Äußerungen aus der StäV zur Reaktion der DDR auf Regierungserklärung Kohls
18. Oktober 1982
Information Nr. 533/86 über Äußerungen aus der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR zu ersten Reaktionen der DDR auf die Regierungserklärung von Bundeskanzler Kohl
In der vorliegenden Information werden interne Äußerungen des Leiters der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, Bräutigam,1 zur Bewertung des »ND«-Artikels vom 14. Oktober 1982 »Schwerer Start«2 sowie zu den Ausführungen Erich Honeckers3 gegenüber ADN in Nikosia (vergleiche »ND« vom 15.10.1982)4 wiedergegeben. Darüber hinaus wird über Meinungsverschiedenheiten leitender Mitarbeiter der BRD-Vertretung bei der Erarbeitung einer ersten Stellungnahme zum Inhalt des oben genannten Artikels für die Regierung der BRD berichtet. Ferner enthält die Information Angaben zum Besuch von BRD-Minister Barzel5 in der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR am 12. Oktober 1982.
In einer internen Stellungnahme Bräutigams wird der »ND«-Artikel »Schwerer Start« als eine erste Reaktion der DDR-Führung auf die Regierungserklärung von Bundeskanzler Kohl6 gewertet.7 Die Tatsache, dass die DDR auf die in der Regierungserklärung von Kohl umfassend dargestellten deutschlandpolitischen Grundpositionen der BRD mit einer Bekräftigung ihrer eigenen Grundpositionen geantwortet hat, überrasche ihn nicht und sei ein normaler Vorgang. Aus seiner Sicht habe die DDR mit diesem Artikel noch keine Schlussfolgerungen für ihr künftiges Vorgehen gezogen, jedoch starke Zweifel und Warnungen zum Ausdruck bringen wollen. Die DDR wolle offensichtlich abwarten, welche Taten den Worten Kohls folgen werden und ob mit einer Abkühlung in den Beziehungen BRD – DDR oder mit einer Gefährdung des bisher Erreichten gerechnet werden müsse. Bräutigam habe die Frage einer eventuellen Abkühlung in den Beziehungen offengelassen und mit der Behauptung verbunden, dass diese dann vonseiten der DDR kommen würde.
Der »ND«-Artikel habe den Aussagen von Kohl zur beabsichtigten Raketenstationierung8 in der BRD breiten Raum gewidmet, woraus er – Bräutigam – den Schluss ziehe, dass dieser Frage durch die DDR bei der weiteren Gestaltung der Beziehungen BRD – DDR eine zentrale Bedeutung beigemessen werde. Für die DDR besitze, wie der Artikel zeige, die Respektierung der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit jedes der beiden deutschen Staaten auch künftig einen herausragenden Stellenwert. Besonders hier seien große Zweifel der DDR gegenüber der neuen Regierung in Bonn spürbar. Die DDR habe die Respektierung ihrer Integrität und Souveränität zur Voraussetzung für ihre Bereitschaft zu konstruktivem Verhalten erklärt.
Die durchaus echten Befürchtungen der DDR hinsichtlich einer neuen Welle des Nationalismus in der BRD sollten nach Ansicht von Bräutigam nicht überbewertet werden, da es sich bei den entsprechenden Passagen des »ND«-Artikels um eine »völlig abwegige Polemik« handele. In diesem Kontext habe Bräutigam der DDR unterstellt, sie wolle der BRD-Regierung »großdeutsche Ambitionen« unterschieben.
Bezug nehmend auf die im »ND«-Artikel angesprochenen Grundpositionen der DDR habe Bräutigam hervorgehoben, dass die DDR erneut in der Frage der »menschlichen Erleichterungen« einen Zusammenhang mit den Geraer Forderungen9 Erich Honeckers hergestellt habe. Nach seiner Ansicht würde die DDR immer dann zu einem solchen Schritt greifen, wenn sie sich nicht bewegen wolle. Als beunruhigend sei von Bräutigam die plötzliche Herstellung eines Zusammenhanges zwischen dem Jugendaustausch und der Frage der Staatsbürgerschaft10 bezeichnet worden. Es ergebe sich die Frage, ob die DDR beim Problem Jugendaustausch eine Verabredung wieder aufkündigen wolle, in dem Zweifel bekundet wurden, ob diese Angelegenheit noch eine politische Grundlage habe.
Unter Hinweis auf das im Koalitionspapier von CDU/CSU und FDP verankerte Prinzip von Leistung und Gegenleistung in den Beziehungen BRD – DDR sei von Bräutigam hervorgehoben worden, dass die DDR hier keine Probleme sehe. Berechtigt werde von der DDR festgestellt, dass dieses Prinzip schon immer so gehandhabt worden sei. Nach Ansicht von Bräutigam komme es jedoch künftig darauf an, jeweils in der konkreten Situation zu bestimmen, worin Leistung und Gegenleistung bestehen sollen.
Die Ausführungen Erich Honeckers gegenüber ADN in Nikosia seien von Bräutigam als Anzeichen dafür gewertet worden, dass noch eine umfassendere Stellungnahme der DDR-Führung erwartet werden könne, möglicherweise vom Politbüro des ZK der SED. Bräutigam habe besonders auf die Feststellung Erich Honeckers über die Existenz zweier souveräner, voneinander unabhängiger Staaten auf deutschem Boden verwiesen und betont, dass diese Problematik eine der Kernfragen darstellt, um die es bei den Auseinandersetzungen zwischen der BRD und der DDR gehen werde. Bräutigam habe herausgestellt, dass in der Regierungserklärung von Kohl von »den deutschen Staaten« gesprochen wird.
Ferner habe Bräutigam auf die Aussage Erich Honeckers aufmerksam gemacht, wonach zu hoffen sei, dass die BRD-Regierung von der Realität der Existenz zweier souveräner deutscher Staaten ausgehen und dies »mit der Zeit« zur Grundlage ihres Handelns machen werde. Die DDR – so Bräutigam – gehe mit Recht davon aus, dass sich das wieder einspielen werde. Der Hinweis Erich Honeckers mit den Worten »mit der Zeit« sei ganz besonders wichtig, da es sich hierbei um Warnungen und nicht um Drohungen handele.
Bei der Erarbeitung einer ersten Stellungnahme zum »ND«-Artikel für das Bundeskanzleramt traten bei den damit beauftragten Mitarbeitern der Ständigen Vertretung Meinungsverschiedenheiten darüber auf, ob dieser Artikel eine künftig härtere Gangart der DDR gegenüber der BRD signalisiere. Der Entwurf der Stellungnahme ging davon aus, dass die rasche und ausführliche Reaktion der DDR-Führung keine grundsätzlich neuen Akzente gesetzt habe. Der Artikel sei nicht als Ausdruck einer Verstimmung der DDR, sondern als eine folgerichtige Reaktion aus der Interessenlage der DDR heraus zu bewerten und daher für die neue Bundesregierung akzeptabel. Er zeuge von der Bedeutung, die die DDR den Beziehungen zur BRD beimesse und verdeutliche, dass die DDR ihre Linie des skeptischen Abwertens fortsetze und sich weiterhin alle Möglichkeiten offenhalte. Die DDR habe damit vor allem bezweckt, ihre eigenen Grundauffassungen den von Kohl in der Regierungserklärung dargelegten deutschlandpolitischen Positionen entgegenzusetzen. Einige leitende Mitarbeiter der Vertretung setzten jedoch bei der Endfassung eine härtere Bewertung durch, die von einer »schärferen Gangart« der DDR-Führung und der Absicht einer Drohung gegenüber der Bundesregierung ausgeht.
Von leitenden Mitarbeitern der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR wird der Besuch Barzels vom 12.10.1982 als eine reine Antrittsvisite ohne jegliche Substanz gewertet. Barzel habe sich gegenüber Bräutigam für dessen Verbleib in der Funktion des Leiters der BRD-Vertretung ausgesprochen. Mit seinem Besuch habe Barzel aus Sicht der Vertretung seine Absicht klarstellen wollen, sich in der Deutschlandpolitik der BRD – auch gegenüber Kohl – als Nummer Eins in der BRD-Regierung durchzusetzen. Zugleich habe er signalisieren wollen, dass die DDR mit einer wesentlich aktiveren Einflussnahme seines Ministeriums auf die künftige Gestaltung der Beziehungen BRD – DDR rechnen müsse. Sein Besuch sei auch als ein gewisses Signal an die CSU zu werten, deren härterer Gangart Barzel nicht vorbehaltlos folgen wolle. Barzel habe sich dazu geäußert, wie die beiden deutschen Staaten politisch einzuordnen seien. Es sei nicht von der Existenz von zwei deutschen Staaten, sondern von »zwei deutschen Staaten in Deutschland« auszugehen. Diese Formel wolle Barzel als Grundorientierung für künftiges Handeln verstanden wissen.11
Ferner wurde bekannt, dass Barzel die Absicht hege, möglichst bald die Kunstausstellung der DDR in Dresden zu besuchen.12 Die Ständige Vertretung der BRD in der DDR sei beauftragt worden, die entsprechenden Vorbereitungen zu treffen.
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