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Einschätzung des Unfallgeschehens bei der Reichsbahn 1975–1976

2. Mai 1977
Information Nr. 247/77 über einige Probleme des Unfallgeschehens auf dem Gebiet der Deutschen Reichsbahn in den Jahren 1975 und 1976

Die ständig steigenden Transportbedürfnisse der Volkswirtschaft der DDR stellen an den Hauptverkehrsträger Deutsche Reichsbahn hohe Anforderungen, um den im Beschluss des IX. Parteitages geforderten Leistungszuwachs in der Personen- und Güterbeförderung1 bei Gewährleistung einer hohen Sicherheit zu realisieren.

Im Rahmen der volkswirtschaftlichen Möglichkeiten erfolgt eine kontinuierliche Verbesserung und Erweiterung der materiell-technischen Basis der Deutschen Reichsbahn, vor allem durch die Rekonstruktion und Erweiterung des Streckennetzes, die Traktionsumstellung und die Erneuerung des Wagenparkes.

Die weitere Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Deutschen Reichsbahn und die Gewährleistung einer hohen Sicherheit im Eisenbahnverkehr wird jedoch durch das Unfallgeschehen beeinträchtigt.

Die in diesem Zusammenhang gemeinsam mit der Transportpolizei2 und Fachexperten geführten Untersuchungen des MfS zur Aufklärung der Ursachen und begünstigenden Bedingungen für das Eintreten schwerer Bahnbetriebsunfälle sowie über die allgemeinen Entwicklungstendenzen des Unfallgeschehens im Betrieb der Deutschen Reichsbahn in den Jahren 1975 und 1976 haben folgendes Ergebnis:

Durch den Hauptverkehrsträger Deutsche Reichsbahn wurden 1975/1976 Anstrengungen unternommen, um die Sicherheit, Ordnung und Disziplin mit höherer Qualität durchzusetzen. Die Initiativen und Aktivitäten der Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn führten zu positiven Ergebnissen bei der Realisierung der übertragenen Transportaufgaben. Sie wurden aber durch das Unfallgeschehen, insbesondere durch die Auswirkungen schwerer Bahnbetriebsunfälle, und daraus resultierende Folgen in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt.

Dabei ist beachtenswert, dass die in der Information des MfS (Nr. 68/75 vom 20.2.1975) über »wesentliche Ergebnisse der Untersuchungen von schweren Bahnbetriebsunfällen bei der Deutschen Reichsbahn im Jahr 1974« herausgearbeiteten Ursachen, vor allem Pflichtverletzungen seitens Angehöriger der Deutschen Reichsbahn sowie technische Mängel bzw. Verschleißerscheinungen an Fahrzeugen und Anlagen der Deutschen Reichsbahn nach wie vor das Unfallgeschehen bei der Deutschen Reichsbahn bestimmen.

Die in diesem Zusammenhang vorgeschlagenen Maßnahmen zur Zurückdrängung von Bahnbetriebsunfällen, zur verstärkten Schulung und Qualifizierung der Eisenbahner, zur Erhöhung des Ausbildungsstandes sowie zur Gewährleistung einer verbesserten technischen Kontrolle des Wagenparks, der Triebfahrzeuge und Oberbauanlagen sind noch nicht in vollem Umfang wirksam geworden.

Auch die angeregten Maßnahmen zur verstärkten Einflussnahme auf die konsequente Einhaltung der Fahrdienstvorschriften und zur wirksameren Unterstützung bei der Einführung der induktiven Zugsicherung und des Streckenfunks – mit dem Ziel, weitere Möglichkeiten zur Gewährleistung einer hohen Betriebssicherheit auszuschöpfen – sind bisher offensichtlich noch nicht durchgehend realisiert worden. Nach wie vor wirken z. T. die gleichen Gefahrenquellen bzw. sind begünstigende Bedingungen wirksam, die zu schweren Bahnbetriebsunfällen und Gefährdungssituationen führten.

Die im Verantwortungsbereich der Deutschen Reichsbahn eingetretenen Bahnbetriebsunfälle und Zuggefährdungen weisen für die Jahre 1975 und 1976 eine annähernd gleichbleibende Tendenz auf, jedoch stieg der durch Bahnbetriebsunfälle verursachte materielle Schaden im Jahr 1976 an.

Dazu folgende Übersicht:

Anzahl der Schadensfälle [insgesamt und davon verursacht von den Hauptdienstzweigen:]

[Jahr]

Insgesamt

Betrieb und Verkehr

Maschinen-wirtschaft

Bahnanlagen

Wagen-wirtschaft

Signal- und Fernmelde-wesen

1975

5 907

4 039

418

770

344

51

1976

5 816

3 909

383

759

371

40

Schaden (in Mio. Mark)

[Jahr]

Insgesamt

Betrieb und Verkehr

Maschinen-wirtschaft

Bahnanlagen

Wagen-wirtschaft

Signal- und Fernmelde-wesen

1975

6,3

2,6

0,4

1,4

0,9

0,25

1976

8,7

1,55

1,47

3,7

1,3

0,07

Allein durch die 1976 eingetretenen schweren Bahnbetriebsunfälle (31) entstand 70 % des Gesamtschadens (6,1 Mio. M). Dabei wurden eine Person getötet und 96 Personen verletzt. (Differenzsummen resultieren aus nicht angeführten Schadensfällen in den Verantwortungsbereichen Reichsbahnbaudirektion, Baubetriebsleitung DR u. a. nicht zu den Hauptdienstzweigen gehörenden Dienststellen der DR.)

Das Unfallgeschehen der Deutschen Reichsbahn weist auch seit Beginn des Jahres 1977 wiederum negative Beeinflussungen der Transportprozesse infolge von Bahnbetriebsunfällen und Zuggefährdungen auf.

So gab es seit 1.1.1977 erneut zehn schwere Bahnbetriebsunfälle, bei denen eine Person getötet und 63 Personen verletzt wurden. Der entstandene Sachschaden beträgt ca. 1 Mio. Mark.

In den Untersuchungen wurde festgestellt, dass die Mehrzahl der bei der Deutschen Reichsbahn in den Jahren 1975/1976 und 1977 eingetretenen Bahnbetriebsunfälle und Zuggefährdungen überwiegend auf Pflichtverletzungen und Fehlverhaltensweisen von Beschäftigten der verschiedenen Hauptdienstzweige der Deutschen Reichsbahn zurückzuführen sind (1975 69 % und 1976 68 % aller Bahnbetriebsunfälle und Zuggefährdungen).

Infolge von Materialermüdungs- und Verschleißerscheinungen sowie durch Verletzungen der Straßenverkehrsordnung an schienengleichen Überwegen – d. h. ohne Personenverschulden von Angehörigen der Deutschen Reichsbahn – sind weitere Bahnbetriebsunfälle und Gefährdungssituationen entstanden.

Die Pflichtverletzungen und Fehlverhaltensweisen betreffen vorwiegend:

  • Abweichen von betrieblichen Vorschriften bei der Bedienung von Schranken, Signalen, Weichen und Gleissperren,

  • mangelhafte Fahrwegprüfung und dadurch verursachte Einfahrt von Zugeinheiten bzw. Triebfahrzeugen in bereits besetzte Gleise,

  • Vorbeifahren an »haltzeigenden« Signalen bzw. das Nichtbeachten von Signalen,

  • Nichteinhaltung technischer Vorschriften, vorschriftswidrig durchgeführte Arbeiten beim Bau bzw. bei der Unterhaltung von Gleis- und Weichenanlagen, das Unterlassen von Folgemaßnahmen bei festgestellten Mängeln.

Oft werden diese Pflichtverletzungen und Fehlverhaltensweisen mit der Gewährleistung der Pünktlichkeit und Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Deutschen Reichsbahn motiviert. Es ist jedoch einzuschätzen, dass solche Faktoren wie Bequemlichkeit und Routine, Oberflächlichkeit und Gleichgültigkeit, ungenügende Vorschriftenkenntnis sowie Mängel und Unzulänglichkeiten in der Leitungstätigkeit, diese Pflichtverletzungen und Fehlverhaltensweisen entscheidend begünstigten.

In den geführten Untersuchungen konnte eindeutig festgestellt werden, dass die bestehenden Rechtsvorschriften, Ordnungen, innerdienstlichen Bestimmungen und Vorschriften bei der Deutschen Reichsbahn ausreichend sind, um bei voller Durchsetzung in allen Ebenen die Sicherheit, Ordnung und Disziplin zu gewährleisten und Bahnbetriebsunfälle und Zuggefährdungen weitestgehend zu verhindern.

Insbesondere die vom Ministerium für Verkehrswesen erlassene »Ordnung zur Verhütung und Bekämpfung von Havarien, Unfällen, Bränden und Katastrophen (Ereignissen)« – OVBE – vom 10.2.1972,3 in der die Grundsätze, Aufgaben und Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Schadensfällen fixiert sind, bildet für die staatlichen Leiter der Deutschen Reichsbahn ein wirksames Dokument, um die vorbeugende Arbeit effektiv zu gestalten.

Diesem Anliegen trägt auch die am 1.5.1976 in Kraft getretene überarbeitete »Dienstvorschrift zur Verhütung und Bekämpfung von Bahnbetriebsunfällen und anderen Ereignissen (BuVo)«4 Rechnung. Sie wird durch ereignisbezogene Weisungen des Ministers für Verkehrswesen ständig ergänzt.

Trotz erkennbarer Ansätze einer positiven Entwicklung der Leitungstätigkeit in den verschiedenen Ebenen und Bereichen sowie der Leistungen der einzelnen Arbeitskollektive wird übereinstimmend festgestellt, dass sich die Situation bisher nicht wesentlich verändert hat und die vielen Aktivitäten und Initiativen der Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn noch nicht wirksam genug auf die Verhinderung von Bahnbetriebsunfällen und Zuggefährdungen ausgerichtet werden.

Insbesondere die noch vorhandenen Mängel in der Leitungstätigkeit wirken sich negativ auf die Qualität der vorbeugenden schadenverhütenden Arbeit aus. Derartige Unzulänglichkeiten und Mängel bestehen im Wesentlichen in Folgendem:

  • der vorbeugende Aspekt zur Verhütung von Bahnbetriebsunfällen wird noch nicht mit der erforderlichen Konsequenz durchgesetzt,

  • die Leitungstätigkeit ist fast ausschließlich ereignisorientiert, auf den jeweiligen Bahnbetriebsunfall bezogen und schließt noch nicht ausreichend die planmäßige, schadenverhütende Arbeit ein,

  • die Ursachen eingetretener Bahnbetriebsunfälle werden noch nicht immer allseitig und tiefgründig genug untersucht,

  • eingeleitete Maßnahmen zur Veränderung der Situation werden nicht kontinuierlich durchgesetzt und kontrolliert,

  • die Zeitspanne vom Erkennen einer Gefährdungssituation bis zur Beseitigung der Gefahrenquelle ist oftmals zu groß.

Besonders in den Bereichen, in denen eine kritische Arbeitskräftesituation besteht (Rangier- und Stellwerkspersonal zu etwa 26 % bzw. 10 % unterbesetzt), ist ein Zurückweichen vor Auseinandersetzungen und vor der disziplinarischen Ahndung von verschuldeten Bahnbetriebsunfällen zu verzeichnen.

So ergaben einige im Jahr 1976 durchgeführte Untersuchungen, dass verschiedentlich die Festlegungen in den Abschlussvermerken bzw. Unfallmeldeblättern (Disziplinarstrafen, Abzüge vom Prämienzeitlohn) auf einigen großen Bahnhöfen nicht realisiert und somit keine disziplinarischen Ahndungen durchgeführt wurden. Der erzieherische Wert und die Bedeutung derartiger Festlegungen werden damit praktisch bedeutungslos. Die Ursachen liegen im Wesentlichen in einer mangelhaften Leitungs- und Kontrolltätigkeit sowie in einer ungerechtfertigten Scheu vor der konsequenten Auseinandersetzung mit den Verursachern von Bahnbetriebsunfällen.

Wie in der gesamten Untersuchungsführung deutlicher als bisher erkennbar wurde, haben die Pflichtverletzungen und Fehlverhaltensweisen der Beschäftigten der Hauptdienstzweige Betrieb und Verkehr, Maschinenwirtschaft, Bahnanlagen und Wagenwirtschaft der Deutschen Reichsbahn auf verschiedenartigste Weise und in unterschiedlichem Umfang zum Unfallgeschehen beigetragen. Auf einige der spezifisch zu beachtenden Aspekte soll nachfolgend umfassender eingegangen werden.

Der Hauptdienstzweig Betrieb und Verkehr verursachte in den Jahren 1975 und 1976 rund 68 % der Bahnbetriebsunfälle, überwiegend als Folge von Pflichtverletzungen und Fehlverhaltensweisen durch Stellwerks-, Rangier- und Aufsichtspersonal.

So führte z. B. das routinemäßige Handeln unter Verletzung dienstlicher Vorschriften eines Aufsichters [sic!] und eines Triebfahrzeugführers zu einer Flankenfahrt zwischen einer Lok und einem Triebwagen auf dem Bahnhof Potsdam-Stadt (21.2.1977), wobei sechs Personen verletzt wurden. Der Aufsichter erteilte den Abfahrauftrag, obwohl das Ausfahrsignal »Halt« zeigte, und der Triebfahrzeugführer fuhr vorschriftswidrig am haltzeigenden Signal vorbei.

Als Verursacher von Bahnbetriebsunfällen und Zuggefährdungen traten u. a. Eisenbahner in Erscheinung, die erst kurze Zeit nach Abschluss ihrer Ausbildung bzw. nach Abschluss einer Erwachsenenqualifizierung auf dem entsprechenden Dienstposten eingesetzt wurden.

In den ersten, selbstständig verrichteten Dienstschichten sind diese Beschäftigten oft stark erregt, was häufig zu Unsicherheiten im Handlungsablauf führt, wodurch nachweislich Bahnbetriebsunfälle und Zuggefährdungen entstanden sind bzw. deren Entstehung begünstigt wurde.

Diese Pflichtverletzungen und Fehlverhaltensweisen resultieren in erster Linie aus

  • mangelhafter Einweisung in die Örtlichkeit des jeweiligen Dienstpostens und die speziell zu beachtenden Besonderheiten,

  • ungenügender Prüfung der Kenntnisse der Reichsbahn-Angehörigen über den jeweiligen Dienstposten und

  • Schwierigkeiten bei der Umsetzung der theoretischen Kenntnisse in die Praxis.

So verursachte am 18.2.1977 ein als Fahrdienstleiter auf dem Bahnhof Rastow, [Bezirk] Schwerin, tätiger Jungeisenbahner (18) die Entgleisung von zwei Wagen eines D-Zuges und die Beschädigung der Lok eines entgegenkommenden Personenzuges, wobei drei Personen verletzt wurden und ein Schaden von 85 TM entstand. Der Fahrdienstleiter verstieß gegen die Fahrdienstvorschriften der Deutschen Reichsbahn, indem er die Weiche unter dem bewegten letzten Wagen umstellte, sodass dieser und ein weiterer entgleisten.

Eine große Anzahl der im Hauptdienstzweig Betrieb und Verkehr entstehenden Gefährdungssituationen resultieren aus fehlerhaften Schrankenbedingungen.

Ungeachtet der Tatsache, dass sich die zugbedienten Wegübergangssicherungsanlagen günstig auf die Betriebssicherheit auswirken – mit ihrem Einsatz konnten die Vorkommnisse an den beschrankten Wegübergängen um mehr als 90 % verringert werden – ist jedoch seit Beginn der Realisierung des Wegübergangssicherungsanlagen-Programms ein ständiger Rückgang bei der Errichtung weiterer Anlagen zu verzeichnen. (Im Jahre 1971 wurden noch 160 Anlagen errichtet, 1977 werden es nur 29 sein, 1978 lediglich 11.)

Eine solche Tendenz wirkt sowohl der notwendigen Arbeitskräftefreisetzung als auch der angestrebten Erhöhung der Betriebssicherheit entgegen.

Im Hauptdienstzweig Maschinenwirtschaft haben sich in den Jahren 1975 und 1976 418 bzw. 383 Bahnbetriebsunfälle, die zu einem Großteil auf Pflichtverletzungen und Fehlverhaltensweisen durch Beschäftigte dieses Hauptdienstzweiges zurückzuführen waren, ereignet.

Allein im Jahre 1976 gab es 111 Fälle des Vorbeifahrens an haltzeigenden Signalen durch Triebfahrzeugführer, was zu drei schweren Bahnbetriebsunfällen führte.

Am 17.7.1976 fuhr zwischen den Bahnhöfen Satzkorn und Priort, Bezirk Potsdam, ein Personenzug auf einem wegen einer Bremsstörung haltenden Güterzug auf, da der Lokomotivführer des Personenzuges das haltzeigende Signal überfuhr und trotz eingeleiteter Schnellbremsung den Zug nicht rechtzeitig zum Stehen bringen konnte. Bei diesem Auffahrunfall wurden vier Personen, darunter eine ČSSR-Bürgerin, schwer und 15 Personen leicht verletzt.

Der materielle Schaden am Fahrzeugpark, Oberbau und an den Sicherungsanlagen betrug 390 TM. Fünf Transitreisezüge mussten umgeleitet werden. Darüber hinaus machte sich Schienenersatzverkehr erforderlich.

Auch im Güterzugverkehr führte ein derartiges Fehlverhalten am 4.7.1976 auf dem Güterbahnhof Karl-Marx-Stadt–Hilbersdorf zu einem schweren Bahnbetriebsunfall (62 TM Sachschaden). Der Lokführer eines Güterzuges beachtete ein haltzeigendes Signal nicht und fuhr auf eine abgestellte Güterwagengruppe auf.

In diesem Zusammenhang ist jedoch zu beachten, dass Triebfahrzeugführer und Beimänner im Jahresdurchschnitt insgesamt 400 Überstunden, in Einzelfällen sogar bis zu 1 200 Überstunden leisten. (Der Triebfahrzeugführer des vorgenannten schweren Bahnbetriebsunfalls in Satzkorn-Priort, [Bezirk] Potsdam, hatte bis zum 17.7.1976 bereits 224 Überstunden geleistet.) Die Beschäftigten dieses Dienstzweiges haben auch oft erhebliche Urlaubsüberhänge.

Insgesamt 13 % der Bahnbetriebsunfälle und Zuggefährdungen und 42,5 % des Gesamtschadens (3,7 Mio. M) verursachte der Hauptdienstzweig Bahnanlagen. (Trotz der auf zentraler Ebene des Verkehrswesens in den vergangenen Monaten zu verzeichnenden Aktivitäten, die teilweise auf der Grundlage von Empfehlungen des MfS entstanden, ist noch immer keine wesentliche Verbesserung der Situation im Unfallgeschehen im Verantwortungsbereich Bahnanlagen eingetreten.) Diese Schadensfälle entstanden in erster Linie wegen Spurerweiterungen, Mängeln an der Höhenlage des Gleises, am Schienenstoß, an Zungenvorrichtungen von Weichen sowie durch Schienenbrüche und weisen eindeutig auf bestehende Mängel am Oberbau hin. Zu beachten ist dabei der seit 1971 feststellbare ständige Anstieg von Bahnbetriebsunfällen auf dem von internationalen Reisezügen befahrenen Streckennetz der Deutschen Reichsbahn (während es 1971 21 Bahnbetriebsunfälle gab, waren es 1976 bereits 48).

So entgleiste zum Beispiel am 11.8.1976 der D-Zug Putbus–Leipzig auf dem auch im internationalen Transitverkehr stark frequentierten nördlichen Außenring bei Berlin, weil der zuständige Streckenmeister Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit fehlerhaft ausgeführten Oberbauarbeiten begangen hatte. Bei diesem schweren Bahnbetriebsunfall wurden eine Person getötet und sieben Reisende verletzt. Der Sachschaden betrug ca. 127 TM.

Die Hauptverwaltung Bahnanlagen stellte in der Analyse zur Entwicklung der Betriebssicherheit 1976 bereits ein Ansteigen der Bahnbetriebsunfälle und Zuggefährdungen mit Personalverschulden fest. Hierunter befinden sich auch die Bahnbetriebsunfälle, die durch ungenügendes Einschätzen und Erkennen des Verschleißzustandes von Oberbaumaterial in Gleisen und Weichen eintraten. Die daraus resultierende bedeutende Anzahl der von diesem Hauptdienstzweig zu verantwortenden Anzahl von Bahnbetriebsunfällen ist teilweise auf Schwächen in der Leitungstätigkeit zurückzuführen, da in den meisten Fällen bestehende technische Mängel sowohl in den durchgehenden Hauptgleisen in den Bahnhöfen bzw. in der Gleislage bei Streckengleisen sowie in den Weichen bekannt waren. Die betreffenden Dienststellen des Hauptdienstzweiges Bahnanlagen schätzen jedoch die Betriebsgefährlichkeit der Abweichungen offensichtlich nicht in jedem Fall richtig ein und versäumten es, rechtzeitig geeignete Maßnahmen baulicher bzw. betrieblicher Art zur Verhinderung von Entgleisungen einzuleiten.

Die Auswertung vorliegender Untersuchungsergebnisse erfolgt darüber hinaus oft noch nicht konsequent genug, entsprechende Schlussfolgerungen werden nur formal gezogen. Notwendige Maßnahmen sind deshalb nicht immer voll wirksam geworden und es besteht jederzeit die Gefahr, dass sich Unfälle ähnlicher Art aufgrund gleicher Ursachen wiederholen.

So ist auch der folgenschwere, am 23.6.1976 eingetretene Bahnbetriebsunfall auf dem Bahnhof Eisenach, bei dem ein von Westberlin nach der BRD verkehrender Transitreisezug mit einer Rangiereinheit kollidierte (24 Verletzte und 2,4 Mio. M Sachschaden), wegen erheblicher, seit längerer Zeit bekannter Mängel an einer doppelten Kreuzungsweiche entstanden.

Wiederholt endeten eisenbahnseitige, in der Regel oberflächlich durchgeführte Untersuchungen über die durch den Hauptdienstzweig Bahnanlagen zu verantwortenden Bahnbetriebsunfälle mit der allgemeinen Feststellung, diese seien auf »technische Mängel« zurückzuführen. Eine solche Untersuchungsführung verhinderte letztlich jedoch nur aufzudecken, dass diese »technischen Mängel« durch menschliches Verschulden entstanden und somit nicht die eigentliche Ursache für eingetretene Bahnbetriebsunfälle darstellen.

Im Zusammenhang mit der Untersuchung des Bahnbetriebsunfalles bei dem Haltepunkt Großdeuben bei Leipzig am 9.3.1977 – Entgleisung eines D-Zuges – (20 Verletzte, 126 TM Sachschaden) wurde u. a. festgestellt, dass es der zuständige Bahnmeister und der amtierende Abteilungsleiter Oberbau und Strecken der Reichsbahndirektion Halle vorschriftswidrig unterlassen hatten, nach Auswertung des Gleismessstreifens die zulässige Fahrgeschwindigkeit weiter herabzusetzen.

Bei verantwortungsbewusstem Handeln und Einhalten der entsprechenden Vorschriften hätte diese Entgleisung trotz der bestehenden Mängel im Oberbauzustand (insgesamt 10 betriebsgefährdende Stellen) verhindert werden können.

Zur weiteren Verbesserung der vorbeugenden Arbeit erließ der Minister für Verkehrswesen im Februar 1977 die »Weisung für den Einsatz des Oberbaumesswagens und der Gleismessfahrzeuge sowie für die Arbeit mit dem Gleismessstreifen«. Mit dieser Weisung werden einheitliche Normative festgelegt und überholte Weisungen aufgehoben.

Im Hauptdienstzweig Wagenwirtschaft ereigneten sich 1975/1976 344 bzw. 379 Bahnbetriebsunfälle mit ca. 880 TM bzw. ca. 1 332 TM Schaden.

Trotz zahlreicher Wagenneuzuführungen und der damit verbundenen Verminderung des Durchschnittsalters des Wagenparks haben rund ein Drittel der im Einsatz befindlichen Güterwagen die normative Nutzungsdauer von 34 Jahren überschritten. In Verbindung mit der hohen Dauerbelastung können diese Umstände trotz modernisierter Verfahren zur Früherkennung von Schäden zu Materialermüdungen führen und daraus Gefährdungssituationen entstehen. Sie werden z. T. dadurch begünstigt, dass in den Bahnbetriebswagenwerken und den ihnen unterstellten Wagenausbesserungsstellen nur in unzureichendem Maße notwendige Kontroll-, Wartungs- und Reparaturarbeiten durchgeführt werden. (Über einige im Zusammenhang mit der Feststellung, Erfassung und Reparatur schadhafter Güterwagen stehende Probleme der Verletzung gesetzlicher Bestimmungen und innerbetrieblicher Weisungen und den sich daraus ergebenden Gefährdungssituationen informierte das MfS bereits in der Information Nr. 194/77 vom 1.4.1977.)

Der Anteil der im Hauptdienstzweig Sicherungs- und Fernmeldewesen in den Jahren 1975 und 1976 zu vertretenden Bahnbetriebsunfälle (51 bzw. 40) war relativ gering.

Zu beachten ist jedoch, dass die Funktionstüchtigkeit der Sicherungs- und Fernmeldeanlagen wesentliche Auswirkungen auf die Gewährleistung der Betriebssicherheit bei der Deutschen Reichsbahn hat. Ausfälle von Sicherungs- und Fernmeldeanlagen bedingen Ausnahmesituationen bei Zug- und Rangierfahrten, indem insbesondere die Stellwerks- und Triebfahrzeugpersonale vom Normalfall abweichende Handlungen durchführen müssen. Störungen an den Signal- und Blockeinrichtungen heben die sichere Verkehrsabwicklung auf, da sie ein normabweichendes Zusammenwirken zwischen den Stellwerkspersonalen einerseits und den Triebfahrzeugführern andererseits erfordern. Damit entstehen begünstigende Bedingungen für Pflichtverletzungen und Fehlverhaltensweisen, wie Einfahren in bereits besetzte Gleise und Stellen von Weichen unter bewegten Fahrzeugen.

Die Sicherungsanlagen der Deutschen Reichsbahn dienen nicht nur der Gewährleistung eines sicheren Zug- und Rangierbetriebes. Ihr technischer Zustand beeinflusst auch entscheidend die Durchlassfähigkeit der Strecken und Bahnhöfe. Die vorhandenen Anlagen sind zum Teil stark überaltert und können nur mit einem hohen Aufwand funktionstüchtig erhalten werden.

Die Situation in diesem Hauptdienstzweig ist dadurch gekennzeichnet, dass in den Jahren 1975/76 jeweils 110 000 Störungen, d. h. Ausfälle an Fernmelde- und Sicherungsanlagen, auftraten.

Hinzu kommt, dass die derzeitig vorhandenen und für den Fünfjahrplanzeitraum geplanten und lieferseitig gesicherten Sicherungsanlagen den Personalaufwand bei der Realisierung der Zug- und Rangierfahrten nicht entscheidend verringern, das Betriebspersonal nicht von routinemäßigen Arbeiten entbinden und nicht zur Teilautomatisierung des Betriebsablaufes beitragen.

In diesem Zusammenhang wirken sich Lieferschwierigkeiten des VEB Werk für Signal- und Sicherungstechnik Berlin (WSSB) nachteilig aus. Seit Jahren kann der Bedarf der Deutschen Reichsbahn sowohl an Ersatzteilen als auch an neuer Sicherungstechnik nicht sortiments- und plangerecht abgedeckt werden. (Z. B. waren 1975 von den rund 4 000 Stellwerken erst 8 % mit moderner Gleisbildtechnik ausgerüstet und auf 6 % der Hauptstrecken automatische Streckenblocks eingeführt.)

Vom Hauptstreckennetz der Deutschen Reichsbahn sind nur ca. 4,5 % und nur 2 % der Triebfahrzeuge mit punktförmigen Zugbeeinflussungseinrichtungen ausgerüstet.5 Vorgesehen ist die Ausrüstung von 6 000 km Hauptbahnen (Ist = 271 km) und von 3 200 Triebfahrzeugen (Ist = 60). Infolge dieser bisher geringfügigen Ausrüstung der Strecken und Triebfahrzeuge mit derartigen aus dem NSW (Siemens – BRD) importierten Zugbeeinflussungseinrichtungen konnten die umfangreichen Zuggefährdungen durch Vorbeifahrt an haltzeigenden Signalen noch nicht wesentlich reduziert werden.

Die von der Deutschen Reichsbahn zur Realisierung des Ministerratsbeschlusses vom 12.8.19706 unternommenen Bemühungen zur Entwicklung und Produktion derartiger Sicherungseinrichtungen im Bereich der VVB Automatisierungs- und Elektroenergieanlagen Berlin oder in anderen sozialistischen Ländern waren bisher ergebnislos, sodass die weitere Ausrüstung des Streckennetzes mit derartigen Zugbeeinflussungseinrichtungen stagniert.

Das Staatsplanthema »Streckenfunk«, das im Verantwortungsbereich des Ministeriums für Elektrotechnik/Elektronik (MfEE) federführend bearbeitet wird, soll abgebrochen werden. Obwohl in den zuständigen Hauptabteilungen des Ministeriums für Verkehrsweisen der Einsatz des Streckenfunkes nach 1980 für notwendig erachtet wird, liegt noch keine Einsatzkonzeption vor.

In allen Hauptdienstzweigen werden bei Schulungen und im Dienstunterricht spezifische Probleme behandelt, die eine Erhöhung von Sicherheit, Disziplin und Ordnung beinhalten und der weiteren fachlichen Qualifizierung dienen.

Aus den Pflichtverletzungen und Fehlverhaltensweisen von Angehörigen der Deutschen Reichsbahn ist jedoch abzuleiten, dass bei einem Teil der Beschäftigten noch nicht die erforderliche Qualifikation oder genügend anwendungsbereites Wissen vorhanden ist. Die praktische Ausbildung der Lehrlinge, besonders im Hauptdienstzweig Betrieb und Verkehr, ist nach Expertenmeinungen noch verbesserungsbedürftig. Lehrfacharbeiter vermitteln ihrerseits teilweise bereits falsche Kenntnisse, weil sie selbst infolge mangelhafter Qualifikation und ungenügender Kontrolle den Betriebsdienst fehlerhaft ausüben.

Im Ergebnis der geführten Untersuchungen über die Ursachen und begünstigenden Bedingungen für Bahnbetriebsunfälle und Zuggefährdungen sowie vorliegender Erkenntnisse über den betriebsgefährdenden Zustand der Gleis- und Sicherungsanlagen sowie des Fahrzeugparks sollte unter Berücksichtigung der ständig steigenden Anforderungen an den Hauptverkehrsträger Deutsche Reichsbahn in entsprechenden zentralen Gremien, unter maßgeblicher Führung des Ministeriums für Verkehrswesen, geprüft werden, weitere wirksame Mittel und Methoden in die Praxis der Führungs- und Leitungstätigkeit einzuführen.

Das sollte im Wesentlichen geschehen durch:

  • eine exakte und tiefgründige Untersuchung von Bahnbetriebsunfällen und anderen Schadensereignissen, eine konsequente Aufdeckung der tatsächlichen Ursachen, die Einleitung wirksamer Maßnahmen zur Beseitigung von Gefährdungssituationen und begünstigenden Bedingungen, um Ordnung, Sicherheit und Disziplin grundsätzlich zu erhöhen,

  • die Verbesserung der politisch-ideologischen Erziehungsarbeit unter Einbeziehung der politischen Verwaltung der Deutschen Reichsbahn, die u. a. verstärkt auf vorgenannte Probleme gerichtet werden sollte,

  • die Führung eines kompromisslosen Kampfes gegen unkritisches Verhalten gegenüber Bahnbetriebsunfällen und deren Verursacher,

  • die Durchsetzung geeigneter fachlicher Qualifizierungsmaßnahmen in allen Hauptdienstzweigen der Deutschen Reichsbahn, um in kürzester Zeit eine höhere Qualitätsarbeit in allen Bereichen zu garantieren; diese Qualifizierungsmaßnahmen sollten ständig hinsichtlich ihrer Wirksamkeit geprüft und neuen Anforderungen angepasst werden,

  • eine stärkere Beachtung des Prinzips »Jeder liefert jedem Qualität« in allen Bereichen im Rahmen des sozialistischen Wettbewerbs.

  1. Zum nächsten Dokument Asylersuchen eines westdeutschen Zahnarztes

    2. Mai 1977
    Information Nr. 291/77 über das Asylersuchen eines BRD-Bürgers in der DDR am 30.4.1977 an der Grenzübergangsstelle Berlin-Friedrichstraße

  2. Zum vorherigen Dokument Einreiseverbot für aus der DDR in den Libanon reisende Palästinenser

    30. April 1977
    Information Nr. 281/77 über die Verweigerung der Aufnahme von mit einem Flugzeug der Interflug nach Beirut gereisten Palästinensern durch die libanesischen Sicherheitsorgane