem Streitfall kommt, begibt sich der ONAMO-Vertreter sofort an Ort und Stelle, um das Problem zu klären. In regelmäßigen Abständen veranstaltet die Vertretung Versammlungen der algerischen Werktätigen auf Kombinatsebene, um über alle auftretenden Probleme zu beraten. Vertrauensleute werden gewählt, um die Vertretung im FDGB (Gewerkschaft) wahrzunehmen, der dortzulande als eine treibende Kraft fungiert. Mitunter werden solche, die entsprechende Befähigung und Einsatzbereitschaft zeigen, als hauptamtliche Vertreter in die Betriebe delegiert. Sie besitzen das Vertrauen sowohl ihrer Kameraden als auch des Betriebsleiters und sind dadurch wertvolle Helfer. Allerdings dürfen die übernommenen neuen Verantwortlichkeiten diese Algerier nicht von dem Hauptzweck ihres Aufenthalts in der DDR ablenken: der Erlernung eines Berufs während der vierjährigen Zeit.