Feindlich-negative Kräfte Jena
21. März 1983
Information Nr. 101/83 über Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte in Jena am 18. März 1983
Vorliegenden Hinweisen zufolge traten dem MfS hinlänglich bekannte Personen einer feindlich-negativen Gruppierung in Jena am 18. März 1983 während der aus Anlass des 38. Jahrestages der Bombardierung Jenas durch anglo-amerikanische Terrorbomber durchgeführten Friedensdemonstration provokatorisch und öffentlichkeitswirksam in Erscheinung. (An dieser Veranstaltung nahmen ca. 15 000 Werktätige, vorwiegend Arbeiter aus Jenaer Betrieben, teil.)1
Der gleiche feindlich-negative Personenkreis versuchte anschließend während einer kirchlichen Veranstaltung in der Friedenskirche Jena vor ca. 300 Teilnehmern gegen die Friedens-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der DDR gerichtete feindlich-negative Forderungen öffentlichkeitswirksam zu verbreiten.2
Im Einzelnen wurde dazu bekannt:
Unmittelbar nach Beginn der Veranstaltung aus Anlass des 38. Jahrestages der Bombardierung Jenas näherten sich gegen 15.30 Uhr ca. 30 Personen dem Marktplatz Jenas (dem Veranstaltungsort).
Sie trugen selbstgefertigte Spruchbänder und Plakate in der Größe von 80 × 80 cm bis 1 × 4 m pazifistischen Inhalts. Es handelte sich dabei um zwölf »Losungen«, wie:
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Frieden schaffen ohne Waffen!
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Verzicht auf Gewalt!
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Entrüstet Euch!
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Frieden für alle!
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Weg mit dem Kriegsspielzeug!
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Militarisierung raus aus unserem Leben!
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Wir wollen sozialen Friedensdienst!3
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Schwerter zu Pflugscharen!4
(mitgeführt als »Losung« und als Symbol)
Bei den ca. 30 Personen handelt es sich u. a. um jene 14 [sic!] Personen, die aufgrund begangener Straftaten inhaftiert und in den letzten Wochen aus der Haft entlassen worden waren5 – darunter Rub, Frank6 mit Ehefrau,7 Rost, Michael,8 Jahn, Roland9 – und um deren unmittelbaren Anhang bzw. um Sympathisanten, die gleichzeitig mit dem dem MfS bekannten feindlich-negativen Kern der »Jungen Gemeinde« Jena in Verbindung stehen, wie Hinkeldey, Ute.10
Durch diese Personen wurde versucht, rücksichtslos in Richtung Tribüne vorzudringen. Durch spontanes Eingreifen umstehender Kundgebungsteilnehmer, die sich von dem provokatorischen und aggressiven Auftreten dieser Personen distanzierten, wurden diese aufgehalten, wobei durch Teilnehmer der Kundgebung die Spruchbänder und Plakate zerrissen wurden. Die Provokateure wurden isoliert und abgedrängt, sodass sie die von ihnen angestrebte größere Öffentlichkeitswirkung nicht erreichten und vorzeitig die Veranstaltung auf dem Marktplatz Jena verließen.
Auf einige Personen dieser feindlich-negativen Gruppierung, die versuchten, während der Kundgebung auf dem Marktplatz Jena mit Kundgebungsteilnehmern Diskussionen zu führen, wirkte der sich unter den Kundgebungsteilnehmern befindliche Superintendent Siebert,11 Jena, beschwichtigend ein. Er forderte sie zum Verlassen des Marktplatzes auf.12
Vorliegenden Hinweisen zufolge begaben sich ca. 20 Personen der auf dem Marktplatz in Erscheinung getretenen Provokateure anschließend in die Friedenskirche Jena, wo sie gegen 16.45 Uhr eintrafen und über den Verlauf ihrer »Aktion« diskutierten. (Zu diesem Zeitpunkt war die Kirche in Vorbereitung der planmäßigen kirchlichen Veranstaltung am 18.3.1983, 19.00 Uhr, zum Thema: »Fragen nach dem unverwechselbaren, selbstständigen Friedenszeugnis der Kirche« bereits zugänglich.)
Internen Hinweisen zufolge unterrichtete Superintendent Siebert unmittelbar nach dem Auftreten der Provokateure auf dem Markt Jena den Bischof der Landeskirche Thüringen, Leich,13 und zwei weitere Pfarrer in Jena von dem Geschehen, wobei er jedoch – entgegen den Tatsachen – behauptete, die Auseinandersetzungen seien durch Mitarbeiter der Sicherheitsorgane in Zivil provoziert worden.
Bischof Leich habe darauf erwidert, zu diesem Vorkommnis seien Fragen in der kirchlichen Veranstaltung am 18.3.1983, 19.00 Uhr, zu erwarten, denen er sich stellen wolle.
Im Zusammenhang mit der kirchlichen Veranstaltung am 18.3.1983, 19.00 Uhr, in der Friedenskirche Jena muss folgender Sachverhalt hervorgehoben werden:
Streng vertraulich wurde dem MfS bekannt, dass der Personenkreis der ehemaligen Inhaftierten aus Jena Mitte März 1983 einen sogenannten offenen Brief14 an Landesbischof Leich mit dem provokatorischen Ziel richtete, diesen in der kirchlichen Veranstaltung am 18.3.1983 bekanntzugeben bzw. zu dessen Inhalt Stellung zu nehmen.
Dieser »offene Brief«, der von 25 Personen, vorwiegend ehemals Inhaftierten aus Jena, unterzeichnet ist, enthält nach bisherigen streng vertraulichen Hinweisen u. a. folgende Aussagen:
Verwiesen wird auf ein Gespräch von Unterzeichnern dieses Briefes am 1.3.198315 mit Landesbischof Leich und auf ein früheres Schreiben16 an ihn (3.2.1983), in denen jeweils nach Wegen und Möglichkeiten gesucht worden sei, der Verantwortung im Engagement für ein Leben in Gerechtigkeit, in Frieden und Verständigung nachzukommen. Betont wird, bestehende Unklarheiten würden die Unterzeichner veranlassen, das Gespräch weiterzuführen, wobei insbesondere solche Komplexe hervorgehoben werden, wie:
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Es seien nicht alle Inhaftierten oder deren Angehörige Christen, aber auch ihnen müsste die Kirche im Sinne von Gerechtigkeit Raum geben.
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Es solle nicht nur gegen Ungerechtigkeit, drohende Kriegsgefahr, Militarismus, militante Erziehung und Dialogunfähigkeit protestiert werden; es müsse die Möglichkeit bestehen, sich offen für die Lebensanschauung zu bekennen.
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Die Solidarität untereinander, das Auftreten des Einzelnen, stellvertretend für andere, müsse deutlicher werden.
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Aber als »Solidargemeinschaft« fühlten sie sich alleingelassen, ohne institutionellen Träger; sie würden nicht nur bei staatlichen, sondern auch bei kirchlichen Stellen auf Unverständnis stoßen. Das seien Ursachen für Resignation und Anpassungsverhalten vieler junger Menschen.
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Notwendig sei die Erweiterung von Wirkungsfeldern für den konkreten Einsatz für die Erhaltung des Friedens. Der Rahmen der Möglichkeiten werde jedoch durch kirchliche, staatliche und gesellschaftliche Einengung zu klein gehalten. Deshalb verstünden sie sich nicht als Gesetzesbrecher, wenn im Einsatz für den Frieden gesetzliche Grundlagen nicht beachtet würden.
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Die Kirche müsse deshalb entschieden auf Probleme hingewiesen werden, die nochmals gründlich durchdacht werden sollten, wie
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ständig müsste eine größere Anzahl von Personen die DDR verlassen,
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auch Nichtchristen müsse Hilfe gegeben werden,
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die Kirche müsse sich einschalten, wenn Forderungen von Personen nach Abrüstung, Pazifismus und Frieden als kriminelle Handlungen geahndet würden,
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die Kirche solle nach eigenständigen Wegen für die Erhaltung des Friedens suchen und ihr Friedensengagement erweitern.
Zum Verlauf der kirchlichen Veranstaltung am 18.3.1983, 19.00 Uhr, in der Friedenskirche Jena ist insbesondere Folgendes von Bedeutung:
An der Veranstaltung, die von Superintendent Siebert geleitet wurde und auf der Landesbischof Leich mehrfach das Wort ergriff, nahmen ca. 300 Personen aus Jena und anderen Kreisen der Bezirke Gera und Erfurt teil, wobei sich unter den Teilnehmern ca. 40 dem MfS als feindlich-negativ bekannte Personen befanden.
Superintendent Siebert, der die Veranstaltung eröffnete, erklärte eingangs, es sei vorgesehen, über die die Anwesenden bewegenden Probleme, vor allem die des gewaltfreien Lösens anstehender Konflikte, zu sprechen.
Danach hielt Landesbischof Leich einen ca. einstündigen Vortrag, in dem er u. a. die Position der Kirche zum Friedensengagement thesenhaft darstellte. Dabei stellte er grundsätzlich heraus:
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Es gibt eine eigenständige kirchliche Friedensbewegung, die in der Ökumene eingebunden ist. Sie richtet sich aber nicht gegen den Staat.
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Das persönliche Engagement des Einzelnen ist mit seiner ganzen Persönlichkeit dabei notwendig.
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Es geht nicht darum, eine Ideologie oder Propaganda (Plakate und andere Proteste) vorzutragen; das Engagement für den Frieden im Rahmen der kirchlichen Friedensbewegung hat mit kirchlich-eigenen Mitteln zu erfolgen. (Aus dem Kontext war die Abgrenzung zu den negativen Ereignissen am Nachmittag eindeutig erkennbar.)
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Die Kirche ist bereit, jeden aufzunehmen, ihm Ohr und Stimme zu leihen. Dabei kann sich aber die Kirche nicht ihre eigene Integrität nehmen bzw. einvernehmen lassen.
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Die Kirche billigt jedem die Freiheit zu, seinen Wohnsitz zu nehmen, wo er will. Die Kirche ist aber der Meinung, dass Probleme der Kirche und des Friedens nicht in den Westmedien behandelt werden können, d. h. die Leute, die einmal drüben sind, sollten sich nicht mehr dazu äußern.
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Die Kirche kann nicht Deckmantel sein.
Den Anwesenden wurde anschließend die Möglichkeit eingeräumt, schriftlich Fragen zu stellen. Bei der Beantwortung wurden die Namen der Fragesteller nicht genannt.
Hervorzuheben sind u. a. folgende Dialoge, wobei die Antworten jeweils von Landesbischof Leich erteilt wurden:
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Forderung, die am Nachmittag von den Provokateuren getragenen »Losungen« in der Friedenskirche Jena anzubringen mit dem Ziel, weitere Zustimmungen zu erreichen.
Von Landesbischof Leich wurde diese Forderung mit der Begründung, die Kirche sei nicht für Reklamezwecke bereit, abgelehnt.
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Auftreten von Rub, Frank, während dieser Diskussion mit der formulierten Absicht, ein vorbereitetes Schreibmaschinenmanuskript – einen Brief an den Staatsratsvorsitzenden, Genossen Erich Honecker – zu verlesen. Durch Landesbischof Leich wurde Rub das Wort entzogen mit der Zurechtweisung, er könne nicht machen, was er wolle. Rub fiel dem Landesbischof ins Wort und erklärte, es handele sich bei dem Brief um eine »Beschwerde« wegen der Ereignisse am Nachmittag. Er habe nun die Absicht, diesen Brief am Ende der Veranstaltung zu verlesen und forderte die Anwesenden auf, den Brief zu unterschreiben. Dies wurde nochmals vom Bischof untersagt mit dem Hinweis auf einen Verstoß gegen das Hausrecht.
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Aufzeigen der »Bedenklichkeit«, inwieweit die Kirche sich einschalten könne in den »Zwang«, wonach Bürger die DDR verlassen »müssen«.
Landesbischof Leich antwortete, jeder könne an dem Ort wirken, wo er lebt.
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Möglichkeiten der Wehrdienstverweigerung
Landesbischof Leich nannte drei Möglichkeiten für akzeptabel: den Wehrdienst zu leisten, als Bausoldat17 zu dienen oder den Wehrdienst zu verweigern.
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Forderung nach »Sozialem Friedensdienst«
Landesbischof Leich hob die Erklärung des Staatssekretariats für Kirchenfragen18 hervor, wonach eine solche Möglichkeit vom Staat nicht eingeräumt werde und betonte, damit müsse man sich abfinden.
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Die Frage, ob sich die Kirche für Personen, die wegen ihres Friedensengagements »leiden«, einsetzen müsse, beantwortete Landesbischof Leich mit »ja« und betonte, dies könne nur mit kircheneigenen Mitteln erfolgen.
Generell enthielten die Antworten von Landesbischof Leich die Grundaussagen:
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Die Kirche muss mit dem Staat im Gespräch bleiben.
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Das Vertrauen in den Staat ist notwendig.
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Auch im Staatsapparat arbeiten »nur« Menschen, die nicht fehlerfrei sind; also muss man mit Problemen rechnen.
Schlussbemerkungen von Superintendent Siebert beinhalteten die grundsätzlichen Aussagen:
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»Vorerst« keine »Aktionen« starten.
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Nichts unterschreiben, was man nicht genau kennt und diskutiert hat.
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Vorschlag den »Brief« des Rub an Genossen Honecker19 zunächst in den Gemeinden zu diskutieren, bevor er unterschrieben werde.
Die kirchliche Veranstaltung wurde mit Gebet und Gesang beendet, sodass Rub keine Gelegenheit zum Verlesen des genannten Briefes hatte.
Rub gelang es jedoch, den »Brief« nach Verlassen der Kirche noch auf dem Kirchengelände vor ca. 40 Personen laut zu verlesen. Rub führte dabei entgegen den Tatsachen an, während der Veranstaltung auf dem Markt in Jena wären den Christen mitgeführte Transparente »mit Gewalt entrissen« worden; dabei sei ein Kind zu Boden gestoßen worden und die Christen seien gezwungen gewesen, mit dem Ruf »Rettet die Kinder« die Veranstaltung zu verlassen.
Der Aufforderung zur Unterschriftsleistung kamen nur wenige Personen nach, während dem sich einige andere darauf angesprochene Personen distanzierten.
Mehrere der bekannten feindlich-negativen Gruppierung in Jena zugehörende Personen – unter ihnen Rost, Jahn, Hinkeldey, Grund,20 Zigan,21 Falkenberg22 u. a. – beteiligten sich auch an der am 19.3.1983, 14.30 Uhr, durchgeführten Kranzniederlegung vor der Gedenktafel für Opfer des anglo-amerikanischen Bombenterrors auf dem Marktplatz in Jena. Sie hatten sich diszipliniert eingeordnet und legten um 14.30 Uhr ein Blumengebinde mit der Schleifenaufschrift »Friedensgemeinschaft Jena« nieder, wobei sie kurzzeitig schweigend verharrten.
Das Ablegen des Blumengebindes wurde von Superintendent Siebert, seiner Ehefrau und seinem Sohn beobachtet.