Vernehmung eines DR-Angehörigen durch Westberliner Staatsschutz
[ohne Datum]
Information Nr. 575/76 über Gewaltandrohungen und -handlungen gegen einen Angehörigen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin
Am 13. August 1976, gegen 20.05 Uhr informierte der auf dem Stellwerk RS II des Güterbahnhofes Berlin-Grunewald (Westberlin) tätige Stellwerkmeister [Name], geboren am [Tag] 1948, wohnhaft: Berlin 65, [Adresse], Partei: Mitglied der SEW,1 telefonisch die Wache der Bahnpolizei Berlin-Grunewald und anschließend den Bahnhofsbrigadedispatcher des Bahnhofes Berlin-Grunewald, dass er gegen 19.54 Uhr und 20.02 Uhr auf seinem Basa-Apparat im o. g. Stellwerk (reichsbahninternes Telefon-Netz, zu dem eine Einwahl aus dem Postnetz Westberlins nicht möglich ist) von einer unbekannten männlichen Person anonyme Anrufe erhalten habe.2 Der anonyme Anrufer soll nach seinen Angaben Folgendes geäußert haben:
- –
»Dich rote Sau machen wir fertig« (beim ersten Anruf)
- –
»Dich machen wir fertig – ja« (beim zweiten Anruf).
Nach den Angaben des [Stellwerkmeisters] seien – von der Stimmlage aus beurteilt – beide Telefonanrufe von der gleichen Person erfolgt.
Ein Angehöriger der Bahnpolizei – und zeitweilig auch der Dienstvorsteher – begaben sich zusätzlich zur Sicherung auf das Stellwerk. Nach Beendigung der Arbeit (6.00 Uhr) wurde [der Stellwerkmeister] von einem Angehörigen der Bahnpolizei nach Hause begleitet. Eventuell im Zusammenhang mit den angedrohten Handlungen stehende Feststellungen wurden dabei nicht getroffen.
Am 14. August 1976, gegen 18.47 und 20.44 Uhr erhielt der Bahnhofsdispatcher3 der Bahnhofsdispatcherleitung Güterbahnhof Berlin-Grunewald auf dem Postapparat 8 85 90 81 durch eine männliche Person anonyme Telefonanrufe mit dem Inhalt: »[Den Stellwerkmeister], das rote Schwein, haben wir fertiggemacht! Heil Hitler!« Beim weiteren Anruf wurde der faschistische Gruß nicht wiederholt.
[Der Stellwerkmeister] hätte am 14. August 1976, 18.00 Uhr, seinen Dienst auf dem Stellwerk RS II des Güterbahnhofes Berlin-Grunewald wieder aufnehmen müssen, war jedoch nicht zum Dienst erschienen. Auf eine telefonische Rückfrage durch den Vertreter des Dienstvorstehers des Güterbahnhofes Berlin-Grunewald bei der Ehefrau des [Stellwerkmeisters] erklärte diese, dass ihr Ehemann die Wohnung gegen 17.00 Uhr verlassen habe und mit eigenem Pkw zum Dienst gefahren sei.
Durch den Vertreter des Dienstvorstehers wurde die angenommene Fahrstrecke des [Stellwerkmeisters] abgefahren; dabei wurden jedoch keinerlei Feststellungen über den Verbleib des [Stellwerkmeisters] und seines Pkw getroffen.
Der Vertreter des Dienstvorstehers verständigte dann gegen 20.39 Uhr telefonisch die Westberliner Polizei, Direktion West, Abschnitt 25, Kurfürstendamm 142 (Diensthabender Konrad) davon, dass er eine Vermisstenanzeige zu einem Angehörigen der Deutschen Reichsbahn aufgeben möchte, der bedroht worden und jetzt nicht zum Dienst erschienen sei (im Wesentlichen wurden dabei die vom [Stellwerkmeister] genannten Drohungen wiedergegeben, jedoch bei Weglassen des Zusammenhanges zu seiner politischen Tätigkeit).
Gegen 21.05 Uhr erschien auf dem Bahnhof Grunewald ein Funkstreifenwagen der Westberliner Polizei mit zwei Polizisten, die beim Vertreter des Dienstvorstehers eine Vermisstenanzeige zum [Stellwerkmeister] aufnahmen. Nach ihren Erklärungen sollte eine Fahndung nach dem Pkw des [Stellwerkmeisters] eingeleitet werden. Sie versprachen weiterhin, die zuständige Dienststelle der Westberliner Kriminalpolizei zu verständigen.
Am 15. August 1976, gegen 3.00 Uhr teilte der Bahnhofsdispatcher des Güterbahnhofes Grunewald dem Transportpolizeiamt Berlin II mit, dass sich der [Stellwerkmeister] gegen 2.18 Uhr bei ihm telefonisch gemeldet hat. [Der Stellwerkmeister] habe erklärt, dass er mit [dem] Pkw zum Dienst gefahren sei, während der Fahrt jedoch einen Schaden an seinem Pkw festgestellt habe und daraufhin mit der S-Bahn zu dem seinen Dienstort nächstliegenden S-Bahnhof Eichkamp gefahren wäre.
Beim Verlassen des Bahnhofes hätten ihn drei Männer angesprochen und aufgefordert mitzukommen. Mit diesen sei er dann mit einem Pkw zum Tiergarten gefahren und dort nach dem Anarchisten Ronald Fritzsch4 befragt worden. Weiter habe [der Stellwerkmeister] erklärt: »Ich befinde mich jetzt bei der Polizei Tempelhof, Staatsschutz, sie bringen mich jetzt nach Hause.« Eine vom Bahnhofsdispatcher bei der Westberliner Polizei, Staatsschutz, Tempelhof vorgenommene telefonische Rückfrage wurde dahingehend beantwortet, dass sich der [Stellwerkmeister] bei Ihnen aufgehalten und den Anruf von dort aus getätigt habe.
(Der Bahnhofsdispatcher, der den Anruf des [Stellwerkmeisters] entgegennahm, hat gegenüber dem Transportpolizeiamt Berlin II erklärt, er sei jetzt zu der Auffassung gekommen, dass es sich – nach der Stimme zu urteilen – bei dem anonymen Telefonanrufer am Abend ebenfalls um [den Stellwerksmeister] gehandelt haben könne.)
Nach mehrmaligen Versuchen des Vertreters des Dienstvorstehers, [den Stellwerkmeister] telefonisch in seiner Wohnung zu erreichen, meldete sich dieser gegen 6.00 Uhr. Auf Befragen erklärte er, dass er gegen 3.00 Uhr nach Hause zurückgekehrt wäre, vorher bei der Westberliner Polizei, Staatsschutz, Tempelhofer Damm gewesen und dort befragt worden sei (über den Aufenthalt bei der Westberliner Polizei und den Inhalt der dort geführten Gespräche machte er keine Angaben). Auf die Aufforderung, sofort zur Dienststelle zu kommen, erwiderte er, dazu aufgrund seelischer Belastungen nicht in der Lage zu sein. Er erklärte seine Bereitschaft, um 10.00 Uhr zur Dienststelle zu kommen.
Um 9.55 Uhr erfolgte beim Bahnhofsdispatcher ein telefonischer Anruf, bei dem sich ein gewisser Kittlaus von der Westberliner Polizei, Staatsschutz, meldete. Er bat darum, dem [Stellwerkmeister] bei seinem Eintreffen auf der Dienststelle mitzuteilen, dass er diesbezüglich der weiteren Klärung seiner »Entführung« den Staatsschutz (Telefon-Nr. 69 92 510) anrufen möge.
Die nach dem Erscheinen des [Stellwerkmeisters] auf dem Bahnhof Grunewald (gegen 10.10 Uhr) durchgeführte Befragung ergab Folgendes:
[Der Stellwerkmeister] sei um 17.00 Uhr mit seinem Pkw von der Wohnung aus zum Dienstort gefahren. Aufgrund eines Schadens am Kraftfahrzeug habe er die Fahrt mit der S-Bahn fortgesetzt. Beim Verlassen des S-Bahnhofes Eichkamp gegen 17.30 Uhr sei er von zwei ihm unbekannten männlichen Personen (ca. 20 bis 25 Jahre) angesprochen und aufgefordert worden, in einen in unmittelbarer Nähe mit laufendem Motor abgestellten Pkw (Typ Ford 17 M) einzusteigen. Eine dieser Personen habe eine Pistole in der Hand gehabt. Aufgrund dessen habe er der Aufforderung ohne Widerstand Folge geleistet und sei in den Pkw, in dem sich noch eine weitere männliche Person (etwa gleichen Alters) befand, eingestiegen.
Unmittelbar nach Besteigen des Pkw fuhr dieser in Richtung Grunewald, wobei sie sich längere Zeit auf dem Parkplatz beim Auersbacher Tunnel aufgehalten hätten. Im Pkw musste [der Stellwerkmeister] seine Uniformmütze und -jacke der Deutschen Reichsbahn ablegen.
Von den männlichen Personen sei er nach einem Ronald Fritzsch befragt worden, den er aus der gemeinsamen Tätigkeit in der Zeit von 1972 bis 73 in der Fahrbereitschaft der Deutschen Reichsbahn in Grunewald kannte. Sie hätten ihm ständig dahingehend Fragen gestellt, was er über das Notizbuch des Ronald Fritzsch wisse und was er zu Fritzsch bei der Westberliner Polizei ausgesagt habe. Nach seinen Angaben sei ihm darüber nichts bekannt gewesen, was er den männlichen Personen gegenüber ständig wiederholt hätte.
Gegen 21.00 Uhr sei er dann in der Klopstockstraße freigelassen worden. Von einer öffentlichen Telefonzelle aus habe er über Notruf die Westberliner Polizei um Hilfe ersucht. Mit einem Funkwagen wäre er zur Polizeidienststelle Heidestraße gebracht und dort von der Mordkommission vernommen worden.
Nach Erwähnung des Zusammenhanges mit Ronald Fritzsch sei zu der Vernehmung ein Angehöriger des Staatsschutzes hinzugezogen worden, der ihn gegen 23.00 Uhr zur Dienststelle des Staatsschutzes am Tempelhofer Damm brachte. Dort wurde er in der Zeit von 23.00 bis 2.15 Uhr zum Sachverhalt vernommen, wobei er auch Angaben über die in der Information angeführten anonymen Telefonanrufe gemacht habe. Zur Täteridentifizierung wurden ihm Fotos vorgelegt, auf denen er lediglich den Fritzsch erkannt hätte. Seinem Ersuchen, die Dienststelle zu informieren, sei erst nach Abschluss der Vernehmung stattgegeben worden. Danach hätte er den in der Information bereits angeführten Telefonanruf getätigt. Anschließend sei er von der Westberliner Polizei zu seiner Wohnung gebracht worden, wo er gegen 3.00 Uhr eingetroffen sei.
Über den o. g. Fritzsch ist dem MfS bekannt, dass er ca. vier Wochen nach der Lorenz-Entführung von der Westberliner Polizei inhaftiert wurde. Über die konkreten Ursachen, die zu seiner Inhaftierung führten, liegen keine exakten Angaben vor.
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen war Fritzsch Mitglied der maoistischen Gruppierung »Schwarze Zelle – Reichsbahn«5, von der bereits seit mehreren Jahren provokatorische Angriffe gegen die SED und SEW, die Deutsche Reichsbahn, die soziale Lage der Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn u. a.m. erfolgen.
Zu [Stellwerkmeister] ist bekannt, dass er im Auftrage der SEW 1971/72 an mehreren Studienreisen in die DDR teilgenommen hat. In letzter Zeit hätte er jedoch wenig gesellschaftliche Aktivitäten gezeigt, aber immer wieder versucht, ausgehend von dem bei ihm vorhandenen Geltungsbedürfnis, sich in den Vordergrund zu stellen.