Manipulation von Bomben in einem Jagdfliegergeschwader der NVA
16. Mai 1977
Information Nr. 331/77 über die Beeinträchtigung der Einsatzbereitschaft der Kampftechnik in der [Nr.] Jagdstaffel des Jagdfliegergeschwaders 8 des Kommandos Luftstreitkräfte/Luftverteidigung der NVA in Marxwalde
Am 13.5.1977 wurde dem Ministerium für Staatssicherheit bekannt, dass die Unteroffiziere [Name 1, Vorname] (21), geb. am [Tag] 1955, NVA seit 5.5.1975 – Unteroffizier auf Zeit, Mechaniker für Triebwerke/Zelle in der [Nr.] Jagdstaffel, [Name 2, Vorname] (20), geb. am [Tag] 1956, NVA seit 4.11.1974 – Unteroffizier auf Zeit, Mechaniker für Triebwerke/Zelle in der [Nr.] Jagdstaffel sowie weitere sieben Unteroffiziere der gleichen Einheit des Jagdfliegergeschwaders 8 des Kommandos Luftstreitkräfte/Luftverteidigung der NVA in Marxwalde von dem insgesamt 36 Spreng- und Splittersprengbomben umfassenden Kampfsatz dieser Staffel aus 20 Fliegerbomben die Übertragungsladungen entwendeten und dadurch die Einsatz- und Gefechtsbereitschaft der [Nr.] Jagstaffel erheblich beeinträchtigten.
Darüber hinaus wurde festgestellt, dass der Truppführer für Flugzeugbewaffnung dieser Staffel, Oberleutnant [Name 3, Vorname] (25), geb. am [Tag] 1951, NVA seit 28.8.1970 – Berufsoffizier, durch seine seit Juni 1976 unterlassene Erfüllung ihm übertragener Dienstpflichten das Abhandenkommen der Übertragungsladungen und die daraus entstandenen schweren Folgen für die Gefechtsbereitschaft verschuldete.
Die bisher durch das Ministerium für Staatssicherheit im Zusammenwirken mit dem zuständigen Militärstaatsanwalt geführten Untersuchungen ergaben:
Auf der Grundlage des Befehls 85/76 des Ministers für Nationale Verteidigung (Lagerung eines Kampfsatzes Fliegerbomben am Flugzeug)1 wurde die [Nr.] Jagdstaffel des Jagdfliegergeschwaders 8, Marxwalde, Mitte 1976 als einzige Einheit der Luftstreitkräfte der NVA mit der Zielstellung ihres möglichen Einsatzes zum Erdkampf zur Unterstützung der Landstreitkräfte mit Splitterspreng- und Sprengbomben ausgerüstet.
In Realisierung eines auf die schnelle Herstellung der Gefechtsbereitschaft abzielenden, jedoch im Widerspruch zu den dafür geltenden militärischen Grundsatzbestimmungen stehenden Neuerervorschlages2 erfolgte die Lagerung dieser Bomben innerhalb der Flugzeugboxen im Seilhang sowie in unverschlossenen und nichtverplombten Transportkörben und [die Bomben] waren für das gesamte fliegertechnische Personal zugänglich.
Im Verlauf der Ende Juni 1976 durchgeführten Übung »Granit« wurden befehlsmäßig die Fliegerbomben an die Flugzeuge angehängt und die in den Bomben befindlichen, aus jeweils 100 bzw. 300 Gramm Sprengstoff bestehenden Übertragungsladungen zeitweilig gegen elektrische Zünder ausgewechselt. Diese Arbeiten führten die Waffentechniker mit Unterstützung der Mechaniker, wozu auch [Name 1] gehörte, aus. Verantwortlich für diese Umrüstung sowie für das anschließende Einsammeln der Übertragungsladungen war Oberleutnant [Name 3].
Da er diese ihm obliegende Dienstpflicht nicht ordnungsgemäß erfüllte, lagen ein Teil der Übertragungsladungen mehrere Tage ungesichert und unbeaufsichtigt in den Flugzeugboxen. Unteroffizier [Name 1] nutzte diese grobe Fahrlässigkeit, entwendete mehrere Übertragungsladungen und verbrannte sie im Beisein von vier weiteren Unteroffizieren.
In der Zeit von September 1976 bis Mai 1977 schraubte [Name 1] während der Wartungsarbeiten an den Flugzeugen von insgesamt sieben Bomben die Übertragungsladungen (1 600 g Sprengstoff) heraus und verbrannte sie auf dem Flugplatzgelände sowie in einem Fall in seinem Heimatort.
Die Handlungen des [Name 1] waren – den bisherigen Untersuchungsergebnissen zufolge – von dem Interesse motiviert, die Wirkung des Sprengstoffes festzustellen.
Mit den gleichen Motiven wollen der Unteroffizier [Name 2], der aus drei Bomben die Übertragungsladungen ausbaute, sowie weitere sieben Unteroffiziere, die jeweils ein bis zwei Übertragungsladungen auf diese Art und Weise demontierten, diese Handlungen begangen haben. Der überwiegende Teil dieses Sprengstoffes wurde von den Tätern verbrannt. Im Zuge der geführten Untersuchungen wurden zwei Übertragungsladungen in den Unterkünften aufgefunden. Von einer Ladung konnte der Verbleib bisher nicht geklärt werden.
Die über den genannten Zeitraum fortgesetzt begangene Beeinträchtigung der Einsatzbereitschaft blieb unbemerkt, weil Oberleutnant [Name 3] die ihm laut Dienstvorschrift obliegende halbjährliche Kontrolle des Zustandes der Bomben unterließ.
Die im Rahmen der Untersuchung durchgeführte Kontrolle der gesamten Flugzeugbewaffnung des Jagdgeschwaders 8 ergab einen Überbestand von zwei Bomben, der auf die Abgabe vorschriftswidriger Verbrauchsmeldungen zurückzuführen ist.
Im Ergebnis der bisherigen Untersuchungen erfolgte durch den Militärstaatsanwalt die Einleitung von Ermittlungsverfahren gemäß § 273 StGB (Beeinträchtigung der Einsatzbereitschaft der Kampftechnik) bzw. gemäß § 274 (Verlust von Kampftechnik).3 Auf gleichen Rechtsgrundlagen wurden gegen [Name 1] und [Name 2] Ermittlungsverfahren mit Haft und gegen [Name 3] sowie den gleichfalls beteiligten Unteroffizier [Name 4] Ermittlungsverfahren ohne Haft eingeleitet.
Gegen weitere an diesen Handlungen beteiligte sechs Unteroffiziere der [Nr.] Jagdstaffel erfolgen disziplinare [sic!] Maßnahmen.
In den bisherigen Untersuchungen wurden keine Hinweise auf eine Feindtätigkeit im Zusammenhang mit diesen Handlungen bekannt.
Die Untersuchungen durch das MfS werden fortgeführt.