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Vortäuschung einer Selbstverbrennung durch einen Arbeiter

27. April 1977
Information Nr. 276/77 über die Vortäuschung einer Selbstverbrennung durch den Bürger der DDR, [Name 1, Vorname 1], am 25.4.1977 in Osterburg, [Bezirk] Magdeburg

Am 25.4.1977 setzte der [Name 1, Vorname 1] (34), geb. am [Tag] 1942, Beruf: ohne, zuletzt tätig gewesen als Arbeiter in der Bezirksdirektion Straßenwesen [Bezirk] Magdeburg, Betriebsteil Osterburg, wohnhaft: Osterburg, [Adresse], im Büro des Betriebsleiters seine zuvor mit Dieselkraftstoff getränkte Hose in Brand, um damit seinen widerrechtlichen Ersuchen auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und Ausreise in die BRD Nachdruck zu verleihen. [Name 1] stand unter Alkoholeinfluss.

Nach seinen Angaben entschloss sich [Name 1] zur Durchführung dieser Handlung mit der Absicht, durch eine vorgetäuschte Selbstverbrennung seine Vorgesetzten zu veranlassen, für die Genehmigung der Übersiedlung seiner Familie in die BRD einzutreten. Er rechnete jedoch nicht mit dem Eintritt größerer Verletzungen. Die Ehefrau veranlasste seine sofortige Überführung in das Kreiskrankenhaus Seehausen/Altmark, Kreis Osterburg. Die ärztliche Untersuchung ergab, dass sich [Name 1] an beiden Unterschenkeln Verbrennungen 2. Grades zuzog und eine stationäre Behandlung erforderlich ist.

Die durch das MfS geführten Untersuchungen ergaben:

[Name 1] meldete sich am Morgen des 25.4.1977 bei seiner Arbeitsstelle zu einem Arztbesuch ab. Seinen Angaben zufolge begab er sich nach der ärztlichen Behandlung in eine Gaststätte und trank dort sechs bis sieben Gläser Bier. Anschließend suchte er seine Wohnung auf, wo er weiter Alkohol trank. Danach begab er sich zu seiner Arbeitsstelle, wo er gegen 12.00 Uhr eintraf und von einem auf dem Betriebsgelände abgestellten Tankwagen mittels Zapfpistole Dieselkraftstoff entnahm und seine Hose damit tränkte. Anschließend betrat er das Büro des Betriebsstellenleiters [Name 2, Vorname]. Außer [Name 2] war noch der Brigadier [Name 3, Vorname] anwesend. [Name 1] setzte sich nach seinem Eintritt auf einen Stuhl und äußerte zu den genannten Personen: »So, jetzt protestiere ich in der Öffentlichkeit, ich komme mit meiner Familie doch noch nach drüben in die BRD.« Nach diesen Worten brannte er sich eine Zigarette an und hielt das noch brennende Streichholz an die mit Dieselkraftstoff getränkte Hose, die sofort in Brand geriet. Anschließend rannte [Name 1] aus dem Büro, bestieg sein Fahrrad und fuhr vom Betriebsgelände auf die Straße. Nachdem er ca. 30 m auf der Straße gefahren war, rief er, offensichtlich unter Einwirkung großer Schmerzen, um Hilfe und fiel vom Fahrrad. Drei in der Nähe befindlichen Bürgern gelang es, die Flammen an der brennenden Hose zu ersticken. [Name 1] setzte sich daraufhin wieder auf sein Fahrrad und fuhr zu seiner Wohnung, wo er seiner Ehefrau erklärte, er habe einen Betriebsunfall erlitten.

Wie die durchgeführten Untersuchungen weiter ergaben, hat [Name 1] seit Juli 1975 umfangreiche Aktivitäten entfaltet, um mit seiner Familie in die BRD übersiedeln zu können. In insgesamt fünf Fällen richtete er rechtswidrige Übersiedlungsersuchen an staatliche Organe mit der Begründung, dass er mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR nicht einverstanden wäre, mit ihnen nicht zurechtkomme und seine Heimat in der BRD sei – aus der er 1961 in die DDR übersiedelte –, wo er auch seine gesamte Verwandtschaft habe. In den genannten Ersuchen beruft er sich außerdem auf die Schlussakte der KSZE und auf die UNO-Menschenrechtsdeklaration.1 Aus dem gesamten Verhalten von [Name 1] ist ersichtlich, dass er aus einer feindlichen Grundeinstellung heraus handelt, was auch dadurch bewiesen wird, dass er ständig die gesellschaftlichen Verhältnisse in der BRD verherrlicht und wegen staatsfeindlicher Hetze, Staatsverleumdung, versuchten ungesetzlichen Verlassens der DDR und wegen Einbruchdiebstahls mit insgesamt zwei Jahren und vier Monaten Freiheitsentzug vorbestraft ist.

Um eine Übersiedlung in die BRD zu »erzwingen«, versuchte [Name 1] Druck auf staatliche Organe der DDR auszuüben, indem er in Briefen an zentrale Staatsorgane, u. a. an den Minister des Innern, damit drohte, im Falle einer Ablehnung seiner Übersiedlungsersuchen sich an die Öffentlichkeit und an die ausländische Presse zu wenden. Des Weiteren forderte er seine in der BRD lebende Mutter auf, sich in einem Brief an Bundeskanzler Schmidt zu wenden, diesem sein Übersiedlungsanliegen mitzuteilen und dem Schreiben seine gegen ihn in der DDR ergangenen Gerichtsurteile beizufügen.

Wie dem MfS bekannt wurde, hat die Mutter des [Name 1] darüber hinaus selbst in der BRD umfangreiche Aktivitäten entwickelt, um seine Übersiedlung zu erreichen. So teilte sie ihm mit, dass sie zu diesem Zweck bereits Stellen in Bonn und Westberlin eingeschaltet und Verbindung zur »Bild«-Zeitung aufgenommen habe. Des Weiteren beabsichtigt sie, vor der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn eine Demonstrativhandlung durchzuführen und mit dem ZDF sowie Löwenthal2 in Verbindung zu treten.

Die Ehefrau des [Name 1], die es 1975 noch ablehnte, in die BRD überzusiedeln, hat in der Folgezeit unter dem Einfluss ihres Ehemannes und ihrer Schwiegermutter ihre Haltung grundlegend geändert. So betätigte sie sich persönlich an der Abfassung der späteren Übersiedlungsersuchen und brachte bei Aussprachen zum Ausdruck, dass der Entschluss ihres Ehemannes ihre volle Zustimmung finde und sie gemeinsam mit ihm alles unternehmen werde, um in die BRD ausreisen zu können.

Zum Persönlichkeitsbild der [Name 1 (Ehepaar)] ist festzustellen:

[Name 1 (Ehemann)] besuchte in Köln acht Jahre die Volksschule und zwei Jahre eine allgemeine Berufsschule. Nach Beendigung seiner Schulzeit war er von 1956 bis 1961 in verschiedenen Arbeitsstellen als Arbeiter, Stanzer, Einrichter und Gießer tätig. Am 8.1.1961 übersiedelte er in die DDR. Aufgrund negativer Verhaltensweisen und Nichtaufnahme der ihm zugewiesenen Arbeit wurde er nach wenigen Wochen in die BRD zurückgewiesen. Am 15.6.1961 kam er erneut in die DDR und wurde nach [Ort], Kreis Osterburg, eingewiesen, wo er in der dortigen LPG eine Arbeit aufnahm. Bereits nach kurzer Zeit zeigte sich bei ihm eine mangelnde Einstellung zur Arbeit, gekennzeichnet durch ungenügende Arbeitsleistungen, Arbeitsbummelei und übermäßigen Alkoholgenuss. Seit seinem Aufenthalt in der DDR hatte [Name 1] mehr als zehn verschiedene Arbeitstellen als Arbeiter in der Landwirtschaft, Industrie, im Bau- und Dienstleistungswesen inne. Übereinstimmend kommt in allen Beurteilungen über seine Person zum Ausdruck, dass die Arbeitsleistungen stets unzureichend waren.

Die Ehefrau des [Name 1], [Name 1, Vorname 2] (30), erlernte nach Abschluss der 10. Klasse den Beruf einer Verkäuferin und war bis 1966 bei der HO in Osterburg als Fachverkäuferin tätig. Nach der Geburt ihres ersten Kindes unterbrach sie ihre berufliche Tätigkeit und nahm im Jahre 1973 eine Arbeit als Raumpflegerin in einem Kindergarten in Osterburg auf, wo sie gegenwärtig noch tätig ist. Es wird eingeschätzt, dass die [Name 1] eine gute Einstellung zur Arbeit hat und die ihr übertragenen Aufgaben zur Zufriedenheit löst. Seit 1964 ist sie Mitglied des FDGB. In politischer Hinsicht tritt sie nicht in Erscheinung und betätigt sich auch nicht am politischen Leben. Außer den Verwandten ihres Ehemannes hat sie keine Verwandtschaft in der BRD.

Die Ehe der [Name 1] besteht seit 1965, aus ihr gingen vier Kinder im Alter von 11, 10, 9 und 7 Jahren hervor.

In der BRD leben außer der Mutter noch drei Brüder und ein Onkel des [Name 1]. In den Jahren 1973, 1975 und 1976 hielt sich seine Mutter besuchsweise in der DDR auf.

Im Ergebnis der geführten Untersuchungen wird in Abstimmung mit den zuständigen staatlichen Organen des Bezirkes Magdeburg und in Übereinstimmung mit der Bezirks- und Kreisleitung der SED vorgeschlagen, gegen [Name 1] keine strafrechtlichen Maßnahmen einzuleiten und einer Übersiedlung zuzustimmen. Es könnte so vorgegangen werden, dem [Name 1] mitzuteilen, dass seitens der zuständigen Organe der DDR vorgesehen war, dem Übersiedlungsersuchen zuzustimmen. In Abhängigkeit vom erfahrungsgemäß längere Zeit dauernden Heilungsprozess und unter der Voraussetzung, dass er sich in der Folgezeit jeglicher rechtswidriger Aktivitäten gegen die DDR enthält, könnte zu einem späteren Zeitpunkt nach Abwicklung aller Formalitäten die Übersiedlung erfolgen.

Wenn diesem Vorgehen zugestimmt wird, könnte eine Aufnahme in die der Abteilung Sicherheit beim ZK der SED zur Bestätigung vorzulegende Liste im III. Quartal 1977 in Erwägung gezogen werden.

  1. Zum nächsten Dokument Asylersuchen eines Westberliners

    28. April 1977
    Information Nr. 277/77 über ein Asylersuchen durch einen ständigen Einwohner von Berlin (West) am 25.4.1977

  2. Zum vorherigen Dokument Suizidversuch einer Familie wegen Ablehnung des Ausreiseantrags

    27. April 1977
    Information Nr. 275/77 über den Versuch einer Selbsttötung des [Name, Vorname 1] und seiner Familie in Plauen, Bezirk Karl-Marx-Stadt, am 24.4.1977