Äußerungen des SPD-Politikers Dietrich Stobbe
12. Februar 1988
Information Nr. 77/88 über Äußerungen des Mitgliedes des Vorstandes der SPD-Bundestagsfraktion, Dietrich Stobbe, gegenüber Bürgern der DDR zur Situation in sozialistischen Staaten
Anlässlich des Aufenthaltes von Stobbe am 27. Januar 1988 in Wittenberg (Lutherhaus) kam es auf Initiative des wegen seiner feindlich-negativen Grundeinstellung hinlänglich bekannten Pfarrers Schorlemmer zu einem Gespräch Stobbes mit Schorlemmer und weiteren 16 Personen aus seinem Umfeld in Wittenberg und näherer Umgebung. Zu den Teilnehmern gehörte auch der Abteilungsleiter beim Senator für kulturelle Angelegenheiten in Westberlin, Winfried Staar.
Nach dem MfS vorliegenden internen Informationen äußerte Stobbe, dass der in der Sowjetunion eingeleitete Wandel aus rein ökonomischen Gründen notwendig geworden sei. Gorbatschow habe klar erkannt, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse zur Stagnation, zu einer schlechten wirtschaftlichen Situation geführt haben. Nach Darstellung Stobbes habe Gorbatschow in einer Rede erklärt, dass die Sowjetunion mit der bisherigen Politik wahrscheinlich das Jahr 2000 nicht erlebt hätte. Die Sowjetunion könne ihre Weltmachtposition nur erhalten, wenn durch Demokratisierung die Produktivität steige. Gorbatschow sei auch klar, dass sich durch die eingeleiteten Programme noch keine Trendwende vollziehen werde und dass zunächst auch ein Produktionsabfall einkalkuliert werden müsse, aber auf jeden Fall gehe dieser Kurs in die richtige Richtung.
Mehrmals erklärte Stobbe in diesem Zusammenhang, dass aus politischen und ökonomischen Gründen in der DDR – ähnlich wie in der Sowjetunion – ein Entwicklungssprung in gesellschaftlicher Hinsicht notwendig sei, dass auch in der DDR ein solcher Kurs eingeschlagen werden sollte. Er schätzte die ökonomische Lage der DDR als sehr schlecht und kritisch ein und vertrat die Auffassung, dass Veränderungen auf wirtschaftlichem Gebiet nicht allein durch bestimmte ökonomische Maßnahmen erreichbar seien, sondern dass dazu eine umfassende gesellschaftliche Veränderung notwendig sei. Er äußerte in diesem Zusammenhang, dass nur der mündige Bürger zu kreativen Leistungen in der Wirtschaft fähig sei.
Stobbe sprach sich für die wirtschaftliche Unterstützung der DDR durch den Westen aus, da – wie er äußerte – Staaten, die nichts mehr hätten, besonders aggressiv würden. Andererseits beziehe sich diese Hilfe nur auf bestimmte Projekte, und es sei ihm auch klar, dass die DDR durch diese Hilfe bestimmte Probleme verdecken könne. Wirtschaftspolitiker der BRD würden in Gesprächen bei Messen und anderen Gelegenheiten die Vertreter der DDR offen auf die prekäre Wirtschaftssituation in der DDR hinweisen; der Staatsführung sei diese Situation durchaus bekannt.
DDR-Politiker würden differenzierte Meinungen zur wirtschaftlichen und politischen Situation vertreten. Manche würden das, was sie dazu sagen, selbst nicht glauben bzw. hätten andere Auffassungen als die, die sie zum Ausdruck bringen würden.
Zur Situation in anderen sozialistischen Ländern äußerte sich Stobbe wie folgt:
In allen sozialistischen Ländern gebe es mehr oder weniger große Reformbestrebungen. Dabei nehme gegenwärtig Polen eine sehr progressive Haltung ein. Auch in Bulgarien würden richtige Schritte eingeleitet. In der ČSSR sei ebenfalls erkannt worden, dass nur durch entsprechende Reformen die miese Wirtschaftssituation verändert werden könne; Ministerpräsident Strougal habe gesagt, dass Reformen versäumt worden seien. Rumänien bezeichnete er als ein völlig abgewirtschaftetes Land. Hier werde die BRD keine Wirtschaftshilfe mehr leisten, höchstens noch humanitäre Hilfe. Rumänien sei völlig am Ende und lasse die Bürger hungern. Ceausescu sei eigentlich nur mit den römischen Kaisern vergleichbar.
Zum Dokument »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«1 machte Stobbe folgende Ausführungen:
Es handele sich dabei nicht um ein Papier der SED und der SPD, sondern der Grundwertekommission der SPD und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Damit sei es auch kein offizielles SPD-Papier. Da es nicht von der Partei bestätigt sei, handele es sich lediglich um eine Arbeitsgrundlage. Bei SPD-Mitgliedern habe es Vorbehalte gegeben, speziell bei der SPD angehörenden ehemaligen DDR-Bürgern, die in diesem Papier eine Aufwertung der SED bzw. der DDR sehen würden. Er selbst sei wie der Parteivorstand der Auffassung, dass dieses Dokument von größter Bedeutung sei. Es sehe eigentlich vor, dass ein breiter politischer Dialog, nicht nur ein Dialog auf höchster politischer Ebene, stattfinde. Dieser werde jedoch bisher seitens der DDR völlig verweigert. DDR-Politiker hätten hingegen bei Reisen in der BRD auf allen möglichen Veranstaltungen frei ihre Positionen vertreten können.
SPD-Abgeordnete seien von der DDR an der Grenze zurückgewiesen worden (u. a. Weisskirchen). Solche Nadelstiche könnten nicht hingenommen werden. Stobbe erklärte, er selbst würde gern einmal in Wittenberg vor Werktätigen auftreten wollen (nicht nur vor Genossen), um seinen Standpunkt darzulegen. Solche Möglichkeiten vermisse er völlig. Dies wäre ein Prozess, und anscheinend hätten gegenwärtig die »Betonköpfe« im Politbüro des ZK der SED die Mehrheit.
Wer einen Dialog führe, müsse auch verlieren können. Die Politiker in der DDR könnten das aber nicht, weil in der Vergangenheit immer gepredigt worden sei, dass die marxistisch-leninistische Theorie Antwort auf alle Fragen gebe und Richtschnur für jedes Handeln sei. Dieser Absolutitätsanspruch sei aber gescheitert. Mit Vorstellungen aus früheren Jahren, z. T. aus dem vorigen Jahrhundert (Marx), seien heute die anstehenden Probleme nicht zu lösen. Es müssten neue Wege beschritten werden, wie dies auch in dem Dokument zum Ausdruck gebracht werde. Es gehe u. a. darum, keinen Anspruch auf absolute Wahrheiten zu erheben, und es gehe um die Lernfähigkeit beider Seiten, also auch darum, aus den Fehlern der anderen zu lernen.
Stobbe äußerte weiter, dass es zu offeneren Gesprächen auf den unteren Ebenen von SPD und SED kommen und dass eine Öffnung erst dann möglich sein werde, wenn sich der Staat in der DDR auf die Loyalität seiner Bürger verlassen könne. Dies könne er aber nicht, da das Volk nicht hinter der Regierung stehe.
Unter Hinweis auf den KSZE-Prozess erklärte Stobbe, die DDR versuche, bestimmte, durch den Druck aus dem Westen erwirkte Lockerungen im Innern durch erneute Einschränkungen wie durch Verpflichtungen in Betrieben zum Verzicht auf Kontakte zu BRD-Bürgern wieder zu paralysieren.
Die staatlichen Maßnahmen am 17. Januar 1988 und danach bezeichnete er als im Widerspruch zum Dokument stehend und als einen Rückschlag. Die SPD sei sich natürlich auch klar darüber, dass es Fehlschläge geben könne. Es habe von vornherein keine Illusionen gegeben.
Stobbe befürwortete die Herstellung von Städtepartnerschaften. Er bestätigte im Gespräch geäußerte Bedenken, dass durch solche Partnerschaften die DDR aufgewertet werde und die DDR-Bürger davon keine Vorteile hätten, was Reisen in die Partnerstädte betreffe. Auch Lafontaine (Ministerpräsident des Saarlandes) habe festgestellt, dass nicht die von ihm gewünschten DDR-Bürger reisen dürften, aber er habe auch darauf hingewiesen, dass die Anwesenheit jedes Genossen, der sich in der BRD umsehe, bereits ein Gewinn wäre, weil er sicherlich nachdenklich in die DDR zurückreise. Auch die Unterbringung von DDR-Delegationen bei Familien – nicht geschlossen in Hotels – sei ein Erfolg.
Stobbe äußerte abschließend, er könne aufgrund seiner Arbeit nur zweimal jährlich die DDR besuchen. Er wünsche sich solche Gespräche auch auf anderen Ebenen. Es sei für ihn wichtig, auch andere Auffassungen zu hören. Das Ziel der SPD sei nach wie vor, den in Gang gekommenen Prozess unumkehrbar zu machen. Trotz der Ereignisse am 17. Januar 1988 und danach sei er optimistisch. Es sei ein historischer Prozess, der sich über Jahre hinziehen werde. Wie er Erich Honecker kenne und einschätze, sei es auch dessen Wunsch, diesen Prozess nicht zu stoppen, da auch ihm bekannt sei, dass nur Öffnung und Wandlung zu den Zielen führten, die die DDR anstreben müsse, wenn sie nicht völlig den internationalen Anschluss, vor allem auf ökonomischem Gebiet, verlieren wolle.2
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.