Besetzung der westdeutschen Botschaft in Prag
5. Oktober 1989
Information Nr. 441/89 über die Realisierung von Maßnahmen zur Ausweisung der Personen, die sich widerrechtlich in der Botschaft der BRD in Prag aufhielten am 4./5. Oktober 1989
Entsprechend den zentralen Festlegungen wurden im engen Zusammenwirken mit den Sicherheitsorganen der ČSSR am 4./5. Oktober 1989 die komplexen Maßnahmen zur Beendigung des widerrechtlichen Aufenthaltes von Bürgern der DDR in der Botschaft der BRD realisiert.1
Bis zum 5. Oktober 1989, 1.00 Uhr, verließen 8 270 Personen das Gelände der Botschaft der BRD in Prag. In diesem Zusammenhang war festzustellen, dass die ursprünglich insbesondere durch westliche Medien verbreiteten Größenordnungen von bis zu 12 000 Personen nicht zutreffend waren.2
Bei den 8 270 Personen handelt es sich ausschließlich um solche, die sich unmittelbar auf dem Gelände der BRD-Botschaft in Prag befunden hatten.
Nach dem Verlassen des Botschaftsgeländes wurden die Personen mit KOM des MfS unmittelbar zum Bahnhof Prag-Liben transportiert, von wo aus sie mit acht bereitgestellten Sonderzügen der Deutschen Reichsbahn durch die DDR über die Grenzübergangsstelle Gutenfürst nach der BRD abgeschoben wurden.
Die Abreise der acht Sonderzüge ab Prag-Liben erfolgte in der Zeit vom 4. Oktober 1989, 18.24 Uhr, bis 5. Oktober 1989, 1.35 Uhr.
Die acht Sonderzüge wurden durch Mitarbeiter der BRD-Botschaft in Prag bzw. Beamte des Bonner Auswärtigen Amtes, die eigens zu diesem Zweck eingeflogen worden waren, begleitet.
Insgesamt 90 DDR-Bürger (Stand: 5.10.1989, 13.30 Uhr) verblieben zunächst noch in der BRD-Botschaft; sie werden im Ergebnis von Aktivitäten durch den Rechtsanwalt Prof. Dr. Vogel3 auf ihren Wunsch hin am 5. Oktober 1989 in ihre Heimatorte zurückkehren und mit ihren Anliegen bei den zuständigen Organen für Inneres vorsprechen.
Im Zusammenhang mit der Realisierung der komplexen Maßnahmen war durchgängig ein enges kameradschaftliches Zusammenwirken mit den zuständigen staatlichen und den Sicherheitsorganen der ČSSR gewährleistet. In allen Handlungsräumen wurde durch die Sicherheitsorgane der DDR ein hohes Maß öffentlicher Ordnung durchgesetzt.
Entgegen den getroffenen Festlegungen, wonach alle acht Sonderzüge über die Strecke Bad Schandau – Dresden – Reichenbach – Gutenfürst nach der BRD fahren sollten, mussten aufgrund der entstandenen kritischen Situation auf dem Bahnhof Dresden-Hauptbahnhof fünf Sonderzüge kurzfristig auf dem Territorium der ČSSR umgeleitet werden und fuhren über die Strecke Vojtanov – Bad Brambach – Plauen – Gutenfürst nach der BRD.
Für die drei über Bad Schandau geleiteten Sonderzüge wurden dadurch bedingte außerplanmäßige Halte (für den ersten Zug in Bad Schandau in der Zeit von 21.02 bis 1.30 Uhr) erforderlich.
Der letzte Zug verließ am 5. Oktober 1989, 9.56 Uhr, Gutenfürst in Richtung BRD.
Im Zusammenhang mit der Fahrt der Sonderzüge der Deutschen Reichsbahn über das Staatsgebiet der DDR kam es nach den über die westlichen Medien verbreiteten Zeiten der Abfahrt der Sonderzüge der Deutschen Reichsbahn und beabsichtigten Streckenführung auf dem Dresdener Hauptbahnhof sowie dem Vorplatz bis in die Tiefe der Prager Straße nach Ansammlungen von bis zu ca. 20 000 Personen zu tumultartigen Ausschreitungen, die zur Störung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sowie zu erheblichen Sachbeschädigungen an Anlagen und Einrichtungen der Deutschen Reichsbahn führten.
Dazu im Einzelnen:
Am 4. Oktober 1989, gegen 19.15 Uhr, rotteten sich auf dem Gelände des Hauptbahnhofes in Dresden Gruppen von 200 bis 300 Ausreisewilligen aus allen Bezirken der DDR (außer Rostock und Suhl), die mit der Reichsbahn bzw. Pkw angereist waren, zusammen und begannen mit ersten Sprechchören. Unverzüglich durchgeführte Räumungseinsätze der Sicherungskräfte hatten nur kurzfristig Erfolg. Obwohl die Eingänge zum Bahnhof abgesperrt waren und nur Personen mit gültigen Fahrkarten das Gebäude betreten durften, wuchs die Anzahl der Störer zunehmend an.
Gegen 20.00 Uhr waren ca. 2 500 Menschen im Bahnhof, von denen mindestens 1 000 durch Sprechchöre, Pfiffe u. Ä. versuchten, ihre sofortige Ausreise in die BRD zu erzwingen.
Der Einsatz von Lautsprechern, mit vorbereiteten Texten, sich in die Heimatorte zu begeben und ihr Anliegen bei den staatlichen Organen vorzutragen, dem dann stattgegeben würde, blieb weitgehend wirkungslos. Mithilfe zwischenzeitlich zugeführter weiterer Sicherheitskräfte war es möglich, die Bahnsteige zu sichern und das Mittelschiff des Bahnhofes zu räumen. Die nach draußen gedrängten Personen versammelten sich zu beiden Seiten des Bahnhofes und erhielten außergewöhnlich starken Zustrom durch diejenigen, denen bereits vorher das Betreten des Bahnhofes verwehrt worden war.
Zwischen 21.00 Uhr und 22.00 Uhr hielten sich zu beiden Seiten und im nichtgeräumten Teil des Bahnhofes bis zu 20 000 Personen auf. Diese versuchten, gewaltsam die Absperrung zu durchbrechen, zerschlugen die Bahnhofstüren, sodass eine ernste Gefahr einer vollständigen Besetzung des gesamten Bahnhofsgeländes entstand.
Weitere Schäden wurden verursacht durch Demolierung der Intershop-Einrichtung im Bahnhofsgelände, durch das Zerstören von Bahnhofsuhren, Schalteinrichtungen sowie einer Vielzahl von Fensterscheiben und Türen.
Vor dem Haupteingang des Bahnhofes wurde das Kopfsteinpflaster aufgerissen. Die Sicherungskräfte wurden mit großen Steinen und Flaschen beworfen sowie mit Holzstöcken geschlagen. Ein Funkstreifenwagen wurde umgekippt und geriet in Brand. (Insgesamt wurden zusätzlich 1 750 Angehörige der Bereitschaftspolizei, der NVA, der Kampfgruppen4 und des MfS zum Einsatz gebracht.)
Unter Einsatz von Wasserwerfern und von Sonderausrüstung (Schilde, Schlagstöcke, Schutzhelme, Reizkörper) sowie durch Lautsprechereinsatz gelang es, gegen 24.00 Uhr die Beräumung des Bahnhofes abzuschließen sowie in der Folge die sich zu diesem Zeitpunkt vor dem Bahnhof noch befindlichen ca. 10 000 Personen ständig zu verringern und bis gegen 1.00 Uhr des 5. Oktober 1989 auf ca. 2 000 bis 3 000 Personen zu reduzieren. Nach dem Eintreffen weiterer Einsatzkräfte gelang es gegen 3.00 Uhr die bestehende Ansammlung aufzulösen.
Durch die Sicherungskräfte wurden bisher 224 Personen zugeführt. Gegen sie werden in Abhängigkeit von ihnen begangener Rechtsverletzungen differenzierte strafrechtliche Maßnahmen eingeleitet.
Während des Einsatzes wurden 45 VP-Angehörige verletzt, davon einer mittelschwer.
Auf anderen Bahnhöfen der ursprünglich vorgesehenen Fahrstrecke hatten sich Gruppen von bis zu 1 000 Personen (Karl-Marx-Stadt) bzw. von 500 Personen (Plauen, Reichenbach, Freiberg) offenkundig mit dem Ziel zusammengerottet, ihre ständige Ausreise nach der BRD auf rechtswidrige Art und Weise zu realisieren.
Zu weiteren Personenansammlungen (jeweils bis zu 150) kam es in Bereichen von allgemein bekannten Langsamfahrstellen (u. a. Hetzdorfer Brücke, Gleisdreieck Werdau und Göltzschtalbrücke).
Die Auflösung der Zusammenrottungen erfolgte durch Einsatzkräfte der Deutschen Volkspolizei. Insgesamt erfolgten weitere 82 Zuführungen.
Am 4. Oktober 1989, gegen 23.30 Uhr, wurde auf der Moritzburger Landstraße in Dresden ein Pkw brennend festgestellt. Erste Untersuchungen ergaben, dass der Fahrer des Pkw gezwungen worden war, zwei bisher unbekannte männliche Personen mit seinem Pkw von Berlin nach Dresden zu befördern. Als sich der Fahrer auf der Moritzburger Landstraße weigerte weiterzufahren, wurde er mit Benzin angegossen. In der weiteren Folge konnte er sich in Sicherheit bringen. Der Pkw wurde angezündet. Die unbekannten männlichen Personen sind flüchtig. Der Pkw-Fahrer steht unter Schockeinwirkung.
Aufgrund der verursachten erheblichen Schäden an Gebäuden, Anlagen und Einrichtungen der Deutschen Reichsbahn auf dem Dresdner Hauptbahnhof und seiner näheren Umgebung kam es zu Verspätungen im internationalen Reiseverkehr sowie zu einem Rückstau im Güterverkehr.
Unter Einsatz zusätzlicher Kräfte der Deutschen Reichsbahn und mit Unterstützung von Angehörigen der Kampfgruppen und Absolventen der Bezirksparteischule wurden bisher die dringendsten Säuberungs- und Aufräumungsarbeiten realisiert. Der Frühberufsverkehr konnte ohne Verzögerung realisiert werden.
Die an der Realisierung der zentralen Entscheidung beteiligten Kräfte der Schutz- und Sicherheitsorgane sowie der Eisenbahnpersonale der Deutschen Reichsbahn und der ČSSR-Staatsbahn haben die gestellten Aufgaben mit hoher Disziplin und Einsatzbereitschaft sowie einem aufopferungsvollen Verhalten durchgeführt.
Vorliegenden letzten Meldungen zufolge sind mit Stand vom 5. Oktober 1989, 10.00 Uhr, erneut bereits wieder 40 DDR-Bürger in die BRD-Botschaft in Prag eingedrungen und versuchen ihre ständige Ausreise zu erpressen.