Aktivitäten der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin
7. Januar 1977
Information Nr. 17/77 über Aktivitäten der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, die eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR darstellen
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen entwickelt die Ständige Vertretung der BRD in der DDR seit Beginn ihrer Tätigkeit1 – offensichtlich unter Berufung auf die revanchistische These von der Existenz einer einheitlichen deutschen Nation und daraus abzuleitender »Sonderbeziehungen« zwischen der DDR und der BRD sowie auf der Basis eines entsprechenden Urteils des Bundesverfassungsgerichtes vom 31.7.1973 – vielfältige Aktivitäten, die eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR darstellen. Das kommt besonders in der Auslegung der annexionistischen Staatsbürgerschaftsgesetzgebung und -praxis der BRD zum Ausdruck, wonach Bürger der DDR als »Deutsche im Sinne des Grundgesetzes der BRD« betrachtet werden.2 Diesem Standpunkt entsprechen zahlreiche Aktivitäten der Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR gegenüber DDR-Bürgern sowie staatlichen Einrichtungen und Institutionen sowie deren Verhalten gegenüber bestimmten Problemen der innerstaatlichen Ordnung der DDR.
Neben solchen direkten Einmischungsversuchen der BRD-Vertretung (die eindeutig den Rahmen der der BRD-Vertretung obliegenden Rechte und Pflichten überschreiten) wie
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Unterbreitung von Verhandlungsvorschlägen über ausschließlich Westberlin betreffende Fragen,
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Übergabe von Ersuchen Westberliner Bürger an das MfAA in Fragen von Reiseangelegenheiten, Erbschaftssachen, Gesetzesverletzungen u. Ä.,
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Versuche der Haftbetreuung von Personen, die noch die Staatsbürgerschaft der DDR oder eines anderen Landes besitzen,
stellen vor allem die von der Ständigen Vertretung der BRD in immer stärkerem Maße entfalteten Aktivitäten zur »Vertretung«, »Betreuung« bzw. Kontaktierung von Bürgern der DDR eine grobe Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR dar.
Das wird eindeutig dadurch bewiesen, dass in der BRD-Vertretung nach dem MfS vorliegenden Erkenntnissen seit Beginn ihrer Tätigkeit in der DDR über 13 000 Besuche von DDR-Bürgern erfolgten. Davon entfallen allein auf 1976 über 9 000 Besuche. (Das widerspricht zweifelsfrei dem § 6, Abschnitt 2 der »Verordnung über den Verkehr mit Vertretungen anderer Staaten in der DDR«, wonach sich Bürger der DDR in konsularischen Angelegenheiten nur direkt an Vertretungen anderer Staaten wenden können, wenn dazu die Einwilligung der entsprechenden DDR-Organe vorliegt.)3
Vorgenannte Aktivitäten der BRD-Vertretung sind auch als eindeutige Verletzung der Bestimmungen der »Wiener Konvention« über diplomatische Beziehungen zu werten. Im Artikel 3 dieser Konvention heißt es u. a., dass die Funktion einer diplomatischen Mission insbesondere darin besteht, »die Interessen des Entsendestaates und seiner Staatsbürger im Empfangsstaat innerhalb der völkerrechtlich zulässigen Grenzen zu schützen«.4
Der Artikel 41 der gleichen Konvention besagt, dass die Mitarbeiter diplomatischer Missionen verpflichtet sind, die Gesetze und Bestimmungen des Empfangsstaates zu achten und sich nicht in die inneren Angelegenheiten dieses Staates einzumischen. Im gleichen Artikel ist festgelegt, dass die Räumlichkeiten der Mission nicht zu Zwecken benutzt werden dürfen, die mit den in dieser Konvention vorgesehenen Funktionen der Mission unvereinbar sind.5
Der Hauptgrund für eine Verbindungsaufnahme von DDR-Bürgern zur BRD-Vertretung ist insbesondere das Ersuchen um Unterstützung bei einer Übersiedlung bzw. Familienzusammenführung nach der BRD sowie um Unterstützung bei Besuchsreisen in die BRD nach erfolgter Ablehnung durch die zuständigen staatlichen Organe der DDR.
Wie festgestellt werden konnte, empfängt die Ständige Vertretung der BRD grundsätzlich jeden DDR-Bürger, der die Vertretung aufsucht. Es erfolgt eine persönliche und bis ins Detail reichende Entgegennahme des Anliegens und in der Regel eine Aufnahme der Personalien des betreffenden DDR-Bürgers. Die Mitarbeiter der Vertretung bieten sich gleichzeitig als ständige Konsultationspartner an, erteilen Ratschläge und versprechen »moralische Unterstützung«. Bei Übersiedlungsvorhaben von DDR-Bürgern erfolgt teilweise die Ausgabe von Fragebögen, die gemeinsam mit dem jeweiligen »Konsultationspartner« in der Vertretung ausgefüllt werden. Dabei werden von den DDR-Bürgern u. a. Angaben über Beruf, Arbeitsstelle, Mitgliedschaften und Funktionen in politischen Organisationen (auch von Angehörigen, die nicht ausreisen wollen) und die Gründe für die Übersiedlung verlangt. Gleichzeitig werden den DDR-Bürgern bei ihren Besuchen in der Ständigen Vertretung konkrete und umfassende »Hinweise« zur Durchsetzung ihrer Übersiedlungsabsichten gegenüber den staatlichen Organen der DDR gegeben. Zu diesen »Beratungen« gehört u. a. auch die Aushändigung der UNO-Charta,6 der Verfassung der DDR, von Auszügen aus dem Staatsbürgerschaftsgesetz der DDR7 und der Absichtserklärungen von Helsinki, besonders »Korb III«.8
Den DDR-Bürgern wird geraten, sich bei der Antragstellung auf Übersiedlung in die BRD und Entlassung aus der Staatsbürgerschaft auf diese Dokumente zu stützen und das konkret in den Anträgen zu vermerken. Weiterhin werden DDR-Bürgern Adressen von internationalen Organisationen (UNO-Menschrechtskommission usw.) ausgehändigt sowie Briefe von DDR-Bürgern an derartige Organisationen entgegengenommen und auch weitergeleitet.
Nach vorliegenden Angaben von DDR-Bürgern, die zum Zwecke einer Übersiedlung nach der BRD die Ständige Vertretung aufsuchten, wurden sie von Mitarbeitern der BRD-Vertretung dahingehend »beraten«, ihren Übersiedlungsvorhaben insbesondere durch folgende Handlungen Nachdruck zu verleihen:
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Ablehnung jeglicher gesellschaftlicher Tätigkeit in der DDR,
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Verweigerung der Arbeitsaufnahme sowie der Annahme von DDR-Dokumenten nach Verbüßung einer Haftstrafe,
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hartnäckiges Stellen immer neuer Anträge auf Aberkennung der Staatsbürgerschaft der DDR bzw. Übersiedlung nach der BRD (z. B. den neuen Antrag per Telegramm oder Einschreiben den zuständigen DDR-Organen zustellen, weil sie dann verpflichtet wären, den Antrag auch anzunehmen),
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die BRD-Vertretung über den Stand der Antragstellung auf dem »Laufenden halten« und bei jeder erneuten Ablehnung die Vertretung sofort informieren.
Wiederholt wurde DDR-Bürgern von Mitarbeitern der Vertretung mitgeteilt, dass ihr Anliegen und ihre Angaben bzw. eine Kopie ihres Übersiedlungsantrages an das Bundesministerium für »Innerdeutsche Beziehungen« oder an eine diesem Ministerium unterstellte Dienststelle in Westberlin (in Einzelfällen auch an den Westberliner Senat) zur weiteren »Bearbeitung«9 übergeben wurde.
Verschiedentlich wurde DDR-Bürgern zugesichert, bei Ablehnung entsprechender Anträge »ihre Fälle« an Publikationsorgane der BRD weiterzuleiten, die dann durch ihre Veröffentlichungen der beabsichtigten Übersiedlung entsprechenden »Nachdruck« verleihen könnten. In diesem Zusammenhang ist die Tatsache bemerkenswert, dass DDR-Bürger, die sich im Zusammenhang mit Übersiedlungsproblemen an die Ständige Vertretung wandten – insbesondere, wenn es sich um sog. interessante Personen handelte –, an in der DDR akkreditierte BRD-Korrespondenten weitervermittelt wurden.
So suchte z. B. ein Bürger der DDR im Juli 1976 die Ständige Vertretung der BRD in der DDR auf, um von dort »Hilfe und Unterstützung« für seine beabsichtigte Übersiedlung und Entlassung aus der Staatsbürgerschaft zu erhalten. Von einem Mitarbeiter der BRD-Vertretung wurde ihm geraten, sich an einen in der DDR akkreditierten BRD-Korrespondenten zu wenden. Zu diesem Zweck erhielt er die Anschriften einiger Korrespondentenbüros. Er suchte daraufhin den Korrespondenten der »Süddeutschen Zeitung«, Pragal, auf und schilderte diesem seinen »Fall«. (Von Pragal wurde im Ergebnis dieser Unterredung in der »Süddeutschen Zeitung« ein längerer hetzerischer Beitrag publiziert.)10
Charakteristisch für die ständige Einmischung der BRD-Vertretung in die inneren Angelegenheiten der DDR ist auch die Tatsache, dass eine Reihe Unterzeichner der »Petition« des Riesaers Dr. Nitschke Verbindung zur Vertretung unterhielten.11 Dieser Personenkreis brachte der Ständigen Vertretung Einzelheiten über Festnahmen durch die Sicherheitsorgane der DDR zur Kenntnis und ließ sich in diesem Zusammenhang von Mitarbeitern der Vertretung über weiteres Verhalten »beraten«.
Weiterhin liegen Hinweise vor, wonach in der Ständigen Vertretung von DDR-Bürgern vorgelegte Dokumente und Unterlagen, wie Gerichtsurteile und Ablehnungsbescheide für Übersiedlungsanträge, fotokopiert werden.
In einem Fall nahm ein Mitarbeiter der BRD-Vertretung von einem DDR-Bürger einen Brief an die Organisation »Amnesty International«12 entgegen und erklärte sich bereit, ihn aufzubewahren und im Falle einer »Verhaftung« dieses DDR-Bürgers durch die Sicherheitsorgane der DDR an die genannte Organisation weiterzuleiten. In einem anderen Fall erhielt ein DDR-Bürger, der vorgab mittellos zu sein, in der BRD-Vertretung finanzielle Unterstützung.
Die Ständige Vertretung der BRD in der DDR ist darüber hinaus bestrebt, mit DDR-Bürgern, die sich lediglich postalisch oder telefonisch mit einem Anliegen an sie wenden, in persönlichen Kontakt zu treten. Aus diesem Grunde wurden den betreffenden DDR-Bürgern die Sprechzeiten der Vertretung auf dem Postweg sowie telefonisch bzw. telegraphisch mitgeteilt. Diese Mitteilungen sind in der Regel mit der Aufforderung verbunden, zur Klärung ihres Anliegens in der Vertretung persönlich vorzusprechen.