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Verhaftung eines Arbeiters in Jena wegen angedrohter Geiselnahme

26. April 1977
Information Nr. 270/77 über die Verhinderung einer durch angedrohte Geiselnahme versuchten rechtswidrigen »Übersiedlung« in die BRD

Am 20.4.1977 wurde durch das MfS im Ergebnis umfangreicher operativer und mit der DVP koordinierter Maßnahmen der Bürger der DDR [Name, Vorname 1] (26), geb. am [Tag] 1950 in Jena, Beruf: Vorfertigungsmechaniker, zuletzt Werkzeugausgeber im VEB Carl Zeiss Jena, wohnhaft: Jena, [Adresse], nach mehrmaliger anonymer Androhung einer Geiselnahme zur erpresserischen Durchsetzung seiner rechtswidrigen Ersuchen auf Übersiedlung in die BRD festgenommen.

Dem MfS war am 11.4.1977 ein an das VPKA Jena gerichteter anonymer Brief bekannt geworden, in dem vom Schreiber die beabsichtigte Geiselnahme von zwei Personen und deren Tötung bei Nichterfüllung bestimmter Forderungen angedroht wurde. Diese Forderungen beinhalteten im Einzelnen die Ausstellung von vier Urkunden über die Aberkennung der Staatsbürgerschaft der DDR, von vier Pässen zur sofortigen Ausreise in die BRD, die Aushändigung einer Summe von 25 000 DM, die Bereitstellung eines Kraftfahrzeuges »Barkas«1 mit Fahrer und die Organisierung der ungehinderten Ausreise über die Grenzübergangsstelle Hirschberg. Weiterhin enthielt das Schreiben den Hinweis, dass diese Forderungen am 14.4.1977 erfüllt werden müssten. Er würde sich über den VP-Notruf 110 mit dem Kennwort »Bundesrepublik« melden und dazu nähere Einzelheiten mitteilen.

Aufgrund dieser Umstände musste davon ausgegangen werden, dass die Gefahr einer Geiselnahme tatsächlich besteht und es wurden dementsprechend in Koordinierung mit der DVP sehr umfangreiche Maßnahmen eingeleitet und durchgesetzt, um eine solche Geiselnahme zu verhindern und bei entsprechenden Versuchen den oder die Täter möglichst frühzeitig zu erkennen und festzunehmen.

Es war notwendig, im beträchtlichen Umfang Spezialkräfte einzusetzen, zusätzliche Kräfte aus anderen Bezirken zuzuführen, eine Reihe spezifischer Mittel und Methoden anzuwenden, spurenkundliche Untersuchungen zu führen sowie technische Maßnahmen durchzuführen, wie die Installierung einer Fangschaltung für die Rufnummer 110, die Außerbetriebsetzung eines Teils der öffentlichen Fernsprecher im Stadtgebiet von Jena, um den Aktionsradius des Anrufers einzuengen, und die ständige Beobachtung der übrigen öffentlichen Fernsprecher.

Nicht wie angekündigt am 14.4.1977, sondern erst am 20.4.1977, um 8.35 Uhr, meldete sich der Täter mit dem angekündigten Kennwort telefonisch beim VPKA Jena. Da das Gespräch entsprechend den Festlegungen aus »technischen Gründen« unterbrochen wurde, sah er sich veranlasst, kurze Zeit danach von einem anderen öffentlichen Fernsprecher aus erneut anzurufen. Er teilte dabei mit, zwei Personen als Geiseln in seine Gewalt gebracht zu haben, die er in luftdicht verschlossenen Kisten eingesperrt habe und deren Versorgung mit Luft durch einen Akkumulator bzw. Rotor nur bis 15.00 Uhr am gleichen Tag gewährleistet sei.

Er forderte, um 9.00 Uhr das verlangte Fahrzeug, die Pässe und Urkunden sowie das Geld am Planetarium Jena bereitzustellen. Es gelang, den Täter hinzuhalten und zu weiteren Anrufen zu veranlassen, die er 9.45 Uhr und 12.15 Uhr von verschiedenen öffentlichen Fernsprechern tätigte. Bei diesen Anrufen bekräftigte er jeweils seine Drohungen und Forderungen.

Während seines letzten Anrufes wurde die Aktion zur Festnahme des Täters ausgelöst.

In seiner ersten Vernehmung beharrte [Name] zunächst auf der Behauptung, Geiseln in seiner Gewalt zu haben und versuchte damit weiterhin, seine rechtswidrige Übersiedlung in die BRD zu erzwingen. Im Ergebnis der vorangegangenen umfangreichen Maßnahmen konnte beweiskräftig nachgewiesen werden, dass [Name] keine Geiseln in seiner Gewalt hat.

Zur Person des [Name], seiner politischen Einstellung und seinen Verhaltensweisen verdient Beachtung: [Name] erlernte im VEB Carl Zeiss Jena den Beruf eines Vorfertigungsmechanikers und übte ihn im gleichen Betrieb bis 1971 aus. Anschließend leistete er bis Oktober 1972 seinen Wehrdienst und war zuletzt Funker mit dem Dienstgrad Gefreiter. Danach nahm er seine berufliche Tätigkeit im VEB Carl Zeiss Jena wieder auf. 1973 begann er an der Fachschule des Betriebes ein Ingenieurstudium, welches er 1975 selbst abbrach, als ihm nahegelegt wurde, sich in Vorbereitung auf seine spätere leitende Tätigkeit gesellschaftspolitisch aktiv zu betätigen, was jedoch seiner politischen Einstellung widersprochen habe. [Name] war bis 1974 Mitglied der FDJ und bis 1976 des FDGB.

Im August und im Dezember 1976 hatte [Name] für sich und seine Ehefrau sowie sein jetzt vierjähriges Kind widerrechtliche Ersuchen zur Ausreise aus der DDR an den Rat der Stadt Jena gestellt.

Er begründete diese Ersuchen mit seiner ablehnenden Einstellung zu den Verhältnissen in der DDR und berief sich dabei auf die Schlussakte von Helsinki,2 die UNO-Menschenrechtsdeklaration,3 den Grundlagenvertrag4 und die Verfassung der DDR.5 Beide Ersuchen wurden abgelehnt, woraufhin er demonstrativ aus dem FDGB austrat.

Seine Ehefrau, [Name], geb. [Geburtsname, Vorname 2] (24), arbeitete als Feinoptikerin im VEB Carl Zeiss Jena. Am 11.2.1977 kündigte sie mit der Begründung, dass sie wegen der Ablehnung der »Ausreiseanträge« nicht mehr für die DDR arbeiten könne.

Aufgrund seiner verfestigten ablehnenden Einstellung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR entschloss sich [Name], sein Vorhaben durch Erpressung der Staatsorgane der DDR zu realisieren. Inspiriert durch Veröffentlichungen über Geiselnahmen in westlichen Ländern fasste er im März 1977 den Entschluss, zur Durchsetzung seiner Forderungen eine Geiselnahme vorzutäuschen. Er kalkulierte dabei ein, dass wirkungsvolle Gegenmaßnahmen der Sicherheitsorgane der DDR aus Rücksicht auf das Leben der Geiseln erschwert sein würden. In der Woche vom 28.3. bis 2.4.1977 verfasste er während der Nachtschicht an seinem Arbeitsplatz den anonymen Brief an das VPKA Jena, den er am 10.4.1977 mit der Post abschickte. Aus Sicherheitsgründen habe er sich dann nicht zu dem von ihm selbst angegebenen Zeitpunkt gemeldet, sondern eine Woche später, wobei er annahm, durch kurzfristige Terminstellungen wirkungsvolle Abwehrmaßnahmen und Überprüfungen verhindern zu können. Um von sich und seiner Familie (zusammen drei Personen) abzulenken, habe er die genannten Dokumente für vier Personen gefordert.

Gegen [Name] wurde durch das MfS ein Ermittlungsverfahren gemäß §§ 101 (Terror) und 106 (Staatsfeindliche Hetze) StGB6 eingeleitet und Haftbefehl erwirkt. Die Untersuchungen erstrecken sich auch auf die Aufklärung aller kriminellen Handlungsweisen des [Name].

Die Ehefrau des [Name] hatte nach bisherigen Feststellungen von der angedrohten Geiselnahme keine Kenntnis. Es wurden entsprechende Maßnahmen eingeleitet, um ihr weiteres Verhalten unter Kontrolle zu halten.

Die Untersuchungen zur weiteren Aufklärung der genauen Umstände, Zusammenhänge und Hintergründe der strafbaren Handlungen des [Name] werden durch das MfS fortgesetzt.

  1. Zum nächsten Dokument Suizid einer Rentnerin durch Selbstverbrennung

    27. April 1977
    Information Nr. 271/77 über den Suizid einer Rentnerin durch Selbstverbrennung in Altenburg, [Bezirk] Leipzig

  2. Zum vorherigen Dokument Verhaftung eines westdeutschen Grenzverletzers im Bezirk Rostock

    26. April 1977
    Information Nr. 248/77 über die Ergebnisse der Untersuchung des am 14.1.1977 erfolgten rechtswidrigen Eindringens einer Person von der BRD aus in das Staatsgebiet der DDR